Predigt     1. Johannes 3/1-6     Weihnachten I     25.12.11

"Weihnachten im Gärtla"
(von Pfarrer Rudolf Koller, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

es klingelt. Wer kann denn das jetzt sein? Neugierde lässt ihn zum Fenster schleichen, so, dass der Vorhang sich nicht bewegt. Er weiß, wie das geht. Eine leichte Kopfwendung, der Kontrollblick zurück: Das Licht in der Wohnung ist aus. Auch im Flur. Gut so. Er kann auf keinen Fall gesehen werden. Da unten ist niemand. Auf der Straße rührt sich nichts als regennasse Kälte. An diesem Abend jagt man keinen Hund vor die Tür. Im Haus gegenüber blinkt eine Lichterkette rhythmisch über dem Eingang. Ein Mann mit Schal steht auf einem kleinen Balkon und raucht. Hinter erleuchteten Fenstern sitzen Familien, feiern Wiedersehen, tauschen Geschenke, brennen die Lichter an den Bäumen. Weihnachten im Hasenbergl in München…oder im Gärtla in Hof? Da hat jemand bestimmt nur die falsche Klingel erwischt. Zurück aufs Sofa. Fernseher an. Es ist kurz vor acht. Tagesschau, danach ein Spielfilm. Zwei belegte Brote, dazu ein Bier, später dann noch ein Piccolo. Es gab schon schlimmere Weihnachtsfesttage.

Jetzt klingelt es noch einmal. Auf dem Weg zur Sprechanlage ein erster heißer Anflug von Nervosität im Magen. Wer kann denn das jetzt sein? Hallo, hallo? Die Sprechanlage sendet ihr gewohntes Summen, aber niemand meldet sich. Sein Blick wandert durch den dunklen Flur zur Wohnungstür. Durch einen Spalt dringt Licht vom Treppenhaus. Aha: Nur ein Nachbar, dem irgendetwas fehlt. Salz, Mehl, Zucker, eine Rolle Toilettenpapier. Moment! Die Hand bleibt ruhig auf der Türklinke liegen. Was aber, wenn es mehr ist als ein schnell erfüllbarer Wunsch, wenn einer jener Nachbarn kommt, die Weihnachten alleine nicht aushalten? Der Blick wandert zurück zum Fernseher und zu den belegten Broten. Die Hand lässt die Türklinke los.

Es klingelt zum dritten Mal. Eine Ausrede muss her: Nein, tut mir wirklich leid. Sie wissen schon, meine Migräne. Ein andermal sicher gerne. Das ist gut, das ist sehr gut. Eine Hand legt sich vorbereitend auf die Stirn, die andere schließt sich wieder um die Türklinke, drückt sie nach unten, Licht fällt aus dem Treppenhaus in die Wohnung.

„Hallo, Papa." - Sekundenlanges Schweigen. „Ich wollte gerne zu dir. Hast du Kopfweh? Du hältst ja deinen Kopf fest. Warum machst du denn kein Licht in der Wohnung?" - Die Hand fällt von der Stirn. Sein Blick gleitet über den zwölfjährigen Jungen im Treppenhaus. „Weiß deine Mutter, dass du hier bist?" „Sie holt mich in einer Stunde wieder ab." „Komm rein. Schuhe kannst du anlassen."

Eine Stunde später umarmt ein Vater seinen Sohn zum Abschied, drückt ihn an sich, als gebe es kein Morgen. Das Kind springt mit einer Tafel Schokolade und zwanzig Euro mehr in den Taschen zwei Stufen auf einmal die Treppen hinunter. Er schließt die Tür. Die Wohnung ist hell erleuchtet. Schnell den Vorhang zur Seite ziehen, das Fenster aufreißen. Von unten winken zwei Hände, dann fährt das kleine Auto davon.
Die Wohnung bleibt hell. Auf dem Sofa sitzt ein wieder gefundener Vater mit einer Ahnung von Glück. Er blickt auf den Wandkalender mit der Weihnachtsszene zu Bethlehem, muss an Josef denken, der dort an der Krippe steht und versonnen auf das Kind blickt.

