Predigt     1. Korinther 15/19-28     Ostersonntag    20.04.2014

"Gott alles in allem"
(von Pfarrer Rudolf Koller, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

Zur Nacht hat ein Sturm alle Bäume entlaubt.
Sieh' sie an, die knöchernen Besen.
Ein Narr, wer bei diesem Anblick glaubt,
Es wäre je Sommer gewesen.
Und ein größerer Narr, wer träumt und sinnt,
Es könnt je wieder Sommer werden.

Es hatte ihn regelrecht aus dem Sattel gehauen, damals, vor Damaskus, als ihm der auferstandene Christus erschienen war. Die Herrlichkeit seines Lichts hatte seine Augen noch auf Tage hinaus geblendet. Noch grundstürzender aber war das Licht, das ihm aufgegangen war - in seinem Herzen, in seinem Verstand und in seinem Gemüt! Hatte er doch Gottes Herrlichkeit geschaut im Angesicht Jesu Christi, des Gekreuzigten!

Die Herrlichkeit Gottes, die nach jüdischem Glauben erst am „Tag Jahwes“, dem Tag des Endgerichts, offenbar wird, denen, die durch das Gericht hindurchgegangen sind - diese Herrlichkeit zeigte sich ihm, der „Missgeburt“ wie er sich später selber nennen wird; zeigte sich ihm als unbegrenzte Siegesgewalt; als gewaltiger Durchbruch „von oben her“ in diese unsere Welt, zeigte sich als himmlischer Einbruch in den irdischen Machtbereich des Todes.

Dass der allmächtige Gott, der Schöpfer Himmels und der Erden, den „Jüngsten Tag“ in der Auferstehung Jesu Christi, des Gekreuzigten, vorweggenommen hat; dass in ihm Alpha und Omega, Anfang und Ende jetzt schon zusammengefallen sind - diesem göttlichen Geheimnis sollte der Apostel bis ans Ende seiner Tage nachsinnen, nachdenken, ihm nachspüren. Und je mehr er das tat, je mehr er auch verstand von den Worten des Christus „für dich gegeben“, „für dich vergossen zur Vergebung der Sünden“, je mehr er verstand, dass also „die Strafe auf ihm“ lag, dass er „unsere Krankheit und unsere Schmerzen trug“, und dass er „um unserer Sünde willen zerschlagen“ wurde, „auf dass wir Frieden hätten“ und „durch seine Wunden“ geheilt sind (Jesaja 53), desto mehr und desto klarer wurde er zu einem Prediger dieser göttlichen Gnadenwahrheit und zu einem Apostel der Liebe! Das ist es auch, was ihn antreibt, als er den Christen in Korinth schreibt. In unserem Predigtabschnitt gibt er Gott nun seinen österlichen Titel: Gott alles in allem!

Gott alles in allem - das ist nicht einfach zu denken. Und der Apostel korrigiert in seinem Gedankengang auch gleich gefährliche Missverständnisse: als wäre die Auferstehung Jesu Christi ein Event, das uns zu eigener geistlicher Auferstehung ermutigen und zu persönlicher religiöser Begeisterung anleiten will. Solchen Versuchen religiöser Selbstüberhebung setzt Paulus die Auferstehung Jesu Christi als kosmisches Geschehen entgegen - als eine Wirklichkeit, die mit Christus gesetzt wurde und in die wir Menschen allesamt mit hinein bezogen sind.

Für dieses kosmische Geschehen, für diese Weltenwende nimmt Paulus mythologische Vorstellungen zu Hilfe, wenn er Adam und Christus gegenüberstellt: „wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden.“ Und nur darum geht es! Um Leben und Tod geht es! Wenn diese Rede überhaupt eine Berechtigung hat, dann hier: Hier geht es wirklich um Alles! Ums Ganze! Und da ist Christus der „Erstling“ - ein Bild das jedem jüdischen Leser sofort an den uralten Brauch der Erstlingsgabe erinnerte: Denn mit der Darbietung der ersten Feldfrüchte im Tempel segnete Gott die ganze Ernte! So kommt auch das Opfer seines Lebens, das der Christus seinem himmlischen Vater dargebracht hat, allen zugute, „die Christus angehören“ (V. 23).

