Liebe Leser, Hinter dem Felsplateau der judäischen Wüste, wo der
Jordan in den Syrischen Graben fließt, hört alles Leben auf. Dort
liegt ein Binnensee, der den tiefsten Punkt der Erdoberfläche
markiert: 394 m unter Normal Null. Die Sonne brennt gnadenlos und
die Verdunstung ist so hoch, dass das zurückbleibende Salz beinahe
alles Leben verhindert. Ein ungastlicher Ort. Dennoch hat man auf
dem Boden des Meeres Spuren einer Besiedelung nachgewiesen. Einmal
muss es dort Städte gegeben haben. In der Bronzezeit war dort Leben,
danach nie mehr.
Die Menschen von damals bis heute haben diesem See unterschiedliche
Namen gegeben: Salzmeer heißt es in der Bibel oder Wüstenmeer,
mortuum mare nannten es die Römer, Asphaltmeer steht bei Josephus,
und Teufelsmeer bei den Kreuzfahrern. In unserer Sprache nennen wir
es das Tote Meer. Nomen est omen. Und die Namen sprechen für sich.
Dieser Ort ist kein Ort des Lebens.
Alle diese Namen beinhalten auch eine Vermutung der Nachfahren, die
ihnen zur Gewissheit geworden ist: hier muss einmal etwas passiert
sein, das einem Gottesgericht gleicht. „Meer von Sodom“ sagen die
Rabbinen, und damit ist auch deutlich, welche Städte nach den
Erzählungen der Bibel hier einmal lagen: Sodom und Gomorra.
Ihre Gottesferne ist sprichwörtlich geworden, genauso das Gericht
Gottes, das die Städte vernichtete. Unser heutiger Predigttext
spielt am Abend vor der Katastrophe. Dort auf dem Felsplateau mit
dem Blick auf die Tiefe, in der die Städte noch voller Leben in der
Talsohle liegen, entsteht die Bühne für einen der größten Dialoge
der Weltliteratur: Abraham feilscht mit Gott um das Überleben der
Menschen in Sodom und Gomorra.
Sie haben recht gehört: Ein Mensch, gemacht aus Staub und Erde,
feilscht mit dem allmächtigen Gott und Weltenrichter wie ein Händler
auf einem orientalischen Basar! Was auf den ersten Blick fast
anstößig wirkt, lässt uns bei näherem Hinsehen einen Blick ins Herz
unseres Gottes tun. Fragen wir also, woher Abraham den Mut hat, so
unverschämt mit Gott zu feilschen.
Wer war Abraham eigentlich? Sein Vater Terach, so sagt es das AT im
Buch Josua, war noch ein ganz entschiedener Götzenanbeter. Nach
jüdischer Auslegung und übrigens auch nach dem Koran (Sure 21,51ff.)
zerschlägt Abraham die Götzenbilder seines Vaters, um fortan allein
dem einen wahren und höchsten Gott zu dienen. Thomas Mann hat in
seinem Roman „Josef und seine Brüder“ die Gottsuche von Abraham
eindrücklich und einleuchtend geschildert.
Abraham findet Gott, indem er alles zerschlägt und ausschließt, was
nicht Gott ist! Ähnlich wie bei der Patchwork-Religiosität des
modernen Menschen regierten auch damals sehr verschiedene religiöse
Mächte als Ratgeber in den Seelen der Menschen und wurden geachtet
und geehrt. Der König wurde ebenso verehrt wie die Sonne, der Krieg
ebenso wie das Wasser, die Sexualität ebenso wie der Reichtum, die
Mutter Erde wurde angebetet und viele Mächte mehr. Und im Gebet
spielten die Menschen ihre Götter gegeneinander aus: Wenn du mir
nicht hilfst, bete ich in Zukunft einen anderen Gott an…
Abrahams Größe bestand darin, dass er von diesem kleinlichen Denken
genug hatte. Er wollte endlich seine Seele ordnen. Nur noch zu dem
einen wahren Gott wollte er beten, ihm gehören, ihm dienen. Lange
blickte er sich um und dachte nach. Alle vergänglichen Mächte schied
er aus: Alle Könige, Herrscher, Künstler, alle vorbildlichen
Menschen schloss er aus. Sie sind sterblich und verdienten keine
göttliche Verehrung! Auch Mutter Erde ist auf Sonnenlicht und Regen
vom Himmel angewiesen. So richtete sich Abrahams Blick immer mehr in
die Höhe. Die Sonne mit ihrer gewaltigen Glut regierte nur den Tag,
der Mond nur die Nacht. Und schlagartig wurde ihm klar: Nur der,
welcher alle Himmelsköper lenkt und den Lauf der Welt bestimmt, ist
der wahre Gott, der unsichtbare Lenker und Gesetzgeber der Natur. So
am Ziel seiner Suche angekommen wurde Abraham zum Urbild des ersten
Monotheisten für Juden, Christen und Moslems gleichermaßen.
