"Lieber Paulus!
Heute mutest du uns einiges zu. Warum forderst du so seltsame Dinge von
uns? Diejenigen, die Frauen haben, sollen so
sein, als hätten sie keine. Sicher, lieber Paulus, die Ehe kann manchmal
anstrengend sein, und vielleicht kommt einem einmal der Satz über die
Lippen: Ach, hätte ich dich damals bloß nicht geheiratet! Aber ernst
meinen diesen Satz die Wenigsten. Denn die Ehe ist doch in erster Linie
etwas schönes. Es tut gut, einen Menschen zu haben, mit dem man durch
Dick und Dünn geht, dem man vertrauen kann, den man gern hat und liebt,
bei dem man sich geborgen weiß und zu Hause fühlt. Warum sollen wir uns
so verhalten, als hätten wir keine Partner oder Familien?
Diejenigen, die weinen und die sich freuen, sollen sein, als weinten und
freuten sie sich nicht, schreibst du weiter. Hast du etwas dagegen,
Paulus, dass wir unsere Gefühle zeigen? Gefühle sind doch wichtig. Sie
drücken aus, wie es uns geht, was uns beschäftigt. Wenn ein lieber
Mensch gestorben ist, dann muss ich nicht die Tränen zurückhalten und
Fassung wahren. Denn dadurch verdränge ich den Schmerz doch nur, aber
verarbeite ihn nicht. Und ich sehe die Kinder am Spielplatz: Die einen
spielen fangen und rennen umher, die anderen gönnen der Rutschbahn keine
Pause. Alle lachen sie und sind fröhlich. Und ihre Fröhlichkeit kann
anstecken. Sollten wir wirklich keine Emotionen zeigen?
Diejenigen, die kaufen, sollen sein, als behielten sie nicht. Ich habe
mir ein Auto gekauft, lieber Paulus, und das möchte ich schon etwas
behalten. Und ich kenne einen Manager. Er lebt davon, dass er kauft und
verkauft. In der Wirtschaft geht es um Erfolg und Umsatz, sonst bleibt
man auf der Strecke. Lieber Paulus, deine
Ratschläge muten uns seltsam an. Was meinst du genau? Was erwartest du
von uns?" Soweit mein Brief an Paulus, liebe
Gemeinde.
Gerne hätte ich ihm diesen Brief geschickt. Die Worte von Paulus haben
bestimmt in vielen von uns Widerstände geweckt. Wir können den Apostel
nicht mehr fragen, was es damit auf sich hat. Aber vielleicht müssen wir
den Apostel gar nicht fragen, vielleicht müssen wir den Text nur genau
lesen. Fordert uns Paulus wirklich auf, auf alles, was unsere Welt
ausmacht, zu verzichten, sich gleich einem Asketen von Beziehungen,
Sexualität, Emotionen, Geld und Gut, ja von der ganzen Welt zu lösen?
Wichtig zum rechten Verstehen des Briefabschnitts sind die beiden Sätze,
die diese Verhaltensregeln rahmen. Paulus schreibt: Die Zeit ist kurz.
Und: Das Wesen dieser Welt vergeht. Das Wesen dieser Welt vergeht:
Dieses Weltende ist für Paulus kein Weltuntergang, wie er uns in vielen
Kinofilmen vor Augen gemalt und durch einen Helden im letzten Augenblick
abgewendet wird. Dieses Weltende ist für Paulus eine Weltwende. Alle
Mächte und Gewalten, denen wir Menschen ausgeliefert sind, vergehen. Für
ihn zieht die neue Welt Gottes herauf. Das Kommen dieser neuen Welt ist
nicht etwas, das sich allein in der Zukunft ereignet, für Paulus in
„kurzer Zeit“. Das Kommen dieser neuen Welt hat für ihn und alle
Christen bereits begonnen. In Jesu Tod und Auferstehung ist sie schon
angebrochen. In Jesus hat Gott Schuld und Tod überwunden. Keine Mächte
und Gewalten sollen den Menschen mehr knechten, keine Schuld, kein Tod,
keine Krankheit, keine Not, keine anderen Menschen. Das ist die
unumstößliche Gewissheit, die allem, was Paulus sagt, zu Grunde liegt.
Das relativiert für ihn alle Dinge, die uns täglich umgeben und
beschäftigen.