„Du gehörst Christus, dem Gekreuzigten!“ - Diese Worte wurden über einen jeden von uns bei der Taufe ausgesprochen, das Kreuzzeichen auf die Stirn gemalt und im Taufwasser wirkmächtig besiegelt. Ja, wir gehören dazu, wenn Gott sein wird alles in allem! Aber noch ist es nicht soweit! Die Auferstehung aller von den Toten steht noch aus. Noch gehen unsere Füße auf der Erde, von der wir gemacht sind und zu der wir wieder werden. Noch springt uns die Macht des Todes und seiner vielen Spielarten an wie ein wildes Tier.

Er ist vor ein paar Wochen 80 Jahre alt geworden. Bei meinem Besuch wird mir deutlich, wie sehr das, was wir heute Demenz nennen, in ein Leben eingreift. Der Sinnzusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und erwarteter Zukunft geht verloren. Ich sehe, wie der Schwund des Gedächtnisses, der ihm bewusst ist, immer wieder Tränen in seine Augen treibt, auch beim gemeinsamen Beten, wo wir unser Leben in Gottes Hand legen.

Er ist wirklich „der letzte Feind, der besiegt wird“. Noch richtet sich unser Blick immer wieder auf Leid und Schmerz, auf Not und Ungerechtigkeit, auf Schuld und auf Tod. Und der Apostel ruft uns zu: Recht so! Denn dort sollt ihr Zeugen sein der frohen Botschaft! Denn wer am Auferstandenen hier schon Anteil haben will, der soll sich an den Gekreuzigten halten: an sein Suchen des Verlorenen, an sein Heilen des Verwundeten und Kranken, an seinen Protest gegen Ausgrenzung und Machtmissbrauch, an seine Leidenschaft für das Leben, das Gott für den Menschen bestimmt hat. Denn dieser Leidenschaft für das Leben hat Gott an Ostern ein für allemal Recht gegeben!

Dieser Tage kommt mir das Dokument „Der Weg nach Damaskus“ (EMW-Informationen 84/1989) in die Hände, verfasst von verschiedenen Kirchen der Dritten Welt. Ich lese: „Heute sind die meisten Länder der Dritten Welt nicht mehr Kolonien, werden aber immer noch beherrscht. Das dichte Netz der wirtschaftlichen Beherrschung besteht aus ungerechten internationalen Handelsbedingungen, multinationalen Firmen, die wichtige Bereiche unserer Wirtschaft beherrschen, und einer Wirtschaftspolitik, die von ausländischen Banken und Regierungen in Gemeinschaft mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank diktiert wird. (…) Die schwindelerregende Höhe der Schulden der Dritten Welt ist nur ein dramatisches Zeichen für unsere Beherrschung (...) Was (das) in der Dritten Welt bewirkt, ist eine Litanei der Wehklagen: Unsere Kinder sterben an Unterernährung und Krankheiten, es gibt keine Arbeitsplätze für die, die Arbeit suchen, Familien brechen auseinander, weil Arbeit im Ausland gesucht wird, Bauern und einheimische Gemeinschaften werden von ihrem Land vertrieben, die meisten Stadtbewohner müssen in gesundheitsgefährdenden Slums leben, viele Frauen müssen mit ihrem Körper Geld verdienen, zu viele sterben, ohne dass sie ein Leben gehabt hätten, das eines Menschen würdig ist. Wir leiden auch darunter, dass unsere natürlichen Ressourcen ausgeplündert und wir dann auch noch dafür verantwortlich gemacht werden. (...) Für die Bevölkerung der Dritten Welt ist es ein totaler Krieg.“

Diese Beschreibung der Lebenswirklichkeit von Millionen von Menschen in zig Ländern redet von „heute“, ist aber schon 25 Jahre alt! Ja, der Christus wird dereinst „alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt“ vernichten. Aber dieser tröstliche Hinweis bekommt einen zynischen Unterton, wenn wir nicht selbst alles dazu beitragen, dass „Gerechtigkeit und Friede sich küssen“, wie es im 85. Psalm heißt. So sehr wir durch die Auferstehung Jesu Christi Heimat bei Gott finden, so wenig will Gott, dass wir seiner Erde und ihrer Geschöpfe untreu werden - ist sie doch sein herrliches Schöpfungswerk!

