Predigt     1. Johannes 1,5-2,6    Jubelkonfirmation 2015     17.05.2015

"Mensch werden"
(von Pfarrer Johannes Taig, Hospitalkirche Hof)

Liebe Jubelkonfirmandinnen, liebe Jubelkonfirmanden, liebe Gemeinde,

was ist nur aus uns geworden?, so fragen wir besonders an bestimmten Tagen. Wenn ein Geburtstag gefeiert wird oder ein Jubiläum. Man erinnert sich, wie das eigene Leben anfing und sich entwickelt hat. Mit 17 hatte man noch Träume. Mit 30 hat man noch das ganze Leben vor sich. Mit 80 hat man es so gut wie hinter sich. In 100 Jahren ist alles vorbei. Kein Wunder, wenn Ehrentage und Jubiläen uns nachdenklich machen. Und offensichtlich brauchen wir sie gerade deshalb. Je länger wir leben, je mehr. Und auch Ihr, liebe Jubilare, seid in diesem Jahr zur Feier der Jubelkonfirmation von der Goldenen aufwärts so zahlreich nach Hospital gekommen, zurück zu den Wurzeln Eurer Kinder- und Jugendzeit.

An solchen Tagen sind wir besonders ansprechbar, ja selbst als Christenmenschen ansprechbar, auch wenn uns der Glauben im Einerlei unseres Alltages vielleicht für lange Zeit aus dem Blickfeld geraten ist. Das scheint in besonderem Maße auch für die Menschen zu gelten, an die Johannes seinen Brief schreibt. Vielleicht hat auch diese Gemeinde gerade ein Jubiläum gefeiert und sich gefragt, was denn aus ihr geworden ist. Und da kann es ja durchaus sein, dass die Antwort auf diese Frage beunruhigend ausfällt. Dass sich all das, was diese Gemeinde einmal stark gemacht hat, der Glaube, die Hoffnung, die Liebe sozusagen fast ganz verflüchtigt hat. Da kam Johannes zur Feier und kannte die Leute nicht mehr. Und erkannte diese Gemeinde gar nicht mehr wieder. Du liebe Zeit, denkt er, was ist nur aus denen geworden!

Kinder, Kinder, schreibt er von Zuhause, nachdem er sich wieder gefangen hat. Kinder, Kinder, es wird Zeit, dass ihr euch wieder mal an ein paar wichtige Dinge erinnert. Bevor ihr euch ganz verliert und euch selbst entschwindet. Bevor ihr gar nicht mehr wisst, wer ihr seid. Kinder, Kinder, schreibt Johannes deshalb nicht oberlehrerhaft, sondern weil er diese Leute noch von Herzen mag. Es tut weh, wenn Menschen, die man liebt, unkenntlich und entstellt erscheinen, sich selbst unkenntlich werden und sich selbst entstellen. Und Johannes weiß nur zu gut, dass genau das eine tiefe Tragik unseres Lebens sein kann: dass wir uns um so sicherer verlieren, je verzweifelter wir uns selbst suchen. Je verzweifelter wir uns selbst bestimmen und verwirklichen wollen, desto sicherer landen wir früher oder später in Selbstüberforderung und Vereinsamung.

Die Räume, in denen sich heute ein Mensch selbst verwirklichen kann, werden immer enger, obwohl der Mensch immer älter wird. Das ist schon paradox. Mit 20 bis 25 Jahren hat man die besten Chancen, sofern man das Richtige gelernt hat, hervorragend ausgebildet ist und über langjährige Berufserfahrung verfügt. Da hat das Leben scheinbar seinen höchsten Wert und je älter wir werden, desto mehr verfällt dieser Wert. Ab 45 muss man nehmen, was man noch kriegen kann. Mit 55 will einen keiner mehr haben. Da sind oft noch nicht einmal zwei Drittel unseres Lebens vorbei. Früher war das ja mal anders: Da stieg mit dem Alter, der Erfahrung und der Weisheit die Wertschätzung für einen Menschen. Heute muss man als alter Mensch jede Menge kindischer Sachen anstellen, um bloß nicht alt zu erscheinen.

Das ist nun übrig geblieben von den Idealen der Aufklärung vor 200 Jahren, die die Selbstbestimmung des Menschen predigte. Und wenn es nicht zum Heulen wäre, wäre es zum Lachen. Immer gab es in der Geschichte falsche Autoritäten, Despoten und Diktatoren und auch die Kirche gehörte in ihrer Geschichte des Öfteren in diese Kategorie. Freiheit ist ein hohes Gut, das erkämpft sein will, auch in der Kirche. Deshalb will keiner in einer evangelischen Kirche hinter diese Einsicht der Aufklärung zurück. Die war schon eine Einsicht der Reformation Martin Luthers. Aber kann es nicht sein, dass man die falsche Autorität einer Kirche mit der Autorität Gottes verwechselt hat? Dass wir gerade heute in der irrigen Meinung leben, Gott wäre als der Herr der Welt so etwas wie der übermenschliche Konkurrent unserer wahren Menschlichkeit? Gott, als der Herr über uns, wäre eine Bedrohung oder Beschränkung unserer wahren Menschlichkeit? Von Nicolas Gomez Davila stammt der Satz: „Die moderne Geschichte ist der Dialog zwischen zwei Menschen: einer, der an Gott glaubt, ein anderer, der Gott zu sein glaubt.“ Ja, wo landet der Mensch, der Gott verliert? Er muss sein eigener Gott werden. Wir müssen nicht weit in die Geschichte zurückschauen, um uns an die schrecklichen Folgen solcher Menschenvergötzung zu erinnern.

