Predigt 1. Korinther 7/29-31 20. Sonntag nach Trinitatis 14.10.18
"Wem schlagen wir?" |
Liebe Leser, „Während die Spinne sieht, jedoch nicht weiß, wie sie ihr Netz webt, können (auch) wir kaum überblicken, was wir erweben, in welch unmäßiger Feinheit der Bezüge wir jagen und leben. Und ob nicht unser Gebild, das absolute Fragile, verwehter noch ist als die Luft selbst und ob es irgendwo auf- oder zwischenhängt und ob es Figur hat und wem, wem erkennbar? Mit jedem Augenaufschlag steigt die Unwissenheit, und das sonnenklare, erobernde Wissen steigt auf der Leiter der Unwissenheit empor, die sich um jede genommene Sprosse doppelt nach oben verjüngt. Wo ist das Herz, wenn der Organismus in ein Vielfaches an Kreis- und Netzläufen, von Komplexen, Systemen und Untersystemen, sich selbst organisierend, aufgelöst wird? Wissenschaft und Technik haben ihre kybernetischen Leitbilder bis in die feinsten Darstellungen von Blut und Nerv, Geist und Enzym getragen – aber das Herz, das Herz? Das Herz ist das Ganze. Wessen Herz dann? Sind wir eines anderen Mitte? Wem schlagen wir?“ (Botho Strauß, Fragmente der Undeutlichkeit, Hanser 1989, S. 47) Mit diesem Zitat des Schriftstellers Botho Strauß ist die Frage gestellt, ohne deren Beantwortung wir vor unserem heutigen Predigttext stehen bleiben müssten, wie der berühmte Ochs vor dem berühmten Berg. Wem schlagen wir? Uns selbst, sagen wir trotzig, auch wenn wir aus dem Mittelpunkt unseres Sonnenssystems vertrieben wurden durch Galileo Galilei, aus dem Mittelpunkt unserer Milchstraße und des Universums durch die Astronomie, aus dem Mittelpunkt unserer Psyche durch die Psychologie. Eine kleine sturmumtoste Insel in einem gewaltigen Ozean des Unbewussten, hat Carl Gustav Jung unser Bewusstsein genannt. Und die moderne Bewusstseinsforschung meint, das Ich sei erfunden worden, um uns eine Vorstellung vom Zustand unseres Organismus zu vermitteln. Der Unterschied zum Hund bestehe lediglich darin, dass wir Menschen uns heute noch daran erinnern können, wie es uns gestern ging. Wem schlagen wir? Vielleicht ist die Kette der Demütigungen, die wir durch unser Wissen über die Welt und uns in den letzten Jahrhunderten erlitten haben, der Grund dafür, dass wir uns allgemein mit solchen Fragen nicht gerne beschäftigen und uns an das halten, was wir um uns haben: Das Haus, den Beruf, das Geld, die Familie, das Vaterland. Nur Pflicht und Arbeit kanntest du, heißt es auf Traueranzeigen. Sie war immer für ihre Familie da. Kein böses Wort! Hier hat ein Herz geschlagen und reibungslos funktioniert für den Zweck, den es sich oder den andere ihm zugedacht hatten. Und wir klatschen Beifall. Paulus nicht. Paulus ist der Überzeugung, dass wir nicht uns selbst und auch nicht anderen schlagen, sondern Gott allein. Paulus ist der Überzeugung, dass wir nicht unser eigener Mittelpunkt und auch nicht der Mittelpunkt anderer sind, sondern dass unser Leben im Mittelpunkt der Liebe Gottes steht. Wem schlagen wir? Unserem Schöpfer allein! Und vielleicht ist es deshalb auch ER allein, der unser kleines Ich wahrnehmen und erkennen kann, als das, was es ist. Woran Du dein Herz hängst, das ist eigentlich Dein Gott, hat Martin Luther pointiert formuliert. Wenn unser Herz Gott schlägt und ihm gehört, hat das Konsequenzen. Der Glauben justiert das Koordinatensystem des Denkens und Handelns neu ein. Und davon spricht Paulus in unglaublichen Sätzen der Freiheit. Sätze unglaublicher Freiheit sind das, und nicht der Geringschätzung und Abwertung. Auch wenn die bürgerliche Moral eben das solchen Worten der Freiheit vorwirft. Hat in der Ehe nicht zu gelten: Du bist mein ein und alles? Feinsinnigerweise spricht Paulus hier die Männer an, die solches gerne von ihrer Liebsten hören. Und dann sagen: Dann mach, was ich Dir sage, wenn Du mich liebst! Welche zerstörende und unbarmherzige Macht können Besitzverhältnisse in einer Beziehung entwickeln! Kahlil Gibran lässt deshalb seinen Propheten zur Ehe sagen: „Lasst Raum zwischen euch. Liebt einander, aber macht die Liebe nicht zur Fessel: Lasst sie ein wogendes Meer zwischen den Ufern eurer Seelen sein. Singt und tanzt zusammen und seid fröhlich, aber lasst jeden von euch auch allein sein; so wie die Saiten der Laute allein sind und doch von derselben Musik erzittern. Gebt eure Herzen, aber nicht in des anderen Obhut. Denn nur Gottes Hand kann eure Herzen umfassen. Und steht zusammen, doch nicht zu nah: Denn die Säulen des Tempels stehen für sich und die Eiche und die Zypresse wachsen nicht im Schatten der anderen.