An Ostern feiern wir den Sieg des Lebens über den Tod. Wir singen die frohe Botschaft in unsere Herzen und hinaus in unsere Welt: Dass der Tag kommen wird, wo Gott sein wird alles in allem. Dass er dann selbst abwischen wird alle Tränen von unserem Angesicht. Und dass der Tod nicht mehr sein wird, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz. Feiernd nehmen wir diesen Sieg heute, aber eigentlich in jedem unserer Gottesdienste am Sonntag, dem Tag der Auferstehung des Herrn, vorweg. Betend bergen wir uns in dem lebendigen Christus. Durch ihn lassen wir uns von dem Wahn befreien, als müssten wir unsere Erlösung oder auch die Erlösung dieser Welt selbst besorgen. Wie die Osterkerzen leuchten, so strahlt vom Angesicht des Gekreuzigten ein heller Schein in unsere Herzen (2. Kor. 4/6) - das Licht seiner Herrlichkeit, das uns immer wieder zu einer Leidenschaft für das Leben ermutigt - trotz allem, was dieses Leben so schwer macht. Und für alle, denen wir zum Christus werden sollen.

Paulus hat für solches Sehen des Unsichtbaren im Lebensvollzug eine eigentümliche Sprache und paradoxe Redewendungen geprägt: „als Sterbende, und siehe, wir leben“, „betrübt und doch voller Freude“ (2. Kor. 6/9f.) Aber auch andere wissen davon zu reden. Deshalb zum Schluss noch einmal das Eingangsgedicht, jetzt aber im vollständigen Wortlaut. Es stammt von Ernst Ginsberg, der im Alter an ALS erkrankte, sich nicht mehr bewegen und nicht mehr sprechen konnte, und der seiner Pflegerin noch mit Hilfe des Morsealphabets mit den Augenlidern folgendes Gedicht diktierte:

„Augenschein“

Zur Nacht hat ein Sturm alle Bäume entlaubt.
Sieh' sie an, die knöchernen Besen.
Ein Narr, wer bei diesem Anblick glaubt,
Es wäre je Sommer gewesen.
Und ein größerer Narr, wer träumt und sinnt,
Es könnt je wieder Sommer werden.
Und grad diese gläubige Narrheit, Kind,
Ist die sicherste Wahrheit auf Erden.
(Ernst Ginsberg, Abschied, Zürich 1965)

Pfarrer Rudolf Koller   (Hospitalkirche Hof)

Text:

Paulus schreibt:

19 Hoffen wir allein in diesem Leben auf Christus, so sind wir die elendesten unter allen Menschen.
20 Nun aber ist Christus auferstanden von den Toten als Erstling unter denen, die entschlafen sind.
21 Denn da durch einen Menschen der Tod gekommen ist, so kommt auch durch einen Menschen die Auferstehung der Toten.
22 Denn wie sie in Adam alle sterben, so werden sie in Christus alle lebendig gemacht werden.
23 Ein jeder aber in seiner Ordnung: als Erstling Christus; danach, wenn er kommen wird, die, die Christus angehören;
24 danach das Ende, wenn er das Reich Gott, dem Vater, übergeben wird, nachdem er alle Herrschaft und alle Macht und Gewalt vernichtet hat.
25 Denn er muss herrschen, bis Gott ihm »alle Feinde unter seine Füße legt« (Psalm 110,1).
26 Der letzte Feind, der vernichtet wird, ist der Tod.
27 Denn »alles hat er unter seine Füße getan« (Psalm 8,7). Wenn es aber heißt, alles sei ihm unterworfen, so ist offenbar, dass der ausgenommen ist, der ihm alles unterworfen hat.
28 Wenn aber alles ihm untertan sein wird, dann wird auch der Sohn selbst untertan sein dem, der ihm alles unterworfen hat, damit Gott sei alles in allem.
 


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