Nur: das erklärt noch nicht den Mut, mit dem er vor Gott tritt und
mit ihm feilscht wie mit einem Händler. Abrahams Mut verdankt sich
einer weiteren Erkenntnis: nämlich dass Gott selbst ihm diese
Gedanken eingegeben hat! Abraham fühlte mit Gewissheit: Gott will so
von Menschen erkannt, verstanden und angebetet werden! Gott hat den
Menschen geschaffen, damit er durch uns ein Gegenüber hat, einen
Ansprech-Partner im Wortsinne: einen, den Gott in seinem Herzen
ansprechen kann; und dem umgekehrt auch Gott sein Herz zeigen kann
und will; Gott hat sich im Menschen ein Gegenüber geschaffen und
lässt sich von ihm in die Karten schauen – ein wenig nur,
sicherlich, aber doch soviel, dass der Mensch dabei zum Ebenbild
Gottes wird.
Das war und ist es, was Abraham (und mit ihm allen, die an den EINEN
Gott glauben) den Mut schenkt, „ganz nahe“ an Gott heran zu treten.
Es war und ist die Gewissheit, dass Gott selbst eine Beziehung zu
uns sucht, dass er von uns Menschen gesucht und entdeckt werden will
und dass er sich entdecken lassen will. Gott segnet Abraham, indem
er ihn seine Liebe erkennen lässt. Und mit dieser Erkenntnis soll
Abraham zum Segen für alle Völker werden.
Nur so kann man verstehen wie Abraham in unserem Predigttext mit
Gott redet. Es ist diese Mischung aus Kühnheit und Vertrautheit, die
aus ihm spricht. Und er redet von dem, was sein Herz bewegt: die
Menschen in den Städten Sodom und Gomorra. „Willst du", sagt
Abraham, „diese Stadt verderben, wegraffen, alle, auch die Guten mit
den Schlechten? Vielleicht gibt es ja, inmitten der Stadt nicht doch
- sagen wir - fünfzig Gerechte?"
50 Gerechte. Abraham beginnt bescheiden. Es sind nicht 1000 oder
100, es sind 50, gerade mal eine Mannschaft, nicht einmal die Größe
einer Kompanie. Lächerlich wenige im Vergleich zu der Zahl der
Einwohner einer Stadt. Unerträglich viele jedoch für Abraham, der
das Verderben heraufziehen sieht am Horizont. Gingen die Gerechten
mit den Schlechten unter, dann gäbe es keinen Unterschied zwischen
gut und böse, dann wäre der Gerechte wie der Schlechte behandelt, so
argumentiert Abraham gegenüber Gott. Deutlich wird: Nicht die
Ungerechtigkeit der Stadtbürger, sondern die Gerechtigkeit Gottes
steht auf dem Spiel, der nicht zulassen kann, dass unbescholtene
Gott-Getreue umkommen mit den anderen.
Jetzt zielt alles auf Gottes Antwort. Und sie kommt. Unmittelbar.
„Finde ich fünfzig Gerechte zu Sodom in der Stadt, so will ich um
ihretwillen dem ganzen Ort vergeben.“ Gott ist bereit, sich dem
guten Wort zu öffnen, das Abraham für die Stadt einlegt. Er zeigt
sich als mitfühlender Gott, nicht als unberührter Weltenlenker. „Ja,
nur zu gerne vergebe ich allen", so schallt es Abraham entgegen.
Doch der wird ob des schnellen Erfolges unsicher. „Was, wenn es
nicht fünfzig gibt? Was, wenn es nur einen weniger als fünfzig
Gerechte gibt?" Um sicher zu sein, tritt er noch einmal vor Gott.