Fordert uns Paulus nun wirklich auf, auf alles, was unsere Welt
ausmacht, zu verzichten? Nein, das tut er ganz bestimmt nicht. Er
schreibt ja nicht: Die weinen, die sollen nicht mehr weinen. Sondern:
Sie sollen sein, als weinten sie nicht. Er schreibt nicht: Wir sollen
nicht kaufen, sondern: Die kaufen, sollen sein, als behielten sie es
nicht. Es geht ihm um die rechte Einstellung zu den Dingen dieser Welt.
Ich möchte, dass ihr ohne Sorge seid (V32).
Paulus steht mitten im Leben. Er kann auch ganz andere Dinge sagen, als
die, die uns so weltverachtend erscheinen. So heißt es bei ihm: Wer eine
Jungfrau heiratet, der handelt gut (1.Kor 7,38a). Und er kann die enge
Verbundenheit und den gegenseitigen Respekt von Mann und Frau in der Ehe
betonen (1.Kor 7,1-5). Und an die Gemeinde in Rom schreibt er: Freut
euch mit den Fröhlichen, und weint mit den Weinenden (Röm 12,15). Er
warnt uns aber bei alledem: Lasst euch nicht bis aufs Letzte von den
Dingen dieser Welt bestimmen!
Manchmal, da merke ich selbst, wie mich die Dinge dieser Welt gefangen
nehmen, so dass ich mich nicht mehr wohl und nicht mehr frei fühle.
Der Manager, der kaufen und verkaufen muss, er lebt ständig mit
der Angst, dass ein Projekt scheitert, dass seine Arbeit keinen Erfolg
hat. Er kommt jeden Tag erst um Sieben oder Acht aus der Arbeit, sieht
seine Kinder und seine Familie kaum, weil er ja auch oft am Samstag in
die Firma muss. Sein Beruf macht ihm Spaß, aber oft leidet er auch
darunter. Kaufen und Verkaufen, aber so als behielte man nicht, so, dass
die Arbeit nicht die letzte mich bestimmende Wirklichkeit ist, so, dass
ich auch mal abschalten kann, einen Schritt zurücktrete und zur Ruhe
komme. Kaufen, als behielte man nicht. Eine gelassene Einstellung zur
Arbeit. Ja, Paulus, wird der Manager sagen, da ist schon was dran an
deinen Worten.
Ich muss auch an ein Spiel des Radiosenders Antenne Bayern denken.
Täglich um Zehn nach Sieben wird die Nummer eines Zehn-Euroscheins
bekanntgegeben. Wer diesen Schein besitzt, bekam zuletzt 100.000 Euro im
Tausch für diese Zehn. Dafür wird geworben mit dem Slogan: „Wann immer
sie einen 10-Euro-Schein in die Finger bekommen: Behalten sie ihn.
Machen sie den Tausch ihres Lebens.“. Man kann keine zehn Minuten mehr
Radio hören, ohne dass für das Spiel geworben wird. Da vergeht mir nicht
nur die Lust auf Radiohören – ich habe den Sender längst gewechselt -,
es ist vielmehr erschreckend, wie sehr die Menschen diesem „Tausch des
Lebens“ hinterherfiebern. Händler berichten, dass sie keine
Zehn-Euroscheine mehr in die Kassen bekommen, jeder macht Jagd darauf.
Schön, wenn’s klappt, und man die richtige Nummer hat. Aber: Ist dieses
Fiebern nach dem großen Geld, das einen Großteil von Bayern erfasst hat,
noch gut? Wer hat, soll sein, als behielte er nicht. Mich entlastet
dieser Satz. Er befreit mich davon, jedem Cent hinterherzulaufen, nur
auf den großen Tausch, den vermeintlichen Tausch des Lebens, dem
größtmöglichen finanziellen Gewinn aus zu sein.
Da ist die Frau, deren Ehemann gestorben ist, die jeden Tag die Trauer
überfällt, die, wenn sie alleine ist, fast immer Tränen in den Augen
hat. Die Trauer lähmt sie. Sie geht kaum mehr außer Haus, findet keine
Motivation mehr zum Kochen und Putzen, zum Fernsehschauen oder Rätsel
lösen, was früher ihre Lieblingsbeschäftigung war. Diese Frau sehnt sich
danach, aus der Trauer und dem Schmerz herauszukommen, wieder ins Leben
zu treten. Ja, Paulus, wie schön wäre es, zu weinen, als weinte ich
nicht. Wie schön wäre es, dahin zu kommen, dass ich mich nicht mehr von
der Trauer abhängig mache.
