Liebe Leser,
der durchschnittliche traditionell
glaubende Mensch lebt auf dem Land, ist alt und vergleichsweise
ungebildet. Das besagt eine Untersuchung aus Österreich. Glaube ist
was für die, die mit ihrem Leben allein nicht zurechtkommen; für die
Alten, die sonst niemanden haben! Unser Predigttext klingt ähnlich
nur mit dem Unterschied, dass Paulus behauptet, dass niemand mit dem
Leben zurecht kommt: Kein Mensch kann sich rühmen. Und zwar einfach
aus dem Grund, weil es schon ein Schwachsinn ist, von „meinem“ Leben
zu reden, mit dem ich selbst zurecht kommen soll.
Ich höre Paulus durch die Zeilen reden: Ihr Griechen und modernen
Menschen macht euch was vor, wenn ihr meint, ihr könntet von euerem
Leben reden. Was soll das sein, euer Leben?
Wie wollt ihr euer Leben getrennt vom restlichen Leben behandeln?
Was wärt ihr ohne andere? Wo hört euer Leben auf? Ist es nicht mehr
euer Leben, wenn auf dieser Welt Menschen aus lächerlichen Gründen
sterben. Aus Mangel an sauberem Wasser, an Kälte, aus Mangel an
Nahrung. Es sind immerhin Menschen, von denen ihr wisst, durch den
Fernseher in euerem Wohnzimmer. Ist es nicht mehr euer Leben, wenn
euere Tochter ein Kind bekommt? Es ist doch ein anderer Mensch. Und
trotzdem nennt ihr es eueren
Enkel? Was also soll die Augenwischerei vom eigenen Leben?
Wenn man sich mal eingestanden hat, dass es „mein“ Leben in
Abgrenzung zum anderen Leben nicht gibt, muss man etwas abgewandelt
sagen: Glauben ist etwas für die, die mit dem Leben als Ganzem nicht
zurecht kommen. Also für alle. Denn wer kommt schon mit der ganzen
Welt zurecht? Ich denke, das ist die
Perspektive, die der 1. Korintherbrief zu bieten hat: Er hilft
einzugestehen: Niemand kommt zurecht mit dem Leben in all seiner
Fülle – auch ich nicht.
Für Eigenlob und Stolz bleibt kein Platz, wenn man wie Paulus zu der
Überzeugung kommt, dass man selbst an sich so gar nicht existiert.
Es bleibt nur Staunen darüber, dass Gott doch irgendwie alles am
Laufen hält.
Der erste Schritt zum Glauben bei Paulus heißt also, zu entdecken
und für wahr zu nehmen, dass es mich abgegrenzt von anderen gar
nicht gibt. Wer sind wir dann überhaupt?
Paulus denkt von hier aus weiter. Hier kommt der schwierigste
Vers unseres Predigttextes: Durch ihn, also
Gott, seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott gemacht ist zur
Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und zur Erlösung.
Durch Gott, der uns in all unserer Hilflosigkeit hält, damit
sich niemand seiner selbst rühme, durch diesen Gott sind wir in
Christus Jesus.Wir sind in Jesus Christus. Jesus Christus und wir
verschmelzen sozusagen. Etwas gewagt ausgedrückt: Im besten Falle
sind wir Jesus Christus. Wie soll man sich das nur vorstellen?
Ein junger Mann klopft an die Tür seiner Geliebten.
Wer ist da?- Ich bin´s.
Die Tür bleibt verschlossen. Er klopft wieder.
Wer ist da? - Ich bin´s.
Die Tür bleibt verschlossen. Er klopft ein drittes Mal.
Wer ist da? – „Geliebte“.
Sie öffnet.
Solange der junge Mann meint, vor allem er sei wichtig, solange er
vor allem „Ich“ sagt, bleibt die Tür verschlossen.
Als der junge Mann auf die Frage: „Wer ist da?“ mit
„Geliebte“ antwortet, verschmelzen in dieser Antwort die beiden
Liebenden. Die Tür geht auf. Genauso ist der
Vers bei Paulus zu verstehen. Indem wir merken, dass Christus kein
Fremder außerhalb von uns ist, sondern dass er unser eigentliches
Wesen ist, werden wir weise, gerecht, heil und erlöst, ja wir
werden, wer wir eigentlich sind: Ebenbilder Gottes, Ebenbilder
Christi. An Christus sehen wir, wer wir als
Menschen wirklich sind.
Gehört z.B. der Hass zu uns? Nein, sagt Paulus. Hass mag zwar in uns
wüten, aber zu unserem eigentlichen Wesen gehört er nicht. Denn in
Christus ist kein Hass. Noch interessanter
werden die Überlegungen des Paulus, wenn man sie nicht nur auf sich
selbst sondern auch auf andere anwendet und sich fragt: Ist der, der
mir böse, kalt oder unbarmherzig begegnet wirklich böse?
Nein, sagt Paulus: Er begegnet dir böse und das Böse mag ihn
umtreiben, aber er ist in seinem eigentlichen Wesen nicht böse. Denn
auch sein eigentliches Wesen ist Christus. Denn er ist Ebenbild
Gottes. Er hat es nur noch nicht erkannt oder erträgt es nicht. Hilf
ihm dabei!
Das soll nicht heißen, so zu tun, als gäbe es nichts Böses in der
Welt. Im Gegenteil: Es heißt die Augen zu öffnen für die Realität:
Wenn ich davon überzeugt bin, dass Christus in meinem Gegenüber
lebt, genau wie in mir, dann bin ich gezwungen, nach Gründen zu
suchen, warum Hass sein Wesen überlagert und vielleicht auch meines.