Demütig. „Ich bin ja eigentlich nur Staub und Asche. Und dennoch
nehme ich mir heraus, das Wort an dich zu richten. Vielleicht finden
sich dort nur 45". Und Gott antwortet: „So soll es sein. Ich will
nicht verderben, wenn es dort nur 45 gibt."
So feilscht Abraham um die Seelen der Verdammten und Gott folgt ihm
bereitwillig in seinen Zugeständnissen. Aus den fünfundvierzig
Gerechten werden dreißig, zwanzig, fünfzehn, zehn. Aber je weniger
sie werden, desto größer wird die Last auf den Schultern Abrahams,
der ahnt, dass sein Unterfangen vermessen und vielleicht doch
aussichtslos ist. Die Gottesferne, das Menschenverachtende in dieser
Stadt könnte so weit um sich gegriffen haben, dass ein gottgerechtes
Leben unmöglich wurde in dieser Stadt und die Guten geflohen,
erdrückt, verwandelt sein könnten. Bei Zehn hört er auf. Sechsmal
hat er an Gott das Wort gerichtet, ein siebtes Mal wagt er nicht,
mit Gott zu feilschen. Sieben ist die Zahl der Vollendung, die steht
nur Gott zu.
Noch einen anderen Grund gibt es, warum Abraham bei der Zahl Zehn
aufhört zu fragen: Zehn ist die mindeste Anzahl jüdischer Männer,
die für die Feier eines Gottesdienstes in der Synagoge nötig waren.
Das Minimum des Lobes an den Herrn der Welten. Zehn Gerechte -
weniger ist nicht genug, um das Übel aufzuwiegen. Sind weniger
Personen in der Stadt, so sind es nur Einzelne, sie können nur als
Einzelne gerettet werden. Das Lob Gottes kann nicht mehr gesungen
werden, wenn sich nicht zehn Männer dazu zusammenfinden. Für Sodom
und Gomorra galt: Die jüdische Gemeinde ist tot. Das Schicksal der
beiden Städte ließ sich nicht aufhalten.
Fragen wir: warum erzählt die Bibel uns solche Geschichten? Weil sie
deutlich machen will, dass es nicht im Sinne Gottes war, die
Menschen dieser Städte zu verderben. Er tat, was er konnte, um die
Folgen aufzuhalten. Er ist den Menschen dieser Stadt sehr weit
entgegen gekommen. So mahnt diese Geschichte die Nachkommen
Abrahams, den rechten Weg nicht zu verlassen.
Vor allem aber malt sie das Bild eines zugewandten, aufmerksamen
Gottes mit dem unbedingten Willen zur Vergebung. Auch wenn wir
Menschen uns Verwüstungen nur als Gericht Gottes vorstellen können -
hier wird uns nahe gelegt, in Gott nicht den ungerührten
Weltenrichter zu suchen, sondern den mitfühlenden und eben darin
gerechten Gott, der nichts lieber täte, als sein Vorhaben
einzustellen, wenn er nur einen Grund findet, der für die Menschen
spricht.
Und: Diese Geschichte stellt uns mit Abraham einen Mann vor Augen,
der mit Gott redet wie mit einem Freund, der sich vom Schicksal
seiner Mitmenschen bewegen lässt, der eintritt für andere Menschen –
Schuldige wie Unschuldige – auch wenn es riskant und gefährlich ist.
Zur Nachahmung empfohlen! Die Geschichte spricht auch von der Macht
des Gebetes, Gottes Barmherzigkeit zu erwirken gegen allen
Augenschein.
Und die Geschichte weist letztendlich voraus auf den Einen, auf
Jesus Christus,
- der Gottes Strafgericht stellvertretend für alle Menschen ein für
alle Mal auf sich genommen hat, damit wir endlich aufhören einander
zu strafen
- der bei Gott für uns eintritt, damit wir füreinander eintreten
- und um dessentwillen wir alle leben sollen und werden – trotz des
Umstandes, dass Sodom und Gomorra Realitäten auch heutzutage sind –
und das nicht nur bei den anderen, sondern auch mitten unter uns.