Ich will, dass ihr ohne Sorge seid, schreibt Paulus. Christen wissen mit
Paulus, dass Gottes neue Welt schon angebrochen ist. Deshalb lassen sie
sich schon von dieser neuen Wirklichkeit bestimmen. Deshalb können für
sie die Dinge dieser Welt ins zweite Glied zurückrücken, ihren
letztverbindlichen und endgültigen Charakter verlieren. Uns ist eine
innere Freiheit geschenkt, eine Gelassenheit. An Jesus Christus und sein
Kommen gebunden, lassen wir uns nicht total von der Welt vereinnahmen
und abhängig machen.
Doch geht das so einfach, dass wir uns nicht von unserer Lebenswelt bis
aufs Letzte bestimmen lassen, sondern dass wir uns von Gott her
bestimmen lassen und dass wir von den Bindungen, bei denen wir fühlen,
dass sie uns gefangen nehmen, frei werden?
Ich denke, es ist ein Prozess, bis wir dahinkommen, es geht nicht von
heute auf morgen. Wir müssen uns immer wieder neu Zugang zu dieser
anderen Wirklichkeit verschaffen, von der sich Paulus bis ins Letzte
bestimmen lässt. Indem wir innehalten, uns auf Gott, auf die Botschaft
von der Freiheit, vom Leben, von der Gnade, von der Liebe und
Verantwortung besinnen, indem wir das immer wieder tun, kommt es in uns
zu Veränderungen. Stück für Stück werden wir freier und gelassener.
Der Gottesdienst, heute am Sonntag, oder freitags der
Wochenschlussgottesdienst, ist ein solcher Ort,
in dem wir aus dem Alltag heraustreten, in dem wir Verbindung bekommen
zu der Wirklichkeit Gottes. Wir hören hier Gottes befreiende Botschaft.
Die Lieder und die Musik helfen uns, unsere Gedanken zu sortieren, zu
fragen, was uns wichtig ist. Im Segen bekommen wir Gottes Beistand und
Kraft für die neue Woche zugesprochen. Wir sind Schritt für Schritt
unterwegs, uns von der Liebe und vom Vertrauen auf Gott bestimmen zu
lassen.
Wir leben in der Welt, liebe Gemeinde. Wir haben Lebenspartner und
Familien, und dürfen sie haben. Wir dürfen lachen und weinen. Wir dürfen
kaufen und besitzen. Das alles schenkt uns Gott, es gehört zu unserem
Leben. Aber bei alledem gilt, was Luther gesagt hat: Woran du dein Herz
hängst, das ist dein Gott. Nur wenn wir uns nicht durch Besitz und
Besitzdenken gefangen nehmen lassen, sind wir wirklich frei. Dann denken
wir übrigens auch an die Not der Menschen ohne Besitz. Nur wenn wir uns
nicht von Trauer fesseln lassen, sind wir wirklich frei. Dann können wir
mitweinen, und wissen zugleich um Trost. Nur wenn wir nicht weltliche
Genüsse vergöttern, sind wir wirklich frei. Dann können wir mitlachen,
und wissen, dass sich auch der Himmel freut. Nur wenn wir unseren
Ehepartner nicht als Besitz ansehen, bleibt die Ehe lebendig, in der wir
uns täglich immer wieder neu füreinander entscheiden, uns auf gleicher
Augenhöhe begegnen, und uns vom anderen auch immer wieder überraschen
lassen.
Wenn unser Herz bei Gott ist, dann sind wir ein Stück unabhängiger von
den Dingen dieser Welt und gehen mit allem gelassener um. Diese Freiheit
öffnet uns die Augen für den anderen. Wir werden Teil der neuen
Wirklichkeit Gottes, die greifbar und sichtbar wird, wo Menschen Frieden
stiften, Versöhnung schaffen und Liebe leben. Ist unser Herz bei Gott,
so können wir mitlachen und mitweinen, und wissen doch, dass alles
einmal, Freud und Leid, Gelingen und Scheitern in der Hand Gottes
aufgehoben ist.
Vikar Jörg Mahler
(Hospitalkirche Hof)
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Text:
Paulus schreibt:
29 Das sage ich aber, liebe
Brüder: Die Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben,
sein, als hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht;
30 und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die kaufen,
als behielten sie es nicht;
31 und die diese Welt gebrauchen, als brauchten sie sie nicht. Denn
das Wesen dieser Welt vergeht. |