Liebe Leser,
die Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Fernsehmoderatorin Elke
Heidenreich schreibt in ihrem Buch „Kolonien der Liebe“:
„Meine Mutter sagte immer: Hör bloß auf mit deinen saublöden
Liebesgeschichten und mach lieber deine Schularbeiten. Die Liebe
behauptete sie, sei ein Scheißdreck, ein einziger gigantischer
Schwindel, und ich sollte mir doch nur meinen Vater ansehen. Ich hatte
selten Gelegenheit mir meinen Vater anzusehen – er war fast nie da.“
In diesem Zitat steckt jede Menge Hoffnung und Schmerz, Traum und
Enttäuschung. Jeder von uns zeichnet das alles auf seine Weise in seiner
Lebensgeschichte und Erfahrung nach. Schon in der Kindheit beginnt es.
Haben Sie ihre Eltern als erotische Menschen, als Liebende erlebt? Was
ist Ihre Entwicklung und Geschichte als liebender Mensch? Was ist aus
Ihrer großen Liebe geworden? Können Sie die Wut und Enttäuschung
nachempfinden, die aus der zitierten Mutter spricht? Die Liebe, ein
einziger gigantischer Schwindel?
Ich denke es ist gut, wenn wir auch alle diese Erfahrungen um unseren
heutigen Predigttext versammeln, denn sie versammeln sich ja ganz von
selbst, wenn wir hören: Gott ist die Liebe.
Nein, es sind nicht bloß geistliche Wünsche und Sehnsüchte, die Legionen
von Konfirmanden sich diesen Spruch wünschen lässt. Auch bei Trauungen
steht er auf Platz eins. Zur Taufe und zum Hochzeitsjubiläum soll er
dann wieder bedacht werden. Sehr weltliche Wünsche und Sehnsüchte
schwingen da mit.
Und Enttäuschung wohl auch, zumindest die Angst davor. Furcht die Liebe
zu verlieren oder zu verfehlen. Sie gar nicht erst zu finden. Ein Leben
ohne Liebe ist sinnlos. Auch religiöse Analphabeten haben heute noch
eine Ahnung davon, dass die Erfahrung, nicht geliebt zu sein, in ihrer
Größe und Bedeutung der Erfahrung der Gottverlassenheit entspricht.
Und drum kann und darf, weder hier noch sonst wo die Liebe Gottes so
gelobt und gepredigt werden, dass gleichzeitig die menschliche Liebe der
Hoffnungslosigkeit überlassen wird. Es ist mehr als ein Verdacht, dass
die christliche Geringschätzung, Verdächtigung und Verhöhnung der
menschlichen Liebe auch den Begriff der Liebe Gottes beschädigt hat und
weiter beschädigt. Es ist offensichtlich, dass die christliche
Sprachlosigkeit über die menschliche Liebe, auch den Begriff der Liebe
Gottes meist nur in kirchlichen und dogmatischen Leerformeln, also
ebenfalls recht sprachlos und nichtssagend, zur Sprache bringen kann.
Wenn wir ernst nehmen, dass man von Gott nur in menschlichen Bildern
reden kann, wird die Rede von Gott leer, wenn den menschlichen Bildern
das Leben ausgeht. Was wäre Elke Heidenreich als Kind wohl zu Gott dem
Vater eingefallen? „Ich hatte selten Gelegenheit mir meinen Vater
anzusehen – er war fast nie da.“ In einer vaterlosen Gesellschaft wird
die Predigt von Gott dem Vater wortwörtlich „vorbeitreffen“. Theologisch
treffend und die Hörer können die Augen kaum offen halten. Auch so ein
einziger gigantischer Schwindel.
Gott ist die Liebe und auch wir sind zumindest alle Geschöpfe der Liebe,
selbst wenn sie unseren Eltern und uns nur in Kümmerform begegnet ist.
Über die Erlösungsbedürftigkeit unserer Liebe haben wir alle früher oder
später Erfahrung gesammelt. Wir beklagen die zunehmende Vereinsamung bei
gleichzeitiger pornographischer Rundumversorgung. Weltweit wird die
Potenzpille Viagra gefeiert, die nichts anderes ist als der Sieg eines
unbarmherzigen Leistungsprinzips selbst in der Liebe und ein Symptom der
allgegenwärtigen Angst vor dem Versagen. Wer’s nicht bringt, fliegt
raus.
Darum hört, ich predige Euch heute den Gott, der Liebe ist, indem er mir
und Dir ein Vater und eine Mutter wird, die sich bedingungslos zuwendet
und ewig Zeit hat. Als er die Welt machte, gab er seiner Schöpfung nur
einen einzigen Pfeiler: Die Liebe. Als er sah, wie Du diesen Halt
verlorst und ein in dich selbst verkrümmter Mensch wurdest, kam er im
Christus auf die Welt um Dich davon zu erlösen und zu befreien. Sein
Reden und Handeln sagt Dir, dass Du nicht Dein eigener Schöpfer und
Henker bist, sondern Dein Leben ganz Gott anvertrauen und verdanken
darfst. Er hat Dir gezeigt, dass nur der sein Leben findet, der zur
Liebe und zur Hingabe bereit ist. Du bleibst in seiner Liebe, wenn Du
ihm immer wieder zuhörst.
