Liebe Leser, Die ersten Geschichten
der Bibel, genauer gesagt: die Geschichten von der Erschaffung der
Welt, von Adam und Eva, Kain und Abel, von der Sintflut und dem
Turmbau zu Babel im 1.Mose 1-11 gehören für mich immer wieder zu den
spannendsten Geschichten der Bibel - einfach weil man mit ihnen
nicht an ein Ende kommt. Und das ist durchaus so gewollt - erzählen
sie doch Grundsätzliches und Wesentliches: über den Menschen, über
Gott und über unsere Welt, wie sie ist. Freilich, nicht nur die
großen Themen sind es, die diese Geschichten spannend machen. Es
sind auch die Einzelheiten! Und so möchte ich heute mit Ihnen einer
solchen Geschichte im Detail nachgehen. Es ist die Geschichte von
Kain und Abel:
Text (siehe rechte Spalte)
Und Adam erkannte seine Frau Eva - Der Mensch "erkennt" sein Weib
und sie gebiert den ersten Sohn. Es ist eine Keuschheit der Sprache,
die das hebräische Wort "jada" (erkennen) hier und anderwärts zur
Bezeichnung des geschlechtlichen Verkehrs einsetzt. Freilich dieses
Wort, das neben dem Erkennen im intellektuellen Sinn zugleich den
Begriff des Erfahrens, des Vertraut-Seins mit umschließt, war zu
solcher verhüllenden Redeweise besonders geeignet.
Kain, der Name des Erstgeborenen, bedeutet Lanze (2. Sam. 21,16) und
ist auch im Früharabischen als Personenname bezeugt. Dann wird dem
Kain ein Bruder geboren, der den Namen "häbäl" (Abel) erhält. Eine
Erklärung dieses Namens wird nicht gegeben; jedoch jeder, der ihn
hört, denkt an das andere hebräische Wort "häbäl" (Hauch,
Nichtigkeit) und nimmt diesen Klang als eine düstere Anspielung auf
das Folgende. Dieser Abel war ein Hirt, Kain aber ein Ackerbauer. So
beginnt also die so folgenschwere Aufspaltung der Menschheit in
einzelne Berufe mit ganz verschiedener Lebenshaltung. Wie tief diese
Aufspaltung ist, dass sie zu den beiden Altären führt und dass mit
ihr in Wirklichkeit ein Zerbrechen der Bruderschaft der Menschheit
Hand in Hand geht, das alles bleibt vorläufig noch verborgen.
Nun opfern die beiden. Die Heilige Schrift bewegt hier keinerlei
kultisches Interesse, so wird ziemlich beiläufig vom ersten Opfer
berichtet; man erfährt weder wie es dazu kam (auf Grund welcher
Einsetzung), noch was für eine Opfer-Art es war. Aber was sie
opfern, und dass jeder getrennt vom andern der Gottheit seine
Verehrung bekundet, soll der Leser aufmerksam hören und darin
beunruhigende Zeichen erkennen. Der Hirt opfert von seiner Herde,
der Bauer von dem Ertrag der Erde; scheinbar alles ganz naheliegend!
Und doch, die Verschiedenheit des Lebensstandes der beiden ist
nichts Äußerliches, sondern geht so tief, dass sie sich bis in die
Besonderheiten der religiösen Betätigungen hinein auswirkt. Der
Kultus gehört mit der Kultur aufs engste zusammen, und jede Kultur
lässt Kultus auf eigene Weise aus sich heraus entstehen. So kam es
zu der Mehrzahl von Altären! Und nun ist weiter gesagt, dass Gott
nicht auf beide Opfer, sondern nur auf das Opfer Abels sah.
Man hat eifrig nach einem Grund für diese Bevorzugung gesucht, aber
er liegt weder im Rituellen noch in der Gesinnung Kains. Es ist
nichts dergleichen angedeutet. Offenbar liegt dem Erzähler daran,
die Annahme des Opfers ganz in den freien Willen Gottes hinaus zu
verlegen. Er verzichtet darauf, die Entscheidung für Abel und gegen
Kain logisch verständlich zu machen - ganz nach dem Gotteswort in
2.Mose 33,19: „Ich erweise Gnade, wem ich gnädig bin, und erzeige
Barmherzigkeit, wessen ich mich erbarme“. Die Erzählung ist derart
knapp und drängt so ungestüm auf die Katastrophe zu, dass sie auch
dem notwendigen erklärenden Beiwerk keinen Raum gibt. So erfährt man
ja auch nicht, auf welche Weise denn Kain von diesem Urteil Gottes
Kenntnis bekommen habe.
Und was tut Kain? Wir sollten besser fragen: Was tut er nicht? Seine
Enttäuschung, sein Nichtverstehen, diese Warum-Frage und seine
Gekränktheit über die Bevorzugung des Abel - er schreit sie nicht
heraus! Er stellt Gott nicht zur Rede! Er klagt ihn nicht an, wie es
ein Hiob tat! Stattdessen senkt er den Blick und frisst es in sich
hinein, bis ihn schließlich der Hass auf seinen Bruder auffrisst!