“ (Gibran, Der Prophet, Walter 1994, S.16). Eine Frau haben, als besitze man keine! Dieser Satz macht Ernst mit der eigenen Freiheit und der Freiheit des anderen, der wie ich selbst nicht irgendjemandes Besitz ist. Denn nur Gottes Hand kann eure Herzen umfassen. Das ist das Geheimnis einer guten Beziehung, in der nicht einer von beiden untergeht und nach Jahrzehnten bis zur Unkenntlichkeit verheiratet ist. Nur so funktionieren wahre Beziehungen zwischen aufrecht bleibenden Menschen. Gebt eure Herzen, aber nicht in des anderen Obhut. Habt einander als Menschen, die Gott gehören. Und genauso buchstabiert Paulus das hinein in unser Selbstverhältnis und in unser Weltverhältnis. Habt die Welt als eine Welt, die Gott gehört. Habt Euch selbst als jemanden, der Gott gehört. Die Würde des Menschen, wie sie in unserem Grundgesetz in Artikel 1 festgeschrieben ist, hat darin ihren Ursprung und Grund. Würde hat der Mensch, weil er Gott gehört. Und deshalb ist diese Würde ihm selbst aber auch anderen entzogen. Wer sie verletzt bekommt es mit Gott zu tun. Und deshalb ist, darf und kann die Würde des Menschen nicht Gegenstand einer Kulturdebatte sein. Was war und ist das für eine Diskussion über die „Deutsche Leitkultur? Ja, was ist das eigentlich für eine Kultur, in die sich die integrieren sollen, die aus der Fremde zu uns kommen? Wer soll und kann uns diese Frage beantworten? Soll sie von denen beantwortet werden, deren kulturelles Wochenereignis der Musikantenstadel ist, während draußen eine Videokamera die Unversehrtheit der Gartenzwerge überwacht? Wie scheinheilig diskutieren hier oft Menschen, die sich am liebsten von amerikanischen Hamburgern, italienischer Pizza und türkischem Döner ernähren und ihre Bekannten zur Halloweenparty einladen? Wer kann so selbstvergessen solche Debatten für Dampfköpfe immer wieder vom Zaun brechen, als säßen wir 75 Jahre nach Auschwitz nicht länger in der historischen Ausnüchterungszelle. Als wäre in unserem Grundgesetz nicht längst alles gesagt, was in unserer Gesellschaft Wertekonsens ist und für alle, die in unserem Land leben, Wertekonsens zu sein hat und als gäbe es nicht auch genug Volksgenossen, die über diesen Wertekonsens dringend Nachhilfeunterricht bräuchten. Was uns das Unsere wirklich wert ist, das zeigt sich nicht an Stammtischparolen, sondern daran, was wir dafür tun. Die geringe Wahlbeteiligung bei politischen Wahlen und die noch geringere bei kirchlichen Wahlen, spricht eine deutliche Sprache. Wir bringen das Unsere in Gefahr durch unsere Gleichgültigkeit. Gleichgültigkeit ist die Sache des Paulus nicht. Haben, als hätte man nicht, das kann nur der, der auf sich selbst, auf den anderen und auf die Welt in ganz neuer Weise aufmerksam wird und deren Gottgehörigkeit entdeckt. Dass die Zeit kurz ist und das Wesen dieser Welt vergeht, ist dabei keine Binsenweisheit, sondern Einsicht in das Erlösungshandeln Gottes, der das Alte vergehen lässt und das Neue ins Leben ruft. Das Alte darf deshalb Gott überlassen werden. Nur seine Hand kann unsere Welt und unsere Herzen umfassen und heil machen. Wer sich an das Wesen dieser Welt klammert, wie an den letzten Horizont, steht Gott im Weg. Und manchmal auch sich selbst. Ist das nicht tröstlich, wenn unsere Tränen letztlich dem Gott gehören, der sie alle abwischen wird und unser Lachen hineinhallt in die Ewigkeit? Wenn Gott die Menschen, die wir lieben, hält und das, was wir sind und haben, zum Vorletzten wird? Da können wir dann schon fast unverschämt unbeschwert und fröhlich unsere Straße ziehen. Den letzten Ernst unseres Lebens in seine Hände legen und unsere Herzen ihm schlagen lassen.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) |
... zur Predigtseite der Hospitalkirche Text: Paulus schreibt: 29 Das sage ich aber, liebe Brüder: Die
Zeit ist kurz. Fortan sollen auch die, die Frauen haben, sein, als
hätten sie keine; und die weinen, als weinten sie nicht; |
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