Seine Liebe treibt die Furcht aus. Auch die Furcht, die augenblicklich
da ist, wenn jemand zu Dir sagt: Ich liebe Dich. Die Furcht, dich selbst
zu verlieren, bloßgestellt zu werden, betrogen zu werden, verlassen zu
werden, Freiheit zu verlieren, enttäuscht zu werden, bestraft zu werden.
Johannes predigt Euch heute den Gott, der Liebe ist, indem er uns bis in
die Tiefen des Herzens wahrnimmt, unsere Leistungen und Fehlleistungen
beim Namen nennt, aber uns nicht auf sie festlegt. Ja, Gott richtet,
aber aus Liebe und in Liebe.
50 Jahre sind wir nun verheiratet, Herr Pfarrer, und kein lautes und
böses Wort, sagt stolz ein altgedientes Paar zu mir. Ich hoffe im
Stillen, dass das geschwindelt ist. Wenn das wahr ist – wie reibungslos,
gleichgültig und trostlos müssen hier zwei, jeder in seiner Welt, ihre
parallelen Bahnen gezogen sein? Oder nicht besser: Hier kommt einer von
beiden zum Fest, seit Jahrzehnten resigniert und zerdrückt, bis zur
Unkenntlichkeit verheiratet. Da soll der Teufel die Festansprache
halten!
Wer sich liebt, kommt sich in die Quere. Gottes Liebe kommt uns in die
Quere. Immer wieder unterbricht sie unseren gewohnten
Lebenszusammenhang. Sie macht unsere Höhen und unsere Abgründe
kenntlich. Sie entdeckt uns. Und nicht jede solche Entdeckung ist
harmlos. Aber keiner braucht vor diesen Entdeckungen Angst haben, wenn
sie mit Liebe gemacht werden. Und genau das tut Gott. Seine Liebe
entdeckt uns. Sie nennt unsere Höhen und Abgründe, unsere Leistungen und
Fehlleistungen, unsere guten Taten und unsere Sünde beim Namen und lässt
uns dennoch seine geliebten Kinder sein. Wer sich aber fürchtet, der ist
nicht vollkommen in der Liebe. Denn an einen solchen himmlischen Vater
glaubt man nicht aus Angst.
Darum lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt. Zuerst war der
Gott der Liebe ist, und dann sind wir geworden, seine Geschöpfe, zur
Liebe begabt, auf Liebe angewiesen, aus Liebe gezeugt. Wir versammeln um
den Gott, der die Liebe ist, all unsere Hoffnungen, Sehnsüchte und
Enttäuschungen mit der Liebe. Wo sollten wir sie sonst versammeln? Da
gehören sie hin!
Denn wir können gar keinen Schritt des Glaubens auf den liebevollen Gott
hin gehen, ohne einen Schritt der Hoffnung für unsere menschliche Liebe
zu machen und gegen ihre Bedrohungen: Gegen ihre religiöse Verhöhnung,
ihre wirtschaftliche Ausbeutung und Unterordnung unter jedwedes
Leistungsprinzip. Und für Bedingungen, unter denen unsere Liebe leben
kann. Wann sind wir endlich wieder mehr interessiert an ihrer
Lebendigkeit, als an ihren Fassaden?
Vielleicht ist dieser erste Schritt ein Schritt des Gerichts gegen uns
selbst, wenn wir zugeben müssen: Wir nehmen uns zuwenig Zeit
füreinander, wir reden über alles mögliche und so wenig von uns selbst.
Wie sollen wir da aneinander noch etwas entdecken? Und wie könnten wir
uns so noch ineinander einfühlen? Wir lassen uns zu viel unterhalten und
lenken uns ab; und unser Leben, ist das, was hier passiert, wenn wir in
Gedanken gerade woanders sind. Wir haben aus so mancher geschenkten
Liebe einen Scheißdreck gemacht.
Hass spricht aus den Worten der Mutter, an die sich die Schriftstellerin
Heidenreich erinnert. Hass ist die Enttäuschungsform der Liebe. Das
Gegenteil von Liebe ist Gleichgültigkeit.
Und darum beten wir: Gott der Liebe, schenk uns ein Herz, damit wir
immer wieder beherzte Menschen werden und bleiben.
Pfarrer Johannes Taig (Hospitalkirche
Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Johannes schreibt:
4,16b Gott ist die Liebe; und wer in der Liebe
bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.
4,17 Darin ist die Liebe bei uns vollkommen, dass wir Zuversicht haben
am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt.
Furcht ist nicht in der Liebe,
4,18 sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus; denn die
Furcht rechnet mit Strafe.
Wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen
in der Liebe.
4,19 Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.
4,20 Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der
ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, wie
kann er Gott lieben, den er nicht sieht?
4,21 Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer
Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe. |