Liebe Leser, „Wir müssen uns auch in
der Liebe immer wieder loslassen, um uns neu zu finden. Lust
erneuert sich erst über den Ver-Lust. Loslassen heißt oft nur, sich
einzuschwingen in den Rhythmus des Lebens, es bewusst und freiwillig
zu tun, um nicht zum Objekt des Geschehens zu werden. Irgendwann
geht mir sonst unfreiwillig, widerwillig verloren, was ich nicht
loslassen will.“ So schreibt eine Auslegerin zu unserem heutigen
Predigttext. (Dr. Brigitte Seifert, GPM 2/2006, Heft 3, S. 324)
Das scheint eine allgemeine Lebensweisheit zu sein, die allein schon
wert wäre, wieder einmal bedacht zu werden. Unser Leben ist im Fluss
und unsere Welt ist es bekanntlich auch schon immer. So
unternehmungslustig wir auch sein mögen, ein paar Dinge sollen schon
immer so bleiben, wie sie sind. Das, was uns Halt gibt: Familie,
Freunde, ein Zuhause, ein guter Beruf, Freiheit, Frieden,
Gerechtigkeit. Das soll immer so bleiben. Was tun wir dafür?
Angst macht das allgemeine Angstgeschrei, das dieser Tage in der
Politik regiert und hektische Maßnahmen mit dem Kopf durch die Wand
durchsetzen will. Wo doch abzusehen ist, dass man gerade dann Gefahr
läuft, das unfreiwillig zu verlieren, was man zu verteidigen
vorgibt. Der Schriftsteller Botho Strauß schreibt in seinem letzten
Buch: „Ohne eine feindliche Kultur zu entdecken und abzuwehren,
scheint die eigene kaum jemandem gewärtig zu sein. Die feindliche
suche man aber nicht zuvörderst in einer fremden, etwa der
religiösen oder der sittlichen des Islam, sondern in der
auftrumpfenden Banalität, den oberflächlichsten politischen
Bekundungen, mit denen man die Identifikation der eigenen betreibt.“
(Der Fortführer, Rowohlt E-Book, S.178)
Diese Probleme hatte Abraham nicht. Als Vater und Vorbild des
Glaubens sehen ihn bis heute Juden, Christen und Muslime. Und
deshalb kann er nicht in eine allgemeine Lebensweisheit
verschwinden. Martin Luther zur Stelle: „Dieses ist ein
sonderlicher, vortrefflicher Text und einer aus den vornehmsten der
ganzen heiligen Schrift. Darum soll man ihn nicht leichtsinnig und
obenhin berühren und überlaufen, sondern fleißig ansehen, sorgfältig
auseinanderwickeln und erklären. (…) Freilich: Man muss diesen Text
nicht einmal fleißig ansehen, um zu bemerken, dass von keinem
Glaubenswagnis, von keiner Entscheidung, keinem Risiko, keiner
Mutprobe und keinem Gehorsam eines Menschen die Rede ist. (…) Das
ist die Sicht einer säkularisierten Welt, in der das Gehorchen oder
Glauben das Besondere geworden ist. (…) Dass Abraham geht, wie Gott
ihm geboten hat, ist das Normale und das Natürliche; Wagnis und
Risiko wären es für Abraham, wenn er nicht ginge.“ (Christian Möller
GPM, 2/1988, Heft 3, S. 316)
Sorgfältig auseinandergewickelt: Ist uns schon aufgefallen, dass es
hier eigentlich nur am Rande um Abraham geht, vor allem aber um das,
was Gott sagt und tut? Am Anfang des 1. Mosebuches ruft Gott die
Schöpfung und die Menschen vom Nichts ins Sein. Was dann folgt sind
die Geschichten, in denen Gott auf die Bosheit der Menschen
reagiert. Sündenfall, Brudermord, Sintflut und der Turmbau zu Babel.
Mit Abraham fängt etwas Neues an. Gott ruft einen Menschen dazu auf,
das Gewohnte, das Schützende, das Geliebte zu verlassen. Er ruft ihn
scheinbar aus dem Sein ins Nichts.
Freilich steht dem dreifachen Verlust ein dreifacher Segen
gegenüber. Und der ist für den Erzähler dieser Geschichte nicht
Nichts. Im Gegenteil. „Gegenüber diesem Segen, wie ihn Abraham
empfängt, müsste man eher das Vaterland, die Sippe und das Vaterhaus
ein Nichts nennen. Man kann wohl am ehesten sagen, dass Abraham
durch Gottes Segen aus dem Haben ins Sein gerufen wird, ein Sein vor
Gott, das ein Sein im Werden ist und sich unendlich vermehrt.“
(Christian Möller aaO., S. 317)
Lassen wir den mittelalterlichen Meister Eckhart erklären: „Nur
deshalb lässt der getreue Gott zu, dass seine Freunde oft in
Schwachheit fallen, damit ihnen aller Halt abgehe, auf den sie sich
hinneigen oder stützen könnten. Denn es wäre für einen liebenden
Menschen eine große Freude, wenn er viele und große Dinge vermöchte,
sei‘s im Wachen, im Fasten oder in anderen Übungen, sowie in
besonderen, großen und schweren Dingen. Dies ist ihnen eine große
Freude, Stütze und Hoffnung, so dass ihnen ihre Werke Halt, Stütze
und Verlass sind.
