| 
       
      Liebe Leser, 
		 
		schon 1986 schrieb ein Ausleger zum heutigen Predigttext: „Gegen Ende 
		des 20. Jahrhunderts gibt es eine Erfahrung, die uns immer mehr zu 
		schaffen macht und die sich möglicherweise lähmend auf unser Bewusstsein 
		auswirken kann: die Erfahrung einer ungeheuren historischen Relativität, 
		in der wir als einzelne wie als Menschheit weiterleben müssen. Die 
		Lyrikerin Margarete Hannsmann verdichtet sie zu einem poetischen Bild, 
		das mich tief anspricht: 
		 
		‚Ich sah die wechselnden Wahrheiten wie 
		Wolken vorüberziehen und sich verändern (...)‘ 
		 
		Ja, auch ich habe sie gesehen. Oder waren es mehr wechselnde Torheiten? 
		Kommt man jetzt in Erschöpfungszustände, wo einem die Worte, nicht nur 
		die großen, auf die Nerven gehen, einem ausgesprochenermaßen Unbehagen 
		bereiten? 
		 
		Wir haben, auch in geistiger Hinsicht, immer nur verbraucht, von 
		abgelegten Ideensplittern gelebt. Irgendwann kommt die Schlussbilanz. Da 
		wird dann, wie bei einem Maskenball, abgeschminkt. Das wenige Rouge auf 
		den fahlen Gesichtern täuschte nur Lebendigkeit vor. ‚War wirklich der 
		Geist, aus dem das Wort gekommen war: Was hülfe es dir, wenn du die 
		ganze Welt gewönnest, und nähmest doch Schaden an deiner Seele? (...) 
		war er wirklich abgetan, überwunden, durch Besseres ersetzt, erledigt 
		und lächerlich geworden? (...) War dieser heftige, wilde amokläuferische 
		Hass einer neuen Zeit gegen alles und jedes, was ihr voranging, wirklich 
		ein Beweis für die Stärke dieser neuen Zeit?‘ So fragte sich bereits 
		1928 Hermann Hesse. Wir werden, wissend geworden, noch die 
		Grundtorheiten unseres Jahrhunderts durchmustern müssen und sie, 
		ausgesprochen heiter verabschieden.“ (Martin Uhle-Wettler, GPM 2/1986, 
		Heft 3, S. 356) 
		 
		Aber bevor wir dies tun können, muss ein Missverständnis gleich 
		ausgeschlossen werden. Dieser Kerntext des Apostel Paulus ist kein 
		Plädoyer für den Glauben auf Kosten der Vernunft. Er ist gerade in 
		seinen paradoxen Sätzen höchste Aufforderung zum Denken, das dabei 
		gehörig ins Schwitzen kommt. Und er will auch nicht in Poesie aufgelöst 
		werden, wie manch heutiger Ausleger meint. Vielmehr gilt: „Das ist 
		wenigstens keine Theologie, der man die Zähne ausgeschlagen hat und die 
		nun, ins Ghetto abgedrängt, mit zahnlosem Mund vor sich hin mummelt.“ 
		(aaO., S. 355) Die Worte des Paulus können nicht als Argument dienen, 
		das 1000-jährige „Bündnis zwischen christlichem Glauben und der Vernunft 
		(aufzukündigen), die nach Immanuel Kant das Organ ist, mit dem wir etwas 
		vernehmen, was wir uns nicht selbst sagen können.“ (aaO., S. 36) Für 
		diese Worte des Apostel Paulus gilt das in ganz besonderer Weise. Das 
		Wort vom Kreuz kann sich die Vernunft nun wirklich nicht selber sagen. 
		Aber nachdenken darüber soll sie – bitteschön!  
		 
