Liebe Leser,
Paulus hatte die ganze Nacht nicht geschlafen. Oder doch? Er wusste es
nicht mehr genau, als er sich im Morgengrauen wieder an seinen
Schreibtisch quälte. Vielleicht hatte er bloß geträumt, nicht geschlafen
zu haben, denn er meinte in sich noch den Nachhall böser Träume zu spüren.
Er trank ein Glas Wasser bevor er sich setzte und die Stelle in den Blick
nahm, die er gestern Nacht geschrieben hatte. Der Brief an die Leute in
Korinth musste fertig werden. Er war schon recht umfangreich geworden, in
jeder Hinsicht. Ein bisschen viel Moral vielleicht in den ersten Kapiteln.
Aber konnte er schweigen zu all den kleinlichen Streitereien und zu all
dem anderen Mist, den die Korinther so bauten? Manchmal haben die
Verhältnisse unter Superchristen mehr mit Sodom und Gomorra zu tun, als
mit dem Himmelreich. Und da hilft auch all das ekstatische Geplapper in
anderen Sprachen nicht weiter. Spiritualität ist doch keine Entschuldigung
für alles, ihr lieben Schwestern und Brüder. Eine himmlische Offenbarung
macht aus einem Würstchen nicht automatisch einen Riesen, sondern oft
genug nur ein größenwahnsinniges Würstchen; im günstigsten Fall ein
harmloses; im ungünstigen Fall noch was Schlimmeres.
Aber so hat er das natürlich nicht schreiben können. Er erinnerte sich
noch, wie lange er durchs Zimmer gewandert war, bevor ihm in einer viertel
Stunde das Kapitel über die Liebe aus der Feder floss (1.Korinther 13).
Werdet Riesen in der Liebe. Denn das ist das höchste Geschenk Gottes, der
ein Riese in der Liebe ist. Ja, er hatte es mit Tränen in den Augen
geschrieben und mit einem Kloß im Hals. Fast hätte das Papier beim
Schreiben Feuer gefangen. Und als er hinterher zufällig am Spiegel vorbei
kam, erkannte er sich erst gar nicht wieder. Aber es war sein Gesicht, in
das das Leben Furchen gegraben hatte. Und auch der Hass hatte einmal
mitgegraben. Der Hass auf diesen Jesus von Nazareth und seine verrückten
Anhänger. Und diese Furchen gehen auch mit einem schiefen Lächeln nicht
weg, Missgeburt!
Aber jetzt stand das Kapitel auf dem Papier und er las es staunend noch
einmal und noch einmal, während draußen die Zeitung kam und die ersten in
ihre Autos sprangen und sich an diesem grauen Nieselregenmorgen auf den
Weg zur Arbeit machten. Im Fenster des Nachbarhauses flackerte das blaue
Licht eines Bildschirms auf und brachte die neusten Nachrichten aus
Bagdad.
Man sah, dass der Kameramann keine ruhige Hand hatte. Hinter hin und her
hüpfenden Häusern stieg eine Rauchwolke auf. Wahrscheinlich keine
Überlebenden. Eine johlende Menge zog verstümmelte und verbrannte Leichen
durch die Straße und dann jährte sich zum zehnten Mal das Massaker von
Ruanda. Innerhalb kürzester Zeit wurde eine Million Menschen massakriert
und die Welt schaute zu, weil Ruanda zu unwichtig, zu arm und zu schwarz
war. Man sah eine Decke, aus der Kinderbeinchen und Kinderärmchen
herausschauten, bevor der Bulldozer sie unter die Erde pflügte. Es gab
keine neuen Nachrichten von dieser Welt und auch die Kreuzigung Jesu
gehörte nicht dazu und hätte man sie noch so kunstvoll fürs Kino
inszeniert. Hätte ein solcher Film mehr oder anderes gesagt über die
Unmenschlichkeit des Menschen als all die anderen Bilder? Hätte er eine
andere Botschaft gebracht, als die von der Missgeburt Mensch? Nein, der
gequälte Christus und die zerpflügten Kinderärmchen bringen keine
Botschaft der Liebe. Sie schreien danach! Aber wahrscheinlich gab es keine
Überlebenden. Das ist die erste und letzte Nachricht dieses verdammten
Universums.
Sie ist falsch, schoss es Paulus durch den Kopf. Diese Nachricht ist eine
Ente. Und in seinem Kopf war auf einmal wieder dieses helle Licht, als
würde er direkt in die Sonne schauen. Die Welt verschwand und er hörte die
Stimme, die seinen Namen rief. Damaskus war überall und nirgends. Da war
nur die Stimme, die er noch nie gehört hatte und die er doch sofort wieder
erkannte. Es war die Stimme des gekreuzigten Jesus von Nazareth, in der
sich alle Schreie nach Frieden, nach Liebe, nach Freiheit, nach
Gerechtigkeit eingegraben hatten. Sie war erhört worden. Diese Stimme war
die Stimme des Christus. Diese Stimme war der Grund und Anfang von allem.
