Liebe Leser,
es klingelt. Wer kann denn das jetzt sein? Neugierde lässt ihn zum
Fenster schleichen, so, dass der Vorhang sich nicht bewegt. Er weiß,
wie das geht. Eine leichte Kopfwendung, der Kontrollblick zurück:
Das Licht in der Wohnung ist aus. Auch im Flur. Gut so. Er kann auf
keinen Fall gesehen werden. Da unten ist niemand. Auf der Straße
rührt sich nichts als regennasse Kälte. An diesem Abend jagt man
keinen Hund vor die Tür. Im Haus gegenüber blinkt eine Lichterkette
rhythmisch über dem Eingang. Ein Mann mit Schal steht auf einem
kleinen Balkon und raucht. Hinter erleuchteten Fenstern sitzen
Familien, feiern Wiedersehen, tauschen Geschenke, brennen die
Lichter an den Bäumen. Weihnachten im Hasenbergl in München…oder im
Gärtla in Hof? Da hat jemand bestimmt nur die falsche Klingel
erwischt. Zurück aufs Sofa. Fernseher an. Es ist kurz vor acht.
Tagesschau, danach ein Spielfilm. Zwei belegte Brote, dazu ein Bier,
später dann noch ein Piccolo. Es gab schon schlimmere
Weihnachtsfesttage.
Jetzt klingelt es noch einmal. Auf dem Weg zur Sprechanlage ein
erster heißer Anflug von Nervosität im Magen. Wer kann denn das
jetzt sein? Hallo, hallo? Die Sprechanlage sendet ihr gewohntes
Summen, aber niemand meldet sich. Sein Blick wandert durch den
dunklen Flur zur Wohnungstür. Durch einen Spalt dringt Licht vom
Treppenhaus. Aha: Nur ein Nachbar, dem irgendetwas fehlt. Salz,
Mehl, Zucker, eine Rolle Toilettenpapier. Moment! Die Hand bleibt
ruhig auf der Türklinke liegen. Was aber, wenn es mehr ist als ein
schnell erfüllbarer Wunsch, wenn einer jener Nachbarn kommt, die
Weihnachten alleine nicht aushalten? Der Blick wandert zurück zum
Fernseher und zu den belegten Broten. Die Hand lässt die Türklinke
los.
Es klingelt zum dritten Mal. Eine Ausrede muss her: Nein, tut mir
wirklich leid. Sie wissen schon, meine Migräne. Ein andermal sicher
gerne. Das ist gut, das ist sehr gut. Eine Hand legt sich
vorbereitend auf die Stirn, die andere schließt sich wieder um die
Türklinke, drückt sie nach unten, Licht fällt aus dem Treppenhaus in
die Wohnung.
„Hallo, Papa." - Sekundenlanges Schweigen. „Ich wollte gerne zu dir.
Hast du Kopfweh? Du hältst ja deinen Kopf fest. Warum machst du denn
kein Licht in der Wohnung?" - Die Hand fällt von der Stirn. Sein
Blick gleitet über den zwölfjährigen Jungen im Treppenhaus. „Weiß
deine Mutter, dass du hier bist?" „Sie holt mich in einer Stunde
wieder ab." „Komm rein. Schuhe kannst du anlassen."
Eine Stunde später umarmt ein Vater seinen Sohn zum Abschied, drückt
ihn an sich, als gebe es kein Morgen. Das Kind springt mit einer
Tafel Schokolade und zwanzig Euro mehr in den Taschen zwei Stufen
auf einmal die Treppen hinunter. Er schließt die Tür. Die Wohnung
ist hell erleuchtet. Schnell den Vorhang zur Seite ziehen, das
Fenster aufreißen. Von unten winken zwei Hände, dann fährt das
kleine Auto davon.
Die Wohnung bleibt hell. Auf dem Sofa sitzt ein wieder gefundener
Vater mit einer Ahnung von Glück. Er blickt auf den Wandkalender mit
der Weihnachtsszene zu Bethlehem, muss an Josef denken, der dort an
der Krippe steht und versonnen auf das Kind blickt.
Vater-Kind-Geschichten im Hasenbergl in München und im Gärtla in Hof
und im Stall. Ganz bestimmt nicht immer einfach, aber immer
wertvoll. Es brauchte damals, es braucht auch heute die Begegnung
mit dem Kind. Es braucht die Begegnung mit dem Kind, weil allein
diese Momente in der Lage sind, alles zu verändern. Wer ein Kind
umarmt, schließt die Augen, vergisst von einem Moment auf den
anderen all die Zwänge in Zeit und Raum, alles, was das Leben sonst
so schwer macht, alle Sorgen und allen Kummer, der sonst auf der
Seele lastet. Und er begreift etwas von Gottes Blick auf diese Welt
und wie unser Leben darin gemeint sein könnte. Wer ein Kind umarmt,
weckt das Kind, das in uns allen schlummert. Wer ein Kind in die
Arme schließt, weiß sich selbst von Gott umarmt und erfüllt.
Ihr könnt das, ihr seid doch Gottes Kinder, ruft der Verfasser des
Johannesbriefes uns heute ins Herz. Erwachsen ins Leben, krumme
Hölzer mit aufrechtem Gang, keine Frage, aber ihr seid und bleibt
doch Gottes Kinder! Kein Wunder, dass Gott uns ein Kind schenkt. Es
braucht die Begegnung mit dem Kind, um zu begreifen, dass wir Gottes
Kinder sind. Es braucht den Anblick und die Umarmung eines Kindes,
dass wir leben können, wie Gottes Kinder leben sollen, dass wir all
das zur Seite legen können: unsere Rechthaberei, unsere
Verbitterung, unsere Rachegedanken, unsere Erfahrungen von
Ungerechtigkeit, unsere Angst vor dem Morgen. Mit dem Anblick, mit
der Umarmung eines Kindes stellen wir die Zeiger auf null. Da bleibt
die Wohnung hell. Wer ein Kind in die Arme schließt, weiß sich
selbst von Gott umarmt. Kein Wunder, dass er uns ein Kind schenkt!
Im Haus gegenüber sitzt eine Frau in der Küche. Der Tisch ist für
zwei gedeckt. Mit Weingläsern und Servietten. Mit ordentlich Kerzen.
Sie hat sich schön gemacht. Allein der Blick zur Uhr zeigt: Er wird
wohl nicht mehr kommen. Er hat es aber doch versprochen. Ach, er hat
schon so viel versprochen. Ihr Blick gleitet über die kleine Krippe
auf der Küchenanrichte, bleibt bei den Figuren hängen, bei Maria und
Josef. Die haben sich, denkt sie sich. Bei allen Sorgen um Wind und
Wetter, um Kind und Leben, sie haben sich. Sie schenkt sich noch
Wein nach, lässt ihre Gedanken auf den Grund des Glases sinken.
Stößt mit dem leeren Glas gegenüber an: Fröhliche Weihnachten
allseits.
Klack… klack macht es. Ihr stockt der Atem. Da ist jemand an der
Tür. Das gibt's doch nicht. Er kommt doch noch! Schnell ein
Pfefferminzbonbon zwischen die Zähne, schnell zur Tür. Halt, erst
noch ein kurzer Blick in den Flurspiegel. Tür auf, auf den Lippen
ein großes Hallo. Sie sieht - nichts. Nichts und niemanden. Bei den
Nachbarn gegenüber steht die Wohnungstür offen, kehliges Lachen
dringt aus der Stube. Langsam senkt sich ihr Blick und fällt direkt
in die großen, strahlenden Augen eines dreijährigen Mädchens, das
sich an den Türrahmen schmiegt und sie neugierig betrachtet. Das ist
doch die Kleinste von den Nachbarn. „Ja, was machst du denn da?" Sie
wundert sich, wie anders ihre Stimme plötzlich klingt. Sanft, fast
fröhlich. - „Zu dir." „Zu mir?" Eifriges Kopfnicken, lachende Augen.
„Ja, was machen wir denn jetzt, du musst doch zurück!" „Reingehn.
Schokolade." „O.K., aber dann bring ich dich wieder zu Mama und
Papa." Kopfnicken.
Ein paar Minuten später trägt die Frau das Mädchen zu den
überraschten Eltern zurück. Etwas hat sich in diesen Minuten
verändert, das spürt sie. Es sind die Kinderaugen, die ihre schweren
Gedanken in Luft auflösen, die keinen Trübsinn mehr zulassen für
diesen Abend. Wenn ein Kind dich anstrahlt, strahlst du einfach mit.
Da bleibt etwas. Sie nimmt die strahlenden Augen, diese entwaffnende
Ehrlichkeit, dieses offen getragene Herz des Mädchens mit sich in
ihre Wohnung zurück, räumt den Tisch ab, blickt verträumt auf die
Krippe und das Kind darin. Weihnachten im Hasenbergl in München und
im Gärtla in Hof.
Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht
offenbar geworden, was wir sein werden, ruft uns der Verfasser des
Johannesbriefs heute ins Herz. Ihr wisst ja gar nicht, was alles in
euch steckt, so lange, bis ihr dem Kind begegnet, dem Kind in der
Krippe und dem Kind in euch. Wer das Kind umarmt, schließt die
Augen, vergisst von einem Moment auf den anderen alles, was das
Leben schwer macht, alle Sorgen und allen Kummer, der wird frei vom
Zwang und der Macht des Bösen, der begreift etwas von Gottes Blick
auf diese Welt und was unser Leben sein könnte: Leben frei von den
Lasten der Vergangenheit; Leben frei von aller Angst vor dem, was da
kommen mag; frei auch von Todesangst; Leben ganz in der Gegenwart,
mit Herz und Verstand! In Kindersprache gesagt: leben mit hüpfendem
Herzen.
Ihr seid Gottes Kinder! Ihr könnt leben wie Gottes Kinder! Kein
Wunder, wenn Gott uns zu Weihnachten ein Kind schenkt. Weihnachten
im Hasenbergl in München und im Gärtla in Hof. Ein Stockwerk höher
packt ein Junge seine erste eigene Gitarre aus, hält sie behutsam in
Händen, verzieht sich in sein Zimmer damit, betrachtet sie
ehrfurchtsvoll. Er wohnt Wand an Wand mit dem Kinderzimmer einer
Nachbarfamilie. Er hört, wie im angrenzenden Raum ein Baby schreit.
Wie jeden Abend schreit es sich in den Schlaf. Da hat der Junge eine
Idee. Er setzt sich ganz nah an die Wand, die ihn von dem Kind
trennt, und spielt eine einfache Melodie. Ein Kinderlied aus der
Musikschule. Irgendwas mit Schlaf, Kindlein, Mutter und Schaf. Immer
und immer wieder. Das Baby hinter der Wand wird leiser. Es hört zu.
Es beruhigt sich. Und es schläft ein. Der Junge betrachtet
ehrfurchtsvoll seine Gitarre.
Ihr seid alles Gottes Kinder.
Weihnachten im Hasenbergl in München und im Gärtla in Hof. Ein Mann
steht am hellen Fenster und blickt zum Haus gegenüber. Im Ausschnitt
erleuchteter Fenster sieht er Familien, die Wiedersehen feiern,
Geschenke tauschen, Bäume, an denen Lichter brennen. Er sieht einer
Frau zu, die einen gedeckten Tisch abräumt. Er sieht einen Jungen,
der eine Gitarre betrachtet. Er sieht seinen Sohn vor sich. Alles
verändert sich, wenn du dem Kind begegnest, denkt er sich und
lächelt. Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber
noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber:
Wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden
ihn sehen, wie er ist - mit den Augen eines Kindes!
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche
Hof) |
Text:
1 Seht, welch eine Liebe hat uns der Vater
erwiesen, dass wir Gottes Kinder heißen sollen – und wir sind es
auch! Darum kennt uns die Welt nicht; denn sie kennt ihn nicht.
2 Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht
offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es
offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn
sehen, wie er ist.
3 Und ein jeder, der solche Hoffnung auf ihn hat, der reinigt sich,
wie auch jener rein ist.
4 Wer Sünde tut, der tut auch Unrecht, und die Sünde ist das
Unrecht.
5 Und ihr wisst, dass er erschienen ist, damit er die Sünden
wegnehme, und in ihm ist keine Sünde.
6 Wer in ihm bleibt, der sündigt nicht; wer sündigt, der hat ihn
nicht gesehen und nicht erkannt.
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