Liebe Leser,
Was ist nur aus uns geworden?, so fragen wir besonders an bestimmten
Tagen. Wenn ein Geburtstag gefeiert wird oder ein Jubiläum. Man erinnert
sich, wie das eigene Leben anfing und sich entwickelt hat. Mit 17 hatte
man noch Träume. Mit 30 hat man noch das ganze Leben vor sich. Mit 80
hat man es so gut wie hinter sich. In 100 Jahren ist alles vorbei. Kein
Wunder, wenn Ehrentage und Jubiläen uns nachdenklich machen. Und
offensichtlich brauchen wir sie gerade deshalb. Je länger wir leben, je
mehr. Über 200 Gäste kamen in diesem Jahr zur Feier der
Jubelkonfirmation von der Goldenen aufwärts nach Hospital und St.
Michaelis, zurück zu den Wurzeln ihrer Kinder- und Jugendzeit.
An solchen Tagen sind wir besonders ansprechbar, ja selbst als
Christenmenschen ansprechbar, auch wenn uns der Glauben im Einerlei
unseres Alltages vielleicht für lange Zeit aus dem Blickfeld geriet. Das
scheint in besonderem Maße auch für die Menschen zu gelten, an die
Johannes seinen Brief schreibt. Vielleicht hat auch diese Gemeinde
gerade ein Jubiläum gefeiert und sich gefragt, was denn aus ihr geworden
ist. Und da kann es ja durchaus sein, dass die Antwort auf diese Frage
beunruhigend ausfällt. Dass sich all das, was diese Gemeinde einmal
stark gemacht hat, der Glaube, die Hoffnung, die Liebe sozusagen fast
ganz verflüchtigt hat. Da kam Johannes zur Feier und kannte die Leute
nicht mehr. Und erkannte diese Gemeinde gar nicht mehr wieder. Du liebe
Zeit, denkt er, was ist nur aus denen geworden!
Kinder, Kinder, schreibt er von Zuhause, nachdem er sich wieder gefangen
hat. Kinder, Kinder, es wird Zeit, dass ihr euch wieder mal an ein paar
wichtige Dinge erinnert. Bevor ihr euch ganz verliert und euch selbst
entschwindet. Bevor ihr gar nicht mehr wisst, wer ihr seid. Kinder,
Kinder, schreibt Johannes deshalb nicht oberlehrerhaft, sondern weil er
diese Leute noch von Herzen mag. Es tut weh, wenn Menschen, die man
liebt, unkenntlich und entstellt erscheinen, sich selbst unkenntlich
werden und sich selbst entstellen. Und Johannes weiß nur zu gut, dass
genau das eine tiefe Tragik unseres Lebens sein kann: dass wir uns um so
sicherer verlieren, je verzweifelter wir uns selbst suchen. Je
verzweifelter wir uns selbst bestimmen und verwirklichen wollen, desto
sicherer landen wir früher oder später in Selbstüberforderung und
Vereinsamung.
Die Räume, in denen sich heute ein Mensch selbst verwirklichen kann,
werden immer enger. Mit 20 bis 25 Jahren hat man die besten Chancen,
sofern man das Richtige gelernt und hervorragend ausgebildet ist. Da hat
das Leben scheinbar seinen höchsten Wert und je älter wir werden, desto
mehr verfällt dieser Wert. Ab 45 muss man nehmen, was man noch kriegen
kann. Früher war das ja mal anders: Da stieg mit dem Alter, der
Erfahrung und der Weisheit die Wertschätzung für einen Menschen. Heute
muss man als alter Mensch jede Menge kindischer Sachen anstellen, um
bloß nicht alt zu erscheinen.
Das ist nun übrig geblieben von den Idealen der Aufklärung vor 200
Jahren, die die Selbstbestimmung des Menschen predigte. Und wenn es
nicht zum Heulen wäre, wäre es zum Lachen. Immer gab es in der
Geschichte falsche Autoritäten, Despoten und Diktatoren und auch die
Kirche gehörte in ihrer Geschichte des Öfteren in diese Kategorie.
Freiheit ist ein hohes Gut, das erkämpft sein will, auch in der Kirche.
Deshalb will keiner in einer evangelischen Kirche hinter diese Einsicht
der Aufklärung zurück. Die war schon eine Einsicht der Reformation
Martin Luthers. Aber kann es nicht sein, dass man die falsche Autorität
einer Kirche mit der Autorität Gottes verwechselt hat? Dass wir gerade
heute in der irrigen Meinung leben, Gott wäre als der Herr der Welt so
etwas wie der übermenschliche Konkurrent unserer wahren Menschlichkeit?
Gott, als der Herr über uns, wäre eine Bedrohung oder Beschränkung
unserer wahren Menschlichkeit? Von Nicolas Gomez Davila stammt der Satz:
„Die moderne Geschichte ist der Dialog zwischen zwei Menschen: einer,
der an Gott glaubt, ein anderer, der Gott zu sein glaubt.“ Ja, wo landet
der Mensch, der Gott verliert? Er muss sein eigener Gott werden. Wir
müssen nicht weit in die Geschichte zurückschauen, um uns an die
schrecklichen Folgen solcher Menschenvergötzung zu erinnern.