		Damit haben wir es nicht nur in der Kirche nicht mehr so sehr, mit dem 
		Nachdenken. Und eine Grundregel des Denkens, die mir heute besonders 
		wichtig erscheint, heißt: Korrelationen sind keine Kausalitäten. Ein 
		heiteres Beispiel: In Bayern steigt die Geburtenzahl, gleichzeitig gibt 
		es wieder mehr Störche. Das ist eine Korrelation, aber eben nicht der 
		scheinbare Beweis, dass der Storch die Babys bringt. Nicht lachen, denn 
		es geht viel schlimmer. 1933: Deutschland geht es schlecht und es gibt 
		in Deutschland viele Juden, von denen auch noch etliche reich und 
		erfolgreich sind. Das ist der scheinbare Beweis, dass die Juden schuld 
		sind, dass es den Deutschen so schlecht geht. Es folgt das schlimmste 
		Grauen der deutschen Geschichte. 2016: In England ist es schwierig, 
		einen Arzttermin zu bekommen. Gleichzeitig sorgt die Freizügigkeit in 
		der EU dafür, dass viele Menschen aus anderen Ländern nach England 
		kommen. Das ist der scheinbare Beweis dafür, dass die EU nicht nur an 
		den Missständen in den Arztpraxen schuld ist. Das Ergebnis ist bekannt. 
		So argumentieren Populisten und sie haben auch bei uns wieder mehr und 
		mehr Erfolg damit. Warum ist das für viele so schwer zu durchschauen?
		 
		 
		Weil wir wieder in einer Zeit der Denkfaulheit leben? Weil inzwischen 
		selbst Philosophen meinen, dass unsere Zeit die Aufklärung hinter sich 
		gelassen hat und wir einsehen müssen, dass unsere Welt irrational ist, 
		dass im Getriebe der Welt Gründe und Argumente und damit die Vernunft 
		nichts mehr gelten? Wollen wir wirklich in so einer Welt leben?  
		 
		Und was ist mit einer Kirche, die bekümmert auf geringe Besucherzahlen 
		schaut und ihr Heil in niederschwelligen Angeboten sucht, bei denen die 
		Menschen dort abgeholt werden, wo sie sind und genau dort, bestenfalls 
		etwas heiterer, wieder abgesetzt werden? Wenn ich als Lehrer mit einer 
		solchen Einstellung in meine Klasse gehe, dann habe ich den Beruf 
		verfehlt, so wie eine solche Kirche ihren Auftrag verfehlt. Gerade 
		Martin Luther war es ein Herzensanliegen, dass Christenmenschen nicht 
		nur mit dem Herzen Gott und den Nächsten lieben, sondern auch verstehen, 
		was sie glauben. Herz und Verstand gehören zusammen. Das Herz will 
		verstehen und der Verstand will mehr lieben und glauben. Es ist ein unendlicher 
		Prozess. Deshalb hat der Dominikaner Meister Eckhart den Streit zwischen 
		den Franziskanern und den Dominikanern, ob denn die Liebe oder die 
		Erkenntnis das höchste Gut wäre, für konstruiert und falsch gehalten.
		 
		 
		Und Martin Luther hat sich geweigert zu widerrufen, es sei denn er werde 
		widerlegt aus Gründen der Heiligen Schrift und der Vernunft. Diese 
		Gründe haben in der Kirche zu entscheiden und anhand dieser Gründe hat 
		die Kirche immer wieder zu überprüfen, ob das, was sie tut auch zu ihrem 
		Wesen passt oder eben nicht. Gerade wird auch in unserer Landeskirche 
		ein neues kirchliches Finanzwesen eingeführt, dass auf doppelte 
		Buchführung, die sogenannte Doppik setzt. Hierzu schreibt die 
		Vorsitzende des bayerischen Pfarrvereins Corinna Hektor im aktuellen 
		Korrespondenzblatt: „Das HGB, das Handelsgesetzbuch, wurde faktisch zu 
		einer Art heiligem Gesetzbuch - und zwingt, quasi kanonisch geworden, 
		nicht nur unsere Finanzen in eine bestimmte Form, sondern bestimmt auch 
		Inhalte. Es formt Kirche um. Die Folgen: Handlungsspielräume werden eng, 
		Entscheidungen bekommen noch längeren Vorlauf, (…) Rücklagen als 
		Planungsgröße haben ausgedient. Die Angst vor der Armut wächst - trotz 
		aller Rekordergebnisse bei den Kirchensteuern. (…) Was ist Volkskirche? 
		Was sind wir? Eine Organisation? Ein Unternehmen? Unsere Sprache verrät 
		uns: Wir reden plötzlich von Produkten und Gewinn - oder gar von Kunden. 
		Orientieren uns an den Maßstäben von Wirtschaftsbetrieben. Wir haben 
		aber keine Kunden, sondern Mitglieder (Prof. Chr. Möller) - und so soll 
		es bitte bleiben.“ (Korrespondenzblatt Nr. 6/7, Juni/Juli 2016, S. 
		81ff.)  
		 