Heißer Groll war in Kain aufgestiegen, der ihn bis ins Körperliche
hinein entstellt hatte. Er neidet dem Bruder das freundliche
Angesicht Gottes. Auf diese Veränderung seines Wesens und die Gefahr
dieser im Herzen gärenden Sünde redet ihn Gott warnend an. Es ist
eine väterliche Rede, die, ehe es zu spät ist, dem Bedrohten einen
Rückweg zeigen möchte. Man sieht, Kain war, wenn auch dieses sein
Opfer nicht angenommen wurde, damit nicht endgültig verworfen.
Besonders eindringlich ist der Appell an das Einverständnis bei
Kain: Ist's nicht also? Gott knüpft also noch an die bessere Regung
im menschlichen Herzen an: „Wenn du gut tust, ist Erhebung", d.h.
kannst du dein Angesicht frei aufheben. „Bist du aber nicht fromm,
so lauert die Sünde vor der Tür, und nach dir hat sie Verlangen; du
aber herrsche über sie.“
Der Weg von der inneren Regung zu der Tat ist nur ein ganz kurzer.
Aber der Satz redet nicht eigentlich von einer innerlichen Regung,
sondern er zeigt die Sünde als eine objektive Macht, die gleichsam
außerhalb und über dem Menschen steht, die gierig von ihm Besitz
ergreifen will; er aber soll sie beherrschen und niederhalten. Seine
Verantwortlichkeit der Sünde gegenüber ist also keineswegs
aufgehoben; im Gegenteil, ihm wird durch diesen letzten Imperativ
die ganze Verantwortung aufgebürdet: „du aber herrsche über sie!“
"Lass uns aufs Feld gehen!" Und nun kommt es zum ersten Mord - um
Gottes willen! Der Satz ist von lapidarer Kürze und Sachlichkeit;
aber damit hat die Heilige Schrift dem Grauenvollen den allein
angemessenen Ausdruck gegeben.
Wie in der Sündenfallgeschichte, so ist auch hier Gott sofort nach
der Tat zur Stelle. Aber die Frage Gottes an den Menschen lautet
jetzt nicht "Wo bist du, Adam?", sondern "Wo ist dein Bruder,
Kain?". Die Verantwortung vor Gott ist die Verantwortung für den
Bruder: Die Gottesfrage stellt sich jetzt als soziale Frage. Aber
Kain entledigt sich dieser schwersten Frage, die ihm zu einer
bekennenden Antwort gnadenhaft Raum bot, durch einen frechen Witz:
Soll ich den Hirten hüten? Er lügt Gott frech ins Angesicht, ist
also viel verhärteter als das erste Menschenpaar. Ein Verhör ist
nicht möglich, aber die Heilige Schrift wagt es, in dem Ausruf
"Was hast du getan!" Gottes Entsetzen über diese Tat aufs
menschlichste zum Ausdruck zu bringen.
Und dann erfährt Kain etwas, das er vorher nicht in Rechnung gezogen
hat: Die Leiche war wohl verscharrt worden, aber das Blut des
Gemordeten hat einen Klageschrei erhoben, und dieser Zeter-Ruf ist
sogleich vor Gottes Thron gekommen. Der hebräische Ausdruck
"schreien", "Geschrei" ist das, was das altdeutsche Recht unter dem
Zeter-Ruf versteht: der Appell an den Rechtsschutz! Blut und Leben
gehören nach alttestamentlicher Anschauung allein Gott; wo gemordet
wird, da greift der Mensch in Gottes eigenstes Besitzrecht ein.
Leben zu verderben, geht weit über die Zuständigkeit des Menschen
hinaus. Und vergossenes Blut lässt sich nicht zuschaufeln, es
schreit zum Himmel empor und erhebt sofort vor dem Herrn des Lebens
seine Klage.
Wunderbar ist in diesem Satz jenes dunkle Urgefühl des Schauders vor
vergossenem Blut verbunden mit dem reifsten Glauben an Gott als den
Beschützer und Wächter über allem Leben. Furchtbarer als die
Strafworte in Kapitel 3 ist Gottes Richterspruch über den
Brudermörder: Etwas nie wieder gut zu machendes, etwas das der
antike Mensch viel unheimlicher empfand, war geschehen: die Erde,
die mütterliche Lebensgrundlage des Menschen, hatte Bruderblut
getrunken. Hier setzt die Strafe ein: Kain wird von der Ackererde
verwiesen, die Erde selber soll ihm ihre Segenskraft vorenthalten.
Die Strafe geht über die gegen Adam und Eva verhängte weit hinaus.
Das Verhältnis des Brudermörders zur mütterlichen Scholle ist tiefer
gestört; ja es ist so zerrüttet, dass ihm die Erde heimatlos wird.
Was ihm noch bleibt, ist ein unstetes und flüchtiges Leben.
Wie in der Paradiesgeschichte, so zieht sich auch hier der Gedanke
an die Erde als das elementarste Fundament alles menschlichen
Daseins durch die Erzählung. Den Acker hat Kain bebaut, des Ackers
Früchte dargebracht, dem Acker Bruderblut zu trinken gegeben; aber
vom Acker her klagt das Blut ihn an, darum verweigert der Acker ihm
seine Frucht, so wird er vom Acker verbannt. Unter der Wucht dieses
Fluches bricht Kain zusammen, freilich nicht nur in Reue. Es ist ein
Aufschrei des Entsetzens über den Ausblick auf ein solches Leben der
Unrast und des friedlosen Gehetzt-Seins. Kain übersieht sofort: ein
Leben fern von Gott ist ein Leben, das Gott nicht mehr schützt. Hat
einmal Gott seine Hand von ihm abgezogen, so werden alle über ihn
herfallen.
Die Erzählung schließt aber überraschenderweise nicht mit diesem
Bild des gerichteten Brudermörders. Ja, es muss sogar gesagt werden,
dass sie jetzt erst auf ihr Wichtigstes zukommt: Das letzte Wort in
dieser Geschichte hat nicht Kain, sondern Gott, der nun das
verwirkte Leben Kains unter strengen Schutz stellt. Das Zeichen hat
Jahwe doch offenbar an Kains Körper angebracht; die Heilige Schrift
scheint hier an eine Tätowierung oder etwas Ähnliches zu denken.
Dieses Zeichen soll ihn aber nicht schänden, sondern ein Hinweis
sein auf jenes geheimnisvolle Schutzverhältnis, in dem Kain fortan
von Gott gehalten wird.
Der Abschluss der Geschichte, demzufolge Kain dann fortgezogen sei,
"weg vom Angesicht Gottes", verschärft vollends das Rätsel seiner
nunmehrigen Existenz: Um seines Mordes willen unter dem Fluch der
Gottesferne und doch unbegreiflicherweise bewacht und getragen von
Gottes Schutz. Auch dieses Leben gehört noch Gott und ist von ihm
nicht preisgegeben. Ein Land Nod ist uns geographisch nicht bekannt;
wichtiger ist, dass der Hebräer in dem Namen sein Wort nad
„flüchtig" (V. 12!) wiederfand. Es ist also das Land der
Ruhelosigkeit.
Finden wir das Rätsel unserer eigenen Existenz durch diese
Geschichte nicht auch zum Schwingen gebracht? Wer von uns kann
sagen, dass er im Herzen nicht schon einmal zum Kain geworden ist?
Wer hat sich nicht schon einmal im Leben benachteiligt gefühlt oder
gar ungeliebt vom Schicksal, von Gott? Wer hat nicht schon jene
Bitterkeit geschmeckt, die einfach kurzen Prozess machen will? Wer
hat sich nicht schon am Leben vergangen, so dass das Gewissen einem
keine Ruhe mehr lässt, ständig auf der Flucht?
Wir alle tragen das Kainsmal!
Wir alle sind Sünder, sagt auch der Apostel Paulus. Freilich, unser
Kainsmal ist das Kreuz! Das Kreuz Jesu Christi, das die Sünde
verurteilt. Das Kreuz Jesu Christi, das die Sünde aber auch trägt –
für uns! Und des Sünders Leben will.
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche Hof) |
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Text:
1 Und Adam erkannte seine Frau Eva, und sie
ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann
gewonnen mithilfe des HERRN.
2 Danach gebar sie Abel, seinen Bruder. Und Abel wurde ein Schäfer,
Kain aber wurde ein Ackermann.
3 Es begab sich aber nach etlicher Zeit, dass Kain dem HERRN Opfer
brachte von den Früchten des Feldes.
4 Und auch Abel brachte von den Erstlingen seiner Herde und von
ihrem Fett. Und der HERR sah gnädig an Abel und sein Opfer,
5 aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an. Da ergrimmte Kain
sehr und senkte finster seinen Blick.
6 Da sprach der HERR zu Kain: Warum ergrimmst du? Und warum senkst
du deinen Blick?
7 Ist's nicht so: Wenn du fromm bist, so kannst du frei den Blick
erheben. Bist du aber nicht fromm, so lauert die Sünde vor der Tür,
und nach dir hat sie Verlangen; du aber herrsche über sie.
8 Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen!
Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain
wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.
9 Da sprach der HERR zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach:
Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?
10 Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines
Bruders schreit zu mir von der Erde.
11 Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat
aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen.
12 Wenn du den Acker bebauen wirst, soll er dir hinfort seinen
Ertrag nicht geben. Unstet und flüchtig sollst du sein auf Erden.
13 Kain aber sprach zu dem HERRN: Meine Strafe ist zu schwer, als
dass ich sie tragen könnte.
14 Siehe, du treibst mich heute vom Acker, und ich muss mich vor
deinem Angesicht verbergen und muss unstet und flüchtig sein auf
Erden. So wird mir's gehen, dass mich totschlägt, wer mich findet.
15 Aber der HERR sprach zu ihm: Nein, sondern wer Kain totschlägt,
das soll siebenfältig gerächt werden. Und der HERR machte ein
Zeichen an Kain, dass ihn niemand erschlüge, der ihn fände.
16 So ging Kain hinweg von dem Angesicht des HERRN und wohnte im
Lande Nod, jenseits von Eden, gegen Osten.
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