Predigt     1. Mose 28/10-19     14. Sonntag nach Trinitatis     01.09.2013

"Träum weiter?!"
(Von Pfarrer Johannes Taig, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

den Seinen gibt’s der Herr im Schlaf. Ein Sprichwort, zu dem der Philosoph und Scharfdenker Hegel einmal hämisch bemerkt haben soll: Was der Herr den Seinen im Schlaf gebe, seien leider halt auch nichts anderes als Träume. Und vom Scharfdenker Helmut Schmidt stammt bekanntlich der Satz: Wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen. Der aufgeklärte und der Vernunft verpflichtete Mensch weiß, was er von all dem zu halten hat. Vielleicht lag es ja an dem allzu harten Stein, an dem Jakob die ganze Nacht gehorcht hat.

Fast schon reflexhaft, billig und wenig durchdacht kommt solche Kritik an allem Übersinnlichen, Geheimnisvollen und Religiösen daher. Billig deshalb, weil sie meist von Leuten stammt, die es ja selbst nie in der Welt der sogenannten nackten Realität und der sogenannten wissenschaftlichen Weltbilder ausgehalten haben. Deshalb steht heute in der Ecke, wo früher das Kruzifix im Herrgottswinkel hing, der große Plasmabildschirm und das Mediencenter. Wann immer er kann, verabschiedet sich der angeblich so vernunftorientierte Mensch in die Traumwelten der Bits und Bytes. Die können gar nicht irrational und phantastisch genug sein. Längst ist am Horizont das Schreckgespenst einer Wohlstandsgesellschaft aufgetaucht, in der die Massen satt und sauber am Draht einer sekundären Welt hängen, die ihnen ihre Bedürfnisse und Träume vorfabriziert und gleichzeitig befriedigt.

Wenn es denn ein Schreckgespenst ist. Denn die sogenannte Realität unserer Welt gibt ja auch nicht viel her. Seltsam wehmütig wird einem ums Herz, wenn man in diesen Tagen die 50 Jahre alten Aufnahmen von der berühmten Rede Martin Luther Kings sieht: I have a dream. Ich habe einen Traum. Zweifellos hat er etwas erreicht, dieser Märtyrer für die Menschenwürde. Aber immer noch werden Menschen diskriminiert, verfolgt, gefoltert und umgebracht, weil sie einer andere Hautfarbe, einer anderen Kultur oder einer anderen Religion angehören. Wem von uns gehen die aktuellen Bilder von vergasten Kindern in Syrien nicht unter die Haut? Wer so etwas tut, gehört überhaupt keiner Zivilisation mehr an, kann sich auf überhaupt kein Recht und keine Religion mehr berufen.

Zwei Jahre schaut die Welt dem Morden bereits zu. Und beklemmend daran ist nicht, dass die Welt in manchen Teilen inzwischen zu müde, zu faul und zu sehr mit sich selbst beschäftigt ist. Beklemmend daran ist nicht vor allem, dass die Geschäfte weitergehen müssen. Wirklich beklemmend daran ist, dass viele nach dem Irakkrieg und dem Afghanistankrieg begriffen haben, dass die Wahl zwischen Zuschauen und Eingreifen die Wahl zwischen Pest und Cholera ist. Die Möglichkeit zur Wahl zwischen Gut und Böse erweist sich als Illusion. Es ist ein Fortschritt, das zu begreifen.

Als Jakob seinen Traum träumt, gibt seine Realität auch nicht viel her. Jakob ist auf der Flucht. Er ist der Sohn des Abrahamnachkommens Isaak. Sein Zwillingsbruder Esau ist der Erstgeborene. Haarig soll er gewesen sein und nicht besonders schlau. Ordentlich essen war ihm das Wichtigste. Esau und der so gut wie blinde Vater waren von Jakob betrogen worden. Seine Mutter hatte ihr Muttersöhnchen ordentlich unterstützt. Jakob gab sich vor dem alten Vater als Esau aus und erhielt den Erstgeburtssegen. Aber kaum waren die Kröten im Sack, flog die ganze Sache auf und Esau war schon auf der Suche nach seiner abgesägten Schrotflinte. Jakob musste Hals über Kopf verschwinden, für ein paar Jahre mindestens. So war er mit dem Nötigsten ins Ausland unterwegs zu Großvater und Onkel mütterlicherseits, die er gar nicht kannte.

Eine Flucht ist keine Reise. So unwirtlich, so unbehaust war die Stelle, die er für die Nachtruhe bei Sonnenuntergang fand, dass er seinen Kopf auf einen Stein legen musste. Vielleicht hat er sich in den Schlaf geweint, so unterwegs zwischen Pest und Cholera. Was wissen wir schon, wie es Flüchtlingen geht, die ihre Heimat auf unbestimmte Zeit verlassen müssen und zu Leuten kommen, die sie gar nicht kennen und womöglich für Sozialschmarotzer halten? Jakob befindet sich sozusagen auf hoher See, und fängt an zu träumen.

Ich habe gelesen, dass wenigstens Psychologen diesen Traum auch heute noch interessant finden. Einen Inkubationstraum nennen ihn die einen. Ein Traum, der für Jakob einen neuen Lebensabschnitt einleitet und ihm Kraft und Bestätigung für seinen Weg gibt. Nein, sagen die anderen, es ist eher ein Integrationstraum. Jakobs Existenz ist in Gegensätze verwickelt: Der Bruch mit seinem Bruder und seiner Familie; der Weg in ein fremdes Land. Der Traum sei ein Entwicklungshelfer, die Ganzheit und Integrität seiner Person wiederherzustellen.