		Denn zu was ist eine Kirche noch gut, die sich dieser Welt gleichstellt 
		und der die Fragestellungen moderner Menschen und der modernen 
		Wirtschaft wichtiger sind als das Nachdenken über ihre ureigenste 
		Botschaft? Und was ist eine Kirche noch wert, in der nicht mehr über 
		ihren Weg durch diese Welt anhand dieser Botschaft leidenschaftlich 
		gestritten wird, in der schon die leise Kritik als Störung der 
		innerkirchlichen Harmonie gebrandmarkt wird und in der so gerade nicht 
		der Liebe, sondern der Bequemlichkeit, Angst und Feigheit Vorschub 
		geleistet wird? „Allzu schnell ist der christliche Glaube zur 
		Weltweisheit gemacht worden, überangepasst, konfliktscheu, stets auf 
		Ausgleich bedacht.“ (Uhle-Wettler, aaO., S. 355) Martin Luther würde 
		heute, ein Jahr vor dem 500. Jubiläum seines Thesenanschlags in 
		Wittenberg, von vorreformatorischen Verhältnissen in der evangelischen 
		Kirche sprechen!  
		 
		Auch Paulus hatte sich in Korinth mit manchen Spinnereien der 
		christlichen Gemeinde auseinanderzusetzen. Deshalb hält er Kurs und 
		verweist auf den Gott des Alten Testaments, der die hochfahrenden Pläne 
		seiner gesalbten Könige zunichtemachte und sich durch seine Propheten 
		auf die Seite der Witwen und Waisen, der Armen und um ihr Recht 
		Gebrachten stellte. Deshalb nötigt uns Paulus durch das Wort vom Kreuz, 
		den Sohn Gottes dort zu denken, wo er nach der Weisheit und den 
		Vorstellungen der Welt nichts verloren hat: Am Kreuz, wo man Verbrecher 
		aufhängt und in den Tod schickt.  
		 
		Im April 2016 erschien ein Buch mit dem Titel „Der Wurm in unserem 
		Herzen - Wie das Wissen um die Sterblichkeit unser Leben beeinflusst“ 
		(Sheldon Solomon, Jeff Greenberg, Tom Pyszczynski, DVA, 2016). Darin 
		weisen drei amerikanische Psychologen anhand empirischer Forschungen 
		nach, dass nicht die Sexualität, sondern das Bewusstsein der eigenen 
		Endlichkeit die Triebfeder für alles ist, von Fremdenfeindlichkeit bis 
		zum Genozid, von der Hochkultur bis zur Religion. Ein beeindruckendes 
		Buch. Und wen soll das dann eigentlich wundern, dass uns Paulus mit dem 
		Wort vom Kreuz genau dort abholt, wo all unsere Hoffnung und Weisheit 
		endet? Bis dort hinunter in den bitteren Tod reicht die Liebe Gottes und 
		seine Gegenwart. Wo unser Latein endet, sammelt sich Gottes ganze Kraft. 
		Dort muss auch unser Herz und unser Verstand Gott und die Welt völlig 
		neu denken. Gott sei Dank! 
       
      
      Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche 
      Hof) 
      (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
      
      www.kanzelgruss.de)   | 
      Text: 
      
       Paulus schreibt: 
		18 Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, 
		die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist's eine 
		Gotteskraft. 
		19 Denn es steht geschrieben (Jesaja 29,14): »Ich will zunichte machen 
		die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich 
		verwerfen.« 
		20 Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen 
		dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? 
		21 Denn weil die Welt, umgeben von der Weisheit Gottes, Gott durch ihre 
		Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der 
		Predigt selig zu machen, die daran glauben. 
		22 Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, 
		23 wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis 
		und den Griechen eine Torheit; 
		24 denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir 
		Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit. 
		25 Denn die Torheit Gottes ist weiser, als die Menschen sind, und die 
		Schwachheit Gottes ist stärker, als die Menschen sind. 
		 
		 
   |