Gerade das aber will unser Herr ihnen wegnehmen und will, dass er
allein ihr Halt und Verlass sei. Und das tut er aus keinem anderen
Grunde als aus seiner bloßen Güte und Barmherzigkeit. Denn Gott
bewegt nichts anderes zu irgendeinem Werke als seine eigene Güte.
Nichts taugen unsere Werke dazu, dass Gott uns etwas gebe oder tue.
Unser Herr will, dass seine Freunde davon loskommen, und deshalb
entzieht er ihnen solchen Halt, auf dass er allein ihr Halt sei.
Denn er will ihnen Großes geben und will‘s rein nur aus seiner
freien Güte. Und er soll ihr Halt und Trost sein, sie aber sollen
sich als ein reines Nichts erfinden und erachten in all den großen
Gaben Gottes. Denn je entblößter und lediger das Gemüt Gott zufällt
und von ihm gehalten wird, desto tiefer wird der Mensch in Gott
versetzt, und umso empfänglicher wird er für Gott in allen seinen
kostbarsten Gaben, denn einzig auf Gott soll der Mensch bauen.“
(Reden der Unterweisung Nr. 19, Quint S. 82)
Loskommen, loslassen, finden, was wirklich Halt gibt. Darum geht es
in dieser Abrahamgeschichte und im Glauben überhaupt. Warum, fragt
Meister Eckhart, hängen die Menschen an den Dingen als hinge ihr
Leben davon ab? Woran Du Dein Herz hängst, das ist Dein Gott,
formuliert Martin Luther. Warum sollte unser Herz an Dingen hängen,
die nicht Gott sind? Warum klammern wir uns an Dinge, die
vergänglich sind, wo in Gott doch alle Dinge sind? Die eigenen Dinge
loslassen und in Gott alle Dinge geschenkt bekommen, das ist nach
Meister Eckhart der Handel, den Gott uns anbietet. Wer sich so
allein an Gott hält, der steht im Segen Abrahams.
Dazu muss man kein Migrant werden, wie Abraham. Der wird ein Fremder
bleiben in dem Land, das Gott ihm zeigt. Was Gott ihm verheißt, hat
er selbst nicht mit eigenen Augen gesehen. Das Fleckchen Erde, das
er sich von den Hethitern erbittet und das ihm am Ende gehört, ist
sein Grab in Hebron. Sein erster Sohn Isaak wird der Stammvater der
Juden und Christen. Seine späten Söhne schickt er nach Osten ins
Morgenland. Ismael wird zum Stammvater der Araber und Muslime. Das
ist das Erbe des Abrahamsegens, in dem nach dem Willen Gottes alle
Geschlechter auf Erden gesegnet sein sollen. Was haben spätere
Generationen bis auf den heutigen Tag daraus gemacht? Es wird Zeit,
dass wir uns angesichts des religiösen Analphabetismus und der
theologischen und spirituellen Verwahrlosung wieder darauf besinnen
und zur Besinnung kommen. Wenigstens zum Gespräch über das
gemeinsame Erbe.
Denn wer den Segen des Abraham fürs eigene Volk, fürs eigene
Vaterland, für die eigene Partei oder die eigene Kirche pachten
will, dem sagt der Christus im Matthäusevangelium
unmissverständlich: „Denkt nur nicht, dass ihr bei euch sagen
könntet: Wir haben Abraham zum Vater. Denn ich sage euch: Gott
vermag dem Abraham aus diesen Steinen Kinder zu erwecken.“ (Matthäus
3,9) Es ist doch einfach nicht wahr, dass die fremde Kultur, der
fremde Glaube, die andere Lebensart das Bedrohliche ist. Bedrohlich
ist für uns immer der Verlust der eigenen Kultur, die eigene
Oberflächlichkeit, die eigene Gleichgültigkeit, die eigene Lauheit,
der eigene Unglaube. „Von Abraham ist zu lernen, dass Segen nur im
Ausziehen, im Gehen, im Weitergeben zu bewahren ist: Da zog Abraham
aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte, und Lot zog mit ihm.“
(Christian Möller, aaO., S.322)
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
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Die Predigt zum Hören
Text:
1 Und der HERR sprach
zu Abraham: Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft
und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will.
2 Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und
dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein.
3 Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich
verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf
Erden.
4 Da zog Abraham aus, wie der HERR zu ihm gesagt hatte, und Lot zog
mit ihm.
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