Am tiefsten schürft Paul Watzlawick. Er „nennt (den Traum)‚ das Erlebnis der ewigen Gegenwart‘, wie es uns ‚unter höchst ungewöhnlichen Umständen und für kurze, blitzartige Momente‘ widerfährt: ‚Es gibt in der Weltliteratur zahllose Beschreibungen, dieses Erlebnisses, und wie verschieden diese Schilderungen in jeder Hinsicht auch sein mögen, scheinen sich ihre Autoren darüber einig zu sein, dass sie irgendwie zeitlos und wirklicher als die Wirklichkeit sind.‘ Und er zitiert Dostojewski: ‚Dies ist wahrscheinlich jene Sekunde, die für das Wasser nicht ausreichte, um aus Mohammeds Krug zu fließen, obwohl der epileptische Prophet Zeit hatte, alle Wohnstätten Allahs zu schauen.‘“ (Karl Heinrich Bieritz, GPM 3/1995 Heft 4, S. 355)

Meister Eckhart nennt es das göttliche „Nun“, den zeitlosen Augenblick der ungeteilten Gegenwart Gottes, in der alle Zeit und alle Dinge beschlossen und eins sind. Was für ein Traum! Da bringen die Engel vom Himmel das Ihre herab und nehmen das Unsere mit hinauf. Die Welt kommt von Gott und kehrt in ihn zurück. Damals, jetzt, immer. Da erlebt der fortgejagte und in die Fremde gehetzte Jakob, wie die Dinge wirklich sind. Sein Weg in die Fremde ist eigentlich ein Heimweg. Ein ganz schöner Umweg, würden wir sagen, auf dem auf Jakob noch allerlei zwischenmenschliche, erotische und interreligiöse Lektionen warten, aber irgendwann ist er wirklich wieder auf dem Heimweg. Die Himmelsleiter ist so etwas wie die Tiefenschau in die Wahrheit seiner Geschichte und auch unserer Geschichte. Wirklicher als die Wirklichkeit.

Schon wahr, unsere Wirklichkeit gibt immer wieder nicht besonders viel her, zu Jakobs und zu unseren Zeiten. All die Leitern und Stufen unserer Welt, die jeder hinaufwill mit Drängeln und Schubsen und Stoßen. Wie lächerlich, dass wir die, die oben angekommen und es geschafft haben, bewundern und sein wollen, wie sie. Und wie schnell werden wir böse und hadern mit Gott und der Welt, weil wir gefallen sind, oder es irgendwann nicht mehr weiter geht.

Schaut Euch die Himmelsleiter des Jakob an, auf der es ganz anders zugeht. Sie zeigt uns Himmel und Erde zugleich, und die Engel, die dazwischen emsig unterwegs sind. Und Gott spricht freundlich von oben herab und doch nirgendwo anders, als in Jakobs Seele: voller Verheißung und voller Segen. Nein, es wird mir nicht wehmütig, wenn ich die 50 Jahre alte Rede des Martin Luther King höre. Sie ist ein sehr bekannter unter unzähligen unbekannten Beweisen dafür, dass Jakob die Wahrheit gesehen hat.

Träum weiter! So rufen wir es gern einem zu, der unerfüllbare Wünsche hat. Träum weiter! So sollten wir es dem Jakob zurufen, wenn er wieder einmal an Gott und der Welt verzweifelt. Wir sollten es noch vielmehr uns und der Kirche zurufen! Warum haben wir uns so wenig gewehrt, als auch in die Kirche die grauen Männer aus Michaels Endes „Momo“ eingezogen sind, die zwar alle das Rauchen aufgegeben haben, aber für alles ein geregeltes Verfahren haben und uns Qualität, Effizienz, Erfolg und Geld versprechen, wenn wir uns ihnen verschreiben. „Was (der Kirche) fehlt“, schreibt ein Ausleger, „sind Träume, in denen sie sich selbst schaut – hingekauert am Stein, zu Füßen der himmlischen Leiter.“ (Bieritz, aaO., S. 359) Wir brauchen Traumexperten wie Jakob; Menschen die Gott hören und schauen.

Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter www.kanzelgruss.de)

Text: 

10 Aber Jakob zog aus von Beerscheba und machte sich auf den Weg nach Haran
11 und kam an eine Stätte, da blieb er über Nacht, denn die Sonne war untergegangen. Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten und legte sich an der Stätte schlafen.
12 Und ihm träumte, und siehe, eine Leiter stand auf Erden, die rührte mit der Spitze an den Himmel, und siehe, die Engel Gottes stiegen daran auf und nieder.
13 Und der HERR stand oben darauf und sprach: Ich bin der HERR, der Gott deines Vaters Abraham, und Isaaks Gott; das Land, darauf du liegst, will ich dir und deinen Nachkommen geben.
14 Und dein Geschlecht soll werden wie der Staub auf Erden, und du sollst ausgebreitet werden gegen Westen und Osten, Norden und Süden, und durch dich und deine Nachkommen sollen alle Geschlechter auf Erden gesegnet werden.
15 Und siehe, ich bin mit dir und will dich behüten, wo du hinziehst, und will dich wieder herbringen in dies Land. Denn ich will dich nicht verlassen, bis ich alles tue, was ich dir zugesagt habe.
16 Als nun Jakob von seinem Schlaf aufwachte, sprach er: Fürwahr, der HERR ist an dieser Stätte, und ich wusste es nicht!
17 Und er fürchtete sich und sprach: Wie heilig ist diese Stätte! Hier ist nichts anderes als Gottes Haus, und hier ist die Pforte des Himmels.
18 Und Jakob stand früh am Morgen auf und nahm den Stein, den er zu seinen Häupten gelegt hatte, und richtete ihn auf zu einem Steinmal und goss Öl oben darauf
19 und nannte die Stätte Bethel (Haus Gottes).
 


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