Predigt     1. Mose 32/23-32      13. Sonntag nach Trinitatis    17.08.08

„Du bist mir fremd. Mit Gott im Clinch.“
(von Pfr. Rudolf Koller, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

„Du bist mir fremd. Mit Gott im Clinch.“ Ich frage: Was ist das Thema dieser beiden Sätze? Welche Erfahrungen stehen hinter diesen Aussagen? – In drei Schritten versuche ich mich ihnen nähern.

1. Zuerst frage ich: Was steht uns vor Augen, wenn wir diese Worte hören: „Du, Gott, bist mir fremd“? Welche Erinnerungen kommen da hoch, wo wir mit Gott „im Clinch“ lagen? Ich weiß nicht, ob es Ihnen jetzt genauso ging wie mir als ich das erste Mal über diese Frage nachdachte und sofort an wirklich schlimme Erfahrungen im Leben denken musste: z.B. wenn Vater oder Mutter den Tod des eigenen Kindes erleben müssen; oder die Erfahrung, über Jahre ohnmächtig mit ansehen zu müssen, wie ein geliebter Mensch dahinsiechen muss ohne Aussicht auf Heilung. Wie viel Tränen, wie viel Verzweiflung gibt es in unseren Krankenhäusern! Und wie viele altgewordene Frauen und Männer sehnen sich in unseren Altenheimen nach Erlösung!

Es gibt so viel Leid und Schmerz und Elend auf dieser Welt! An solche und ähnlich schlimme Erfahrungen musste ich denken, an die Grenzerfahrungen des Lebens – im doppelten Sinne des Wortes: Erfahrungen mit der Grenze des Lebens, dem Tod, dem Lebenszerstörer und Allesvernichter, an dem die Frage nach dem Sinn des Lebens, unseres Lebens, meines Lebens aufbricht und zugleich unterzugehen droht. An Erfahrungen musste ich denken, die uns an die Grenze führen: die Grenze unserer Belastbarkeit, die Grenze dessen, was wir noch aushalten können, die Grenze auch dessen, was wir noch verstehen können.

„Du, Gott, bist mir fremd“ – so sachlich, so emotionslos redet dann allerdings kein Mensch, wenn er eine solche Grenzerfahrung macht. Er wird vielmehr seinen Schmerz und sein Leid hinausschreien, wird mit Gott „hadern“ – wenn er überhaupt noch zu Worten fähig ist, wenn er überhaupt noch an einen Gott glauben kann. Von einem „Clinch mit Gott“ zu reden ist dann auch eine Verharmlosung dessen, was hier geschieht.

Ist das das Thema: der fremde Gott? Der Gott, den wir in den Grenzsituationen des Lebens nicht verstehen, an dem wir verzweifeln? Der uns sagt: „Meine Wege sind nicht eure Wege.“ Die Alten wussten davon zu reden. Auch Martin Luther sprach vom dunklen, vom verborgenen Gott - weshalb wir uns, so sagte er im gleichen Atemzug, umso dringlicher an den offenbaren Gott halten sollen: an den Gott, der sich in Jesus Christus als Macht der Liebe offenbart hat, einer Liebe, die stärker ist als selbst der Tod. An den in Jesus Christus offenbaren Gott sollen wir uns wenden, der seinem Sohn die Grenzerfahrung eines sinnlosen, gewaltsamen Todes nicht ersparte und ihn die Verzweiflung darüber stellvertretend für alle hinausschreien ließ: Mein Gott, mein Gott, warum...?! - um diese Erfahrung ein für alle Mal heimzuholen in Gottes liebende Gegenwart.

2. Aber vielleicht ist das Thema auch anders zu verstehen, viel alltäglicher. „Du bist mir fremd, Gott.“ – Ich glaube eine große Zahl von Menschen heutzutage in Europa, in Deutschland, ja auch hier in Hof, würde diesen Satz unterschreiben: Ja, du bist mir fremd, Gott. Ich kenne dich nicht oder nur vage. Ich weiß auch zuwenig von dir, am wenigsten von Jesus Christus, deinem Sohn. Ich habe – ehrlich gesagt – auch keine Zeit für dich.

„Mit Gott im Clinch“ zu sein meint dann, dass das schlechte Gewissen sich ständig entschuldigt, dass es für solche Fragen keine Zeit hat:
- der Frage nach dem Sinn des Lebens angesichts auch meines gewissen Todes
- der Frage, wie ich meinen Hunger nach Leben stille - und wo
- der Frage, was wirklich wichtig ist in der langen oder auch nur kurzen Zeit meines Lebens
- der Frage, wer dieser mein Gott ist, der mir dieses Leben geschenkt hat – und wer ich bin, von dem Gott sagt, ich sei sein Ebenbild.

Mir scheint, unsere heutige Gesellschaft hat sich einen Lebensstil gegeben, bei dem für diese Fragen kaum oder gar keine Zeit bleibt, wo Gott aus dem Alltag vieler Menschen, ja sehr vieler Menschen einfach herausgefallen ist. Arbeit und Wirtschaft haben eine dominierende Stellung eingenommen und beherrschen das Familienleben ebenso wie das kirchliche Leben, die Politik ebenso wie die Wissenschaften und die Künste. Da wundert es nicht, dass bei solcher Lebens- und Arbeitsweise bei vielen Menschen die regelmäßige Pflege der Beziehung zu Gott kaum oder gar keinen Platz mehr hat – und dass wahrscheinlich auch deshalb soviel Unzufriedenheit und auch Unfrieden unter den Menschen herrscht! Ist doch das Leben mehr als nur Arbeit und Geldverdienst und der Mensch mehr als die materiellen Güter, die er erwirbt! Freilich – dieses „mehr“ will gesucht und gefunden, will gehegt und gepflegt werden. Den „inneren Frieden“, das Sattwerden der Seele kann man mit Geld nicht kaufen.

Statistiken haben bekanntlich nur einen begrenzten Aussagewert. Das gilt sicherlich auch für die Statistik unserer Landeshauptstadt München, die feststellt, dass ca. die Hälfte der Bevölkerung dieser Millionenstadt keiner Kirche angehört. Nun ist die Nichtzugehörigkeit zu einer Kirche sicher nicht gleichzusetzen mit einem Nicht-Glauben an Gott. Aber wenn nicht in der Kirche, wo dann wird die Heilige Schrift meditiert? Wo sonst wird die Seele stille zu Gott? Wo anders erklingt das gemeinsame Loblied Gott zu Ehren?

Ich frage und will doch nur sagen, dass jede Beziehung der aktiven Pflege bedarf. Das gilt für unsere Beziehungen in der Familie und unter Freunden, unter Nachbarn und Arbeitskollegen. Und das gilt halt auch für die Beziehung zu Gott! Andernfalls bleibt mir dieser Gott auf Dauer fremd – und mit ihm das Glück, das er schenkt.

Es ist aufschlussreich, dass alle Lehrer der Theologie davon sprechen, dass es eigentlich nur eine einzige Sünde gibt, die „Ursünde“: nämlich nicht in Beziehung zu Gott, seinem Schöpfer, zu leben; und sein Leben nicht aus dieser Beziehung heraus, aus Gottes Nähe heraus, zu leben. Wie viele einzelne Tatsünden dann aus dieser Beziehungslosigkeit zur „Quelle des Lebens“ – