Liebe Leser,
es gibt Stellen in der Bibel, die kennt man
schon ewig und doch wird einem irgendwann schmerzlich bewusst, dass
man sie eigentlich nicht wirklich verstanden hat. Unser heutiger
Predigttext gehört dazu. Das „Hohelied der Liebe im Neuen Testament“
hat man diesen Abschnitt genannt. Immer wieder werden Verse daraus
als Trauspruch gewünscht. Das gibt dann leicht Gelegenheit, sich in
Sentimentalitäten zu ergehen, wozu wohl auch das Kokettieren mit den
bekannten menschlichen Schwächen gehört. Damit sie nicht so ins
Kraut schießen, wird dann „mit Gottes Hilfe“ gesagt. Das war’s. Und
wenn sich dann früher oder später herausstellt, dass die Liebe
zwischen zwei Menschen doch nicht alles ertragen, glauben, hoffen
und dulden kann, dann sind wir uns nicht zu schade, dem lieben Gott
die Schuld zu geben, weil er so Unmögliches von uns verlangt und uns
dann offenbar im Stich lässt.
Erschwerend kann hinzukommen, dass man gerade „Die Krankheit zum
Tode“ von Sören Kierkegaard gelesen hat, der ein bissiger Kritiker
der Kirche seiner Zeit war und die Diagnose stellt: „Das Unglück
besteht nicht darin, dass das Christliche nicht gesagt, sondern dass
es in einer Weise gesagt wird, dass sich die Menge der Menschen am
Ende gar nichts mehr dabei denkt.“ (Sören Kierkegaard, Die Krankheit
zum Tode, Saga Klassikerreihe, E-Book, Position 1574). Das
Christliche ärgert niemanden mehr, es ist zum Allgemeinplatz
geworden und die Kirche zur Gemeinplatzbewacherin. Das findet
eigentlich niemand mehr besonders spannend.
Nun weiß freilich auch der Volksmund, dass die Liebe eine
Himmelsmacht ist. Dass sie nicht etwas ist, was der Mensch aus gutem
Herzen und edler Gesinnung entwickelt, sondern etwas, das ihn
überfällt. Sie ist kein Werk des Menschen, sondern bemächtig sich
seiner. Sie ist Einschlag aus heiterem Himmel, Impact. Sie ist kein
Akt des Willens. Sie kann nicht gemacht werden, und doch will der,
den sie trifft, hinterher gar nichts mehr anderes. Sie hält die
Vernunft für beschränkt, sie pfeift auf alle Bedenken, sie lacht
sogar dem Tod ins Gesicht (Hoheslied 8/6). In ihr findet das Ich
sich nicht wieder, weil sie bewirkt, dass das Selbst sich verliert.
Sie lässt sich nicht kontrollieren. Sie lenkt deinen Lauf. Sie ist,
was sie ist. Die Liebe kann gut machen, böse machen, traurig und
froh machen. Es gibt sie nicht light. Sie schießt in den Himmel und
stürzt in den Abgrund. Unter den unzähligen Erzählungen des
menschlichen Daseins, schreibt sie dir deine Tragödie und deine
Komödie auf den Leib!
So wie Martin Walser in seinem Roman „Ein liebender Mann“ (rowohlt
Digitalbuch, 2009) sie dem schon über 70-jährigen Goethe auf den
Leib schreibt, der sich noch einmal verliebt und sich am Ende gar
nicht mehr anders zu helfen weiß, als ebenso verzweifelt, wie
umsonst, die Lieblosigkeit zu suchen: „Eine Leichtigkeit, die er
noch nicht empfunden hatte. Die hieß Lieblosigkeit. Ja. Nie gekannt.
Nie erlebt. Aber anders konnte er dieses Gefühl nicht buchstabieren.
Er war frei. (…) Die Kreatur ist erlöst. Was Moses, vom Aufstieg auf
den Gesetzgebungsberg erschöpft, überhört hatte, das allererste
Gebot, (…) er, auf seinem eigenen Sinai angekommen, erschöpft auch,
aber kein bisschen schwerhörig, hellhörig wie noch nie, hat das
Gebot gehört und begriffen: Du sollst nicht lieben. Er legte sich
ins Bett. Keine Gedanken mehr, gegen die er sich erfolglos hätte
wehren müssen. (…) Als er aufwachte, (…) wusste er, von wem er
geträumt hatte.“ (Position 2981)
Die absolute Freiheit, in der das Ich lieblos, freudlos, leblos,
schmerzlos sein eigener einsamer Gott und sein eigener Horizont ist,
ist – Gott sei Dank – keine himmlische Offenbarung, sondern wohl
eher der Alptraum des modernen Individualisten. Schon der Jubel
jeder menschlichen Liebe, der - nach Rilke - unwiderruflich ist,
widerspricht ihm. Denn, so schreibt es auch der Apostel Paulus: Ohne
die Liebe ist alles – nichts!
Und gerade darin kommen sich menschliche und göttliche Liebe näher,
als wir denken. Hat Meister Eckhart nicht gepredigt, dass Gott die
menschliche Liebe manchmal benutzt, wie der Angler den Wurm, um uns
zu sich zu ziehen? Hüpft Gott selbst nicht vor Ungeduld von einem
Fuß auf den anderen, bis der Mensch ihm endlich den Platz im Herzen
freiräumt, damit er in der Seele des geliebten Menschen endlich
geboren werden und wohnen kann? Ist es nicht Gottes Liebe, die ihn
dazu treibt, im Christus unser Menschsein anzunehmen? Und kann –
nein – muss die Geschichte des Christus nicht so verstanden werden:
Die Liebe Gottes schreibt ihm sein Leben und auch sein Leiden auf
den Leib.