So schließe ich mit einem Lesehinweis und einem Zitat: Wer eine
Ahnung bekommen will, wie heute die Zustände in Sodom und Gomorra
sind, der lese die Predigt von Karl Martin
„Rette Dein Leben und sieh nicht hinter dich…“
- nachzulesen auf der Homepage der Hospitalkirche. Und das Zitat,
mit dem ich schließe, ist von Elie Wiesel (Vorwort zu The Testament,
1981):
"Einer der gerechten Männer kam nach Sodom, entschlossen, seine
Einwohner vor Sünde und Strafe zu retten. Tag und Nacht wanderte er
durch die Straßen und Märkte und protestierte gegen Habgier und
Diebstahl, Falschheit und Indifferenz. Zu Beginn hörten ihm die
Leute zu und lachten ironisch. Dann ließen sie es sein, und er
amüsierte sie nicht einmal mehr. Die Mörder mordeten weiter, die
Weisen schwiegen, als wenn ein gerechter Mann in ihrer Mitte weilte.
Eines Tages trat ein Kind an ihn heran, gerührt von Mitleid mit
diesem erfolglosen Lehrer, und sagte: 'Armer, fremder Mann, du
schreist dich heiser. Siehst du denn nicht, dass es hoffnungslos
ist?' 'Freilich sehe ich es', antwortete der Gerechte. 'Weshalb
machst du da weiter?' 'Ich will es dir sagen. Zu Beginn dachte ich
mir, ich würde die Menschen ändern können. Heute weiß ich, dass ich
es nicht vermag. Wenn ich heute noch immer schreie, so geschieht es,
weil ich verhindern will, dass sie mich zuletzt ändern'".
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche
Hof)
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Text:
20 Und der HERR sprach: Es ist ein großes
Geschrei über Sodom und Gomorra, dass ihre Sünden sehr schwer sind.
21 Darum will ich hinabfahren und sehen, ob sie alles getan haben
nach dem Geschrei, das vor mich gekommen ist, oder ob's nicht so
sei, damit ich's wisse.
22 Aber Abraham blieb stehen vor dem HERRN
23 und trat zu ihm und sprach: Willst du denn den Gerechten mit dem
Gottlosen umbringen?
24 Es könnten vielleicht fünfzig Gerechte in der Stadt sein;
wolltest du die umbringen und dem Ort nicht vergeben um fünfzig
Gerechter willen, die darin wären?
25 Das sei ferne von dir, dass du das tust und tötest den Gerechten
mit dem Gottlosen, sodass der Gerechte wäre gleich wie der Gottlose!
Das sei ferne von dir! Sollte der Richter aller Welt nicht gerecht
richten?
26 Der HERR sprach: Finde ich fünfzig Gerechte zu Sodom in der
Stadt, so will ich um ihretwillen dem ganzen Ort vergeben.
27 Abraham antwortete und sprach: Ach siehe, ich habe mich
unterwunden, zu reden mit dem Herrn, wiewohl ich Erde und Asche bin.
28 Es könnten vielleicht fünf weniger als fünfzig Gerechte darin
sein; wolltest du denn die ganze Stadt verderben um der fünf willen?
Er sprach: Finde ich darin fünfundvierzig, so will ich sie nicht
verderben.
29 Und er fuhr fort mit ihm zu reden und sprach: Man könnte
vielleicht vierzig darin finden. Er aber sprach: Ich will ihnen
nichts tun um der vierzig willen.
30 Abraham sprach: Zürne nicht, Herr, dass ich noch mehr rede. Man
könnte vielleicht dreißig darin finden. Er aber sprach: Finde ich
dreißig darin, so will ich ihnen nichts tun.
31 Und er sprach: Ach siehe, ich habe mich unterwunden, mit dem
Herrn zu reden. Man könnte vielleicht zwanzig darin finden. Er
antwortete: Ich will sie nicht verderben um der zwanzig willen.
32 Und er sprach: Ach, zürne nicht, Herr, dass ich nur noch einmal
rede. Man könnte vielleicht zehn darin finden. Er aber sprach: Ich
will sie nicht verderben um der zehn willen.
33 Und der HERR ging weg, nachdem er aufgehört hatte, mit Abraham zu
reden; und Abraham kehrte wieder um an seinen Ort. |