Vater-Kind-Geschichten im Hasenbergl in München und im Gärtla in Hof und im Stall. Ganz bestimmt nicht immer einfach, aber immer wertvoll. Es brauchte damals, es braucht auch heute die Begegnung mit dem Kind. Es braucht die Begegnung mit dem Kind, weil allein diese Momente in der Lage sind, alles zu verändern. Wer ein Kind umarmt, schließt die Augen, vergisst von einem Moment auf den anderen all die Zwänge in Zeit und Raum, alles, was das Leben sonst so schwer macht, alle Sorgen und allen Kummer, der sonst auf der Seele lastet. Und er begreift etwas von Gottes Blick auf diese Welt und wie unser Leben darin gemeint sein könnte. Wer ein Kind umarmt, weckt das Kind, das in uns allen schlummert. Wer ein Kind in die Arme schließt, weiß sich selbst von Gott umarmt und erfüllt.

Ihr könnt das, ihr seid doch Gottes Kinder, ruft der Verfasser des Johannesbriefes uns heute ins Herz. Erwachsen ins Leben, krumme Hölzer mit aufrechtem Gang, keine Frage, aber ihr seid und bleibt doch Gottes Kinder! Kein Wunder, dass Gott uns ein Kind schenkt. Es braucht die Begegnung mit dem Kind, um zu begreifen, dass wir Gottes Kinder sind. Es braucht den Anblick und die Umarmung eines Kindes, dass wir leben können, wie Gottes Kinder leben sollen, dass wir all das zur Seite legen können: unsere Rechthaberei, unsere Verbitterung, unsere Rachegedanken, unsere Erfahrungen von Ungerechtigkeit, unsere Angst vor dem Morgen. Mit dem Anblick, mit der Umarmung eines Kindes stellen wir die Zeiger auf null. Da bleibt die Wohnung hell. Wer ein Kind in die Arme schließt, weiß sich selbst von Gott umarmt. Kein Wunder, dass er uns ein Kind schenkt!

Im Haus gegenüber sitzt eine Frau in der Küche. Der Tisch ist für zwei gedeckt. Mit Weingläsern und Servietten. Mit ordentlich Kerzen. Sie hat sich schön gemacht. Allein der Blick zur Uhr zeigt: Er wird wohl nicht mehr kommen. Er hat es aber doch versprochen. Ach, er hat schon so viel versprochen. Ihr Blick gleitet über die kleine Krippe auf der Küchenanrichte, bleibt bei den Figuren hängen, bei Maria und Josef. Die haben sich, denkt sie sich. Bei allen Sorgen um Wind und Wetter, um Kind und Leben, sie haben sich. Sie schenkt sich noch Wein nach, lässt ihre Gedanken auf den Grund des Glases sinken. Stößt mit dem leeren Glas gegenüber an: Fröhliche Weihnachten allseits.

Klack… klack macht es. Ihr stockt der Atem. Da ist jemand an der Tür. Das gibt's doch nicht. Er kommt doch noch! Schnell ein Pfefferminzbonbon zwischen die Zähne, schnell zur Tür. Halt, erst noch ein kurzer Blick in den Flurspiegel. Tür auf, auf den Lippen ein großes Hallo. Sie sieht - nichts. Nichts und niemanden. Bei den Nachbarn gegenüber steht die Wohnungstür offen, kehliges Lachen dringt aus der Stube. Langsam senkt sich ihr Blick und fällt direkt in die großen, strahlenden Augen eines dreijährigen Mädchens, das sich an den Türrahmen schmiegt und sie neugierig betrachtet. Das ist doch die Kleinste von den Nachbarn. „Ja, was machst du denn da?" Sie wundert sich, wie anders ihre Stimme plötzlich klingt. Sanft, fast fröhlich. - „Zu dir." „Zu mir?" Eifriges Kopfnicken, lachende Augen. „Ja, was machen wir denn jetzt, du musst doch zurück!" „Reingehn. Schokolade." „O.K., aber dann bring ich dich wieder zu Mama und Papa." Kopfnicken.