Ich sehe Paulus nicken. Er hätte in seinem Hohelied, für das Wort
Liebe auch jedes Mal „Christus“ schreiben können. Das wäre
vielleicht sogar besser gewesen, damit wir uns dieser wunderbaren
Sätze nicht trostlos bemächtigen, ohne an ihn zu denken. Denn das
hätte ja nichts anderes zur Folge, als das wir an diesen Sätzen
verzweifeln müssten. Aber so kann das stehen bleiben: Der Christus
erträgt alles, er glaubt alles, er hofft alles, er duldet alles.
Sein Leiden und Sterben, an das wir in den kommenden Wochen der
Passionszeit denken, ist ja keine Verklärung des Leids und schon gar
kein Ausweis eines strafenden Gottes. Das Kreuz ist unüberbietbares
Zeichen der Liebe Gottes. „Niemand hat größere Liebe, als die, dass
er sein Leben lässt für seine Freunde.“ (Johannes 15/13) So sagt es
Jesus im Johannesevangelium. Am Kruzifix hängt ein von Gottes Liebe
Gezeichneter.
Das mag die Welt für eine Tragödie halten oder sogar für eine
Komödie. Der Spaß hört auf, wenn Paulus uns zu verstehen gibt, dass
alles und jeder, der nicht von dieser Liebe gezeichnet ist, nutzlos
und hohl, ja, ein dröhnendes Nichts ist.
Kierkegaard hat das gesehen. Nicht irgendwo, sondern in seiner
eigenen Kirche. Er schreibt: „Es ist unendlich komisch, dass jemand
fähig ist, die ganze Wahrheit zu verstehen - wie erbärmlich und
kleinlich die Welt ist usw. -, dass er fähig ist, dies zu verstehen,
und dann nicht wieder erkennen kann, was er verstanden hat; denn
fast im gleichen Augenblick unternimmt er es selbst, sich an
derselben Kleinlichkeit und Erbärmlichkeit zu beteiligen, lässt sie
sich zur Ehre gereichen und lässt sich von ihr ehren, das heißt, er
erkennt sie an.
Oh, wenn man jemanden sieht, der versichert, er habe vollkommen
verstanden, wie Christus in der Gestalt eines geringen Dieners
herumgelaufen sei, arm, verachtet, verspottet, wie die Schrift sagt:
verspeiet - wenn ich dann denselben so fürsorglich seine Zuflucht
dorthin nehmen sehe, wo es weltlich gut sein ist, um sich dort auf
das Sicherste einzurichten, wenn ich sehe, wie er so ängstlich, als
ob es das Leben gelte, vor jedem ungünstigen Windhauch von rechts
oder links flieht, wie er so glückselig ist, so höchstglückselig, so
kreuzfidel - ja, um es komplett zu machen, so kreuzfidel, dass er
sogar Gott gerührt dafür dankt -, weil er unbedingt von allen, allen
geehrt und angesehen ist: Da habe ich oft zu mir selbst und bei mir
selbst gesagt: ‚Sokrates, Sokrates, Sokrates, sollte es möglich
sein, dass dieser Mensch verstanden hat, was er verstanden zu haben
behauptet?‘“ (Kierkegaard, aaO., Position 1376)
Was für eine Komödie, die doch eigentlich eine Tragödie ist. Kirche,
die Leib Christi sein soll, aber der die Liebe Gottes gar nichts
mehr auf den Leib schreiben kann. Eine solche Kirche führt im Namen
Gottes in die Irre. Sie predigt die Liebe Gottes und führt selbst
ein Leben wie ein Alptraum: lieblos, freudlos, leblos, schmerzlos.
Und merkt es noch nicht einmal! Kierkegaard würde sagen: Daran
erkennt man ihre ganze Verzweiflung, weil sie sich selbst sichern
will und nicht einfach das sein will, was die Liebe Gottes aus ihr
macht. Denn das allein wird bleiben!
Das Selbst, das sich durchsichtig gründet in jener Macht, die es
setzte, das ist für Kierkegaard die Definition von Glauben (aaO.
Position 2065). Und auch Paulus gibt allen, die in ihrem Leben auf
der Suche nach sich selbst sind, etwas Entsprechendes auf den Weg.
Wer wir in Wahrheit sind, werden wir in diesem Leben wohl nicht
wirklich scharf und eindeutig zu Gesicht bekommen. Da können wir uns
kindlich so lange in den Spiegel, oder als Erwachsene so lange in
die Seele schauen, wie wir wollen. Dunkles Bild, schreibt Paulus.
Unser wahres Bild und das, was wir in Wahrheit sind, liegt im Auge
dessen, der uns liebt – und das ist Gott selbst. Aber das wissen
alle, die wahrhaft lieben, schon lange.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Paulus schreibt:
1 Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen
redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder
eine klingende Schelle.
2 Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse
und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge
versetzen könnte, und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nichts.
3 Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und ließe meinen Leib
verbrennen und hätte die Liebe nicht, so wäre mir's nichts nütze.
4 Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht,
die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf,
5 sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie
lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu,
6 sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber
an der Wahrheit;
7 sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet
alles.
8 Die Liebe hört niemals auf, wo doch das prophetische Reden
aufhören wird und das Zungenreden aufhören wird und die Erkenntnis
aufhören wird.
9 Denn unser Wissen ist Stückwerk und unser prophetisches Reden ist
Stückwerk.
10 Wenn aber kommen wird das Vollkommene, so wird das Stückwerk
aufhören.
11 Als ich ein Kind war, da redete ich wie ein Kind und dachte wie
ein Kind und war klug wie ein Kind; als ich aber ein Mann wurde, tat
ich ab, was kindlich war.
12 Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber
von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber
werde ich erkennen, wie ich erkannt bin.
13 Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die
Liebe ist die größte unter ihnen.
|