„Und als sie das sagte, wandte sie sich um und sieht Jesus stehen und weiß
nicht, dass es Jesus ist. Spricht Jesus zu ihr: Frau, was weinst du? Wen
suchst du? Sie meint, es sei der Gärtner, und spricht zu ihm: Herr, hast
du ihn weggetragen, so sage mir, wo du ihn hingelegt hast; dann will ich
ihn holen. Spricht Jesus zu ihr: Maria! Da wandte sie sich um …“ (Johannes
20/14ff).
Paulus lächelte bei dem Gedanken, dass er nicht der einzige war, der aus
dem Munde des Auferstandenen seinen Namen gehört hatte. Petrus, den man
den Felsen nannte, gehörte dazu und Thomas und Johannes und wie die
anderen alle hießen. Paulus kannte ihre Namen nicht, aber der
Auferstandene kannte sie, kannte sie alle. Und ihr Namen kam aus seinem
Mund und riss ihre traurige Todeswelt in Stücke und wandte sie um. So wie
sein Leben seit Damaskus von oben nach unten gewendet war. Die erste und
letzte Nachricht über dieses verdammte Universum war eine Lüge. Die letzte
Nachricht war nicht der Tod. Er ist auferstanden. Er ist wahrhaftig
auferstanden. Am Ende steht der Anfang von allem.
Paulus hatte seinen Stift schon zur Hand. Das musste er schreiben. Es war
die Begründung für alles, was er vorher geschrieben hatte. Nicht der gute
Wille, nicht die Moral, nicht das Gute im Menschen war der Grund seiner
Ermahnungen. Und was wäre sein hohes Lied auf die Liebe wohl wert?
Weinseliges Sentiment, sehnsüchtiger Weltschmerz! Nein! Es war in Kraft.
In der Kraft Gottes, der den Punkt, den der Tod hinter das Leben des Jesus
von Nazareth gesetzt hatte, auswischte und an seine Stelle Anfang und
Leben setzte. In Ewigkeit. Amen.
Die letzten drei Worte strich er nach einem tiefen Atemzug wieder aus. Er
konnte nicht die Korinther ermahnen und dann zulassen, dass der Heilige
Geist mit ihm durchging oder er mit dem Heiligen Geist. Die Ewigkeit
konnte noch ein Weilchen warten. „Nach der Schrift“ fügte er ein, weil er
fand, dass Gott nie etwas anderes gesagt und vorgehabt hatte, und weil in
zweitausend Jahren kaum einer seinen Brief, aber vielleicht die Schrift
lesen könnte. Und der hatte er nichts hinzuzufügen. Nichts anderes hatte
er gepredigt. Und nichts als Gnade war es immer gewesen, wenn andere dann
selbst hören konnten, dass der Auferstandene sie beim Namen rief und sie
sich umwandten und ihre alte Welt in Stücke ging und sie anfingen zu
leben.
Anfingen zu leben, trotz der Narben und Wunden vom Fallen und Scheitern,
trotz der Hassfurchen in ihrem Gesicht, anfingen, trotzdem den Kindern ihr Lächeln
zu schenken und von der Zukunft etwas
Gutes zu hoffen. Ist doch auch
der auferstandene
Christus nicht ohne seine Wundmale an Händen und Füßen zu haben!
Diener des Todes nehmt euch in acht! Gott hob seinen Schmerz und sein
Sterben in ein noch stärkeres Leben. Das ist der Grund und Anfang von
allem.
Mein Gott, denkt Paulus, mein Gott ist ein Riese der Liebe. Und in diesem
Moment hört er den Lärm der Straße nicht mehr und das Knattern der
Maschinengewehre aus den blau flackernden Bildschirmen. Seine Augen
gehören der Blüte auf der Fensterbank. Wie sie sich auftut, einen langen
Augenblick - Ewigkeit.
Pfarrer Johannes Taig (Hospitalkirche
Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Paulus schreibt:
Ich erinnere euch aber, liebe Brüder, an das Evangelium, das ich euch
verkündigt habe, das ihr auch angenommen habt, in dem ihr auch fest steht,
(2)durch das ihr auch selig werdet, wenn ihr's festhaltet in der Gestalt,
in der ich es euch verkündigt habe; es sei denn, dass ihr umsonst gläubig
geworden wärt.
(3)Denn als erstes habe ich euch weitergegeben, was ich auch empfangen
habe: Dass Christus gestorben ist für unsre Sünden nach der Schrift;
(4)und dass er begraben worden ist; und dass er auferstanden ist am
dritten Tage nach der Schrift;
(5)und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen.
(6)Danach ist er gesehen worden von mehr als fünfhundert Brüdern auf
einmal, von denen die meisten noch heute leben, einige aber sind
entschlafen.
(7)Danach ist er gesehen worden von Jakobus, danach von allen Aposteln.
(8)Zuletzt von allen ist er auch von mir als einer unzeitigen Geburt
gesehen worden.
(9)Denn ich bin der geringste unter den Aposteln, der ich nicht wert bin,
dass ich ein Apostel heiße, weil ich die Gemeinde Gottes verfolgt habe.
(10)Aber durch Gottes Gnade bin ich, was ich bin. Und seine Gnade an mir
ist nicht vergeblich gewesen, sondern ich habe viel mehr gearbeitet als
sie alle; nicht aber ich, sondern Gottes Gnade, die mit mir ist.
(11)Es sei nun ich oder jene: so predigen wir, und so habt ihr geglaubt. |