Dann bin ich gezwungen, nach den Verletzungen zu suchen, die für den
Hass verantwortlich sind – in ihm und in mir. Dann kann ich nicht
mehr die Augen schließen und Menschen als Monster abstempeln. Dann
muss ich die Augen offen halten und Wege suchen, damit wieder das
sichtbar wird, was den Menschen zum Menschen macht: Die
Gottesebenbildlichkeit.
Wenn wir diesen Blick einnehmen, wie Paulus uns vorschlägt, dann
berühren sich Himmel und Erde. Dann begegnen wir den Menschen des
Paradieses in den Menschen der gefallenen Welt. Dann ist der Himmel
nicht mehr weit weg, sondern greifbar in Freude und Leid der Welt um
uns herum.
Christen wird gerne einmal vorgeworfen, dass ihr Glaube den Blick
auf die Welt versperre, indem er auf den Himmel vertröste.
Mir scheint es eher anders herum zu sein: Nur wer den Blick
auf den Himmel wagt, also auf Christus in sich selbst und in allen
Menschen, kann es ertragen, auf diese Welt zu blicken: auf das ganze
Leben. Wer den Himmel für möglich hält, der kann ehrlich auf die
Welt blicken auch wenn sie ihm feindlich entgegen kommt.
Wer meint, er käme auch ohne diesen himmlischen Blick mit dem Leben
zurecht, der hat die Augen wohl noch nicht aufgemacht. Der hat sich
seine kleine Welt gezimmert und die große Welt verdrängt. Der hat
sich wohl daran gewöhnt, dass Menschen zu Tode gequält werden,
verhungern, verdursten, gedemütigt werden und sich selbst demütigen.
Der hat sich wohl daran gewöhnt, dass ein Mensch in
Todesqualen vor uns hängt, der als solcher nicht mehr wahrgenommen
wird.
Warum sonst nimmt ihn niemand ab wie Josef von Arimatäa? Warum
verbindet ihm niemand die Wunden und legt ihn ins Grab? Warum
schreit niemand auf? Vielleicht einfach, weil
wir ihn ausblenden, weil wir es nicht ertragen, den gekreuzigten
Gott zu sehen. Wie wir es nicht ertragen können und weiter blättern
müssen, im Magazin, das auf den Ledersesseln unserer Wohnzimmer
liegt, weiterblättern über die Folterbilder, über die Winterbilder
aus Pakistan, über die Drogentoten und Zwangsprostituierten.
Weiterblättern, weil sie uns anklagen, uns weh tun in unserem warmen
Sessel, weil wir nicht zurechtkommen mit ihnen. Weil sie uns zeigen,
dass wir uns die Augen zuhalten, wir selbsternannten Realisten!
Ja, es ist schwer zu ertragen, dass Gott realistischer ist
als wir selbst und uns als Gekreuzigter dazu zwingt die Augen auf zu
machen für die Welt, wenn wir ihn und den Himmel nicht verlieren
wollen.
Der gekreuzigte Gott erinnert uns daran, dass jeder Schmerz auf
dieser Welt unsere eigener ist, ob wir wollen
oder nicht. Denn er zeigt: Jeder Schmerz ist der Schmerz unseres
Schöpfers, dessen Ebenbilder wir sind. Wir können ihn nur
verdrängen, indem wir die Leidenden wegschieben.
Aber indem wir die Gemeinschaft der Leiden aufkündigen,
schieben wir auch die Gemeinschaft der Freude weg, denn wir schieben
unseren Schöpfer weg. Wenn das Leid dieser
Welt nicht unser Leid ist, dann kann auch die Freude dieser Welt
nicht unsere sein. Dann sind es Leid und Freude anderer, über die
wir zwar reden können, die uns aber nicht selbst froh macht. Durch
die Abgrenzung, die wir zu anderen ziehen, kommt auch die Freude
nicht mehr zu uns durch. Weil wir „Ich bin´s, ich bin´s, ich bin´s!“
schreien, bleiben wir einsam vor der Tür des Lebens, das uns fremd
bleibt, obwohl es in uns wohnt, aber eben nicht als unser Leben, das
wir in der Einkaufstüte mit in unser selbstgebasteltes Weltbild
nehmen können, sondern als das Leben, das mit allem Leben dieser
Welt verbunden ist durch seinen Schöpfer.
Wer das Leid der Welt vergisst, dem bricht auch der Himmel weg.
Augen auf für das Kreuz! Augen auf für den Himmel! Wer
anklopft, dem wird aufgetan. Wir müssen ja nicht gleich „Geliebter“
schreien. Wie wär´s, ihn erst mal „Fremder“,
„Unerträglicher“, „Wunderbarer“, oder „Zweifelhafter“ zu nennen. Ich
bin sicher, er lässt sich auch gerne ansprechen mit „du, an den ich
nicht glaube“. Wer sich rühme, der rühme sich
des Herrn!
Vikar Michael Krauß (Hospitalkirche
Hof) |
Text:
26 Seht doch, liebe Brüder, auf eure
Berufung. Nicht viele Weise nach dem Fleisch, nicht viele Mächtige,
nicht viele Angesehene sind berufen.
27 Sondern was töricht ist vor der Welt, das hat Gott erwählt, damit
er die Weisen zuschanden mache; und was schwach ist vor der Welt,
das hat Gott erwählt, damit er zuschanden mache, was stark ist;
28 und das Geringe vor der Welt und das Verachtete hat Gott erwählt,
das, was nichts ist, damit er zunichte mache, was etwas ist,
29 damit sich kein Mensch vor Gott rühme.
30 Durch ihn aber seid ihr in Christus Jesus, der uns von Gott
gemacht ist zur Weisheit und zur Gerechtigkeit und zur Heiligung und
zur Erlösung,
31 damit, wie geschrieben steht (Jeremia 9,22-23): »Wer sich rühmt,
der rühme sich des Herrn!« |