Ein paar Minuten später trägt die Frau das Mädchen zu den überraschten Eltern zurück. Etwas hat sich in diesen Minuten verändert, das spürt sie. Es sind die Kinderaugen, die ihre schweren Gedanken in Luft auflösen, die keinen Trübsinn mehr zulassen für diesen Abend. Wenn ein Kind dich anstrahlt, strahlst du einfach mit. Da bleibt etwas. Sie nimmt die strahlenden Augen, diese entwaffnende Ehrlichkeit, dieses offen getragene Herz des Mädchens mit sich in ihre Wohnung zurück, räumt den Tisch ab, blickt verträumt auf die Krippe und das Kind darin. Weihnachten im Hasenbergl in München und im Gärtla in Hof.

Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden, ruft uns der Verfasser des Johannesbriefs heute ins Herz. Ihr wisst ja gar nicht, was alles in euch steckt, so lange, bis ihr dem Kind begegnet, dem Kind in der Krippe und dem Kind in euch. Wer das Kind umarmt, schließt die Augen, vergisst von einem Moment auf den anderen alles, was das Leben schwer macht, alle Sorgen und allen Kummer, der wird frei vom Zwang und der Macht des Bösen, der begreift etwas von Gottes Blick auf diese Welt und was unser Leben sein könnte: Leben frei von den Lasten der Vergangenheit; Leben frei von aller Angst vor dem, was da kommen mag; frei auch von Todesangst; Leben ganz in der Gegenwart, mit Herz und Verstand! In Kindersprache gesagt: leben mit hüpfendem Herzen.

Ihr seid Gottes Kinder! Ihr könnt leben wie Gottes Kinder! Kein Wunder, wenn Gott uns zu Weihnachten ein Kind schenkt. Weihnachten im Hasenbergl in München und im Gärtla in Hof. Ein Stockwerk höher packt ein Junge seine erste eigene Gitarre aus, hält sie behutsam in Händen, verzieht sich in sein Zimmer damit, betrachtet sie ehrfurchtsvoll. Er wohnt Wand an Wand mit dem Kinderzimmer einer Nachbarfamilie. Er hört, wie im angrenzenden Raum ein Baby schreit. Wie jeden Abend schreit es sich in den Schlaf. Da hat der Junge eine Idee. Er setzt sich ganz nah an die Wand, die ihn von dem Kind trennt, und spielt eine einfache Melodie. Ein Kinderlied aus der Musikschule. Irgendwas mit Schlaf, Kindlein, Mutter und Schaf. Immer und immer wieder. Das Baby hinter der Wand wird leiser. Es hört zu. Es beruhigt sich. Und es schläft ein. Der Junge betrachtet ehrfurchtsvoll seine Gitarre.

Ihr seid alles Gottes Kinder.

Weihnachten im Hasenbergl in München und im Gärtla in Hof. Ein Mann steht am hellen Fenster und blickt zum Haus gegenüber. Im Ausschnitt erleuchteter Fenster sieht er Familien, die Wiedersehen feiern, Geschenke tauschen, Bäume, an denen Lichter brennen. Er sieht einer Frau zu, die einen gedeckten Tisch abräumt. Er sieht einen Jungen, der eine Gitarre betrachtet. Er sieht seinen Sohn vor sich. Alles verändert sich, wenn du dem Kind begegnest, denkt er sich und lächelt. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist - mit den Augen eines Kindes!

Pfarrer Rudolf Koller   (Hospitalkirche Hof)

Text:

1 Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es auch! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht.
2 Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist.
3 Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich, wie auch jener rein ist.
4 Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das Unrecht.
5 Und ihr wisst, dass er erschienen ist, damit er die Sünden wegnehme, und in ihm ist keine Sünde.
6 Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn nicht gesehen und nicht erkannt.
 


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