Dahinein treffen die wuchtigen Worte des Johannesbriefs. Wer Gott und
auch den Christus hinein verschwinden lässt in die Größe und die
Abgründe unserer Menschlichkeit, wird früher oder später jede Hoffnung
und jeden Trost verlieren. Es ist nämlich alles andere als wahr, dass
Gott als der Herr der Welt, so etwas wie der übermenschliche Konkurrent
unserer wahren Menschlichkeit wäre. Er ist vielmehr der beste Freund,
Retter und Beförderer wahrer Menschlichkeit. Ja, er ist dieses so sehr,
dass er in Jesus Christus selbst ein wahrer Mensch wird, der nicht
buddhagleich dem Menschen den Weg zeigt, wie er durch alles Leid doch
noch aus eigener Kraft zur Schönheit der Welt durchdringen könnte, bis
dem Heiligenschein des Seins die Scheinheiligkeit aus allen Lichtern
tropft. Gott wird ein Mensch, der am brutalen Kreuz heilloser Existenz
landet, auf dass kein Ort im Leben und ihm Sterben mehr gottverlassen
und gottlos ist. So kommt Gott in unser Leben. Und nur so kommt Gott
wirklich in unser Leben. Er verzichtet auf den Heiligenschein, um unser
Leben heilig zu machen.
Heilig ist eben kein Ausdruck für ethische Integrität vielleicht gar
noch im Sinne bürgerlicher Moral, genauso wenig, wie der biblische
Begriff der Sünde ein Begriff bürgerlicher Moral ist. Sünde ist der
vergebliche Versuch des Menschen, sein eigener Schöpfer und Gott zu
sein, ohne es zu können. Sünde ist Sackgasse, Selbstüberforderung,
Verhältnislosigkeit und Vereinsamung. Heilig werden heißt Glauben.
Glauben heißt, sich Gott anvertrauen, ihm Recht zu geben, ihn Herr über
unser Leben sein zu lassen. Und ihm dabei zuzutrauen, dass er unser
Leben in sein Licht rückt und nach Hause bringt. Glauben heißt, Gott
zuzutrauen, dass er uns zu wahrer Menschlichkeit befreit.
Was ist nur aus uns geworden?, so fragen wir besonders an bestimmten
Tagen. Wenn ein Geburtstag gefeiert wird oder ein Jubiläum. An solchen
Tagen sind wir besonders ansprechbar, ja selbst als Christenmenschen
ansprechbar, auch wenn uns der Glauben im Einerlei unseres Alltages
vielleicht für lange Zeit aus dem Blickfeld geriet. Was ist nur aus uns
geworden? Nicht jede Antwort auf diese Frage wird schmeichelhaft sein.
Wir werden aufmerksam auf die Bedingungen unseres Lebens: auf die
menschlichen und allzumenschlichen, auf die oft übermenschlichen
Ansprüche und die unmenschlichen Verhältnisse und Zwänge im Großen und
im Kleinen. Ein erfülltes und menschliches Leben in Freiheit, das wollen
wir alle. Und können es doch nicht für uns allein. Was soll noch aus uns
werden?, lautet daher die bange Frage? Nehmen wir den wieder in den
Blick, der uns das Leben schenkte und in Christus als Menschenbruder an
unserer Seite steht. Lassen wir uns helfen von dem, der zwar nicht der
Zeuge unserer Anständigkeit, aber der Heiler und Helfer zu einem Leben
in wahrer Menschlichkeit ist. „Auch bis in euer Alter bin ich derselbe,
und ich will euch tragen, bis ihr grau werdet. Ich habe es getan; ich
will heben und tragen und erretten.“ (Jesaja 46,4), so sagt es Gott
durch den Propheten Jesaja. Gott hat andere Vorstellungen vom Wert eines
Lebens, als so mancher trostlose Zeitgenosse in Politik und Wirtschaft.
Gott sei Dank! Deshalb verdient er unser vollstes Vertrauen. Dann kann
noch alles werden.
Pfarrer Johannes Taig (Hospitalkirche
Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de)
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Text:
5 Und das ist die Botschaft, die wir von
ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und in ihm
ist keine Finsternis.
6 Wenn wir sagen, dass wir Gemeinschaft mit ihm haben, und wandeln
in der Finsternis, so lügen wir und tun nicht die Wahrheit.
7 Wenn wir aber im Licht wandeln, wie er im Licht ist, so haben wir
Gemeinschaft untereinander, und das Blut Jesu, seines Sohnes, macht
uns rein von aller Sünde.
8 Wenn wir sagen, wir haben keine Sünde, so betrügen wir uns selbst,
und die Wahrheit ist nicht in uns.
9 Wenn wir aber unsre Sünden bekennen, so ist er treu und gerecht,
dass er uns die Sünden vergibt und reinigt uns von aller
Ungerechtigkeit.
10 Wenn wir sagen, wir haben nicht gesündigt, so machen wir ihn zum
Lügner, und sein Wort ist nicht in uns.
2 1 Meine Kinder, dies schreibe ich euch, damit ihr nicht sündigt.
Und wenn jemand sündigt, so haben wir einen Fürsprecher bei dem
Vater, Jesus Christus, der gerecht ist.
2 Und er ist die Versöhnung für unsre Sünden, nicht allein aber für
die unseren, sondern auch für die der ganzen Welt.
3 Und daran merken wir, dass wir ihn kennen, wenn wir seine Gebote
halten.
4 Wer sagt: Ich kenne ihn, und hält seine Gebote nicht, der ist ein
Lügner, und in dem ist die Wahrheit nicht.
5 Wer aber sein Wort hält, in dem ist wahrlich die Liebe Gottes
vollkommen. Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind.
6 Wer sagt, dass er in ihm bleibt, der soll auch leben, wie er
gelebt hat. |