Dahinein treffen die wuchtigen Worte des Johannesbriefs. Wer Gott und auch den Christus hinein verschwinden lässt in die Größe und die Abgründe unserer Menschlichkeit, wird früher oder später jede Hoffnung und jeden Trost verlieren. Es ist nämlich alles andere als wahr, dass Gott als der Herr der Welt, so etwas wie der übermenschliche Konkurrent unserer wahren Menschlichkeit wäre. Er ist vielmehr der beste Freund, Retter und Beförderer wahrer Menschlichkeit. Ja, er ist dieses so sehr, dass er in Jesus Christus selbst ein wahrer Mensch wird, der nicht buddhagleich dem Menschen den Weg zeigt, wie er durch alles Leid doch noch aus eigener Kraft zur Schönheit der Welt durchdringen könnte, bis dem Heiligenschein des Seins die Scheinheiligkeit aus allen Lichtern tropft. Gott wird ein Mensch, der am brutalen Kreuz heilloser Existenz landet, auf dass kein Ort im Leben und ihm Sterben mehr gottverlassen und gottlos ist. So kommt Gott in unser Leben. Und nur so kommt Gott wirklich in unser Leben. Er verzichtet auf den Heiligenschein, um unser Leben heilig zu machen.

„Heilig“ ist eben kein Ausdruck für ethische Integrität, vielleicht gar noch im Sinne bürgerlicher Moral. Sünde ist der vergebliche Versuch des Menschen, sein eigener Schöpfer und Gott zu sein, ohne es zu können. Sünde ist Sackgasse, Selbstüberforderung, Verhältnislosigkeit und Vereinsamung. Heilig werden heißt Glauben. Glauben heißt, sich Gott anvertrauen, ihm Recht zu geben, ihn Herr über unser Leben sein zu lassen. Und ihm dabei zuzutrauen, dass er unser Leben in sein Licht rückt und nach Hause bringt. Glauben heißt, Gott zuzutrauen, dass er uns zu wahrer Menschlichkeit befreit.

Was ist nur aus uns geworden?, so fragen wir besonders an bestimmten Tagen. Wenn ein Geburtstag gefeiert wird oder ein Jubiläum. An solchen Tagen sind wir besonders ansprechbar, ja selbst als Christenmenschen ansprechbar, auch wenn uns der Glauben im Einerlei unseres Alltages vielleicht für lange Zeit aus dem Blickfeld geraten ist. Was ist nur aus uns geworden? Nicht jede Antwort auf diese Frage wird schmeichelhaft sein. Wir werden aufmerksam auf die Bedingungen unseres Lebens: auf die menschlichen und allzumenschlichen, auf die oft übermenschlichen Ansprüche und die unmenschlichen Verhältnisse und Zwänge im Großen und im Kleinen. Ein erfülltes und menschliches Leben in Freiheit, das wollen wir alle. Und können es doch nicht für uns allein. Was soll noch aus uns werden?, lautet daher die bange Frage?

Nehmen wir den wieder in den Blick, der uns das Leben schenkte und in Christus als Menschenbruder an unserer Seite steht. Lassen wir uns helfen von dem, der zwar nicht der Zeuge unserer Anständigkeit, aber der Heiler und Helfer zu einem Leben in wahrer Menschlichkeit ist. „Auch bis in euer Alter bin ich derselbe, und ich will euch tragen, bis ihr grau werdet. Ich habe es getan; ich will heben und tragen und erretten.“ (Jesaja 46,4), so sagt es Gott durch den Propheten Jesaja. Gott hat andere Vorstellungen vom Wert eines Lebens, als so mancher trostlose Zeitgenosse in Politik und Wirtschaft. Gott sei Dank! Deshalb verdient er unser vollstes Vertrauen. In seinem Licht dürfen wir als seine Kinder leben, egal, wie alt wir sind. Und egal, wie lange wir noch auf dieser Welt sind. Denn auch wenn unsere Wanderschaft durch dieses Leben einmal an ihr Ziel kommt, ist Gottes Geschichte mit uns noch lange nicht zu Ende.

Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter www.kanzelgruss.de)

Text:

5 Und das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und in ihm ist keine Finsternis.
6 Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit.
7 Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht uns rein von aller Sünde.
8 Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns.
9 Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht, dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller Ungerechtigkeit.
10 Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.
2 1 Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt. Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem Vater, Jesus Christus, der gerecht ist.
2 Und er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt.
3 Und daran merken wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote halten.
4 Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht.
5 Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind.
6 Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der soll auch leben, wie er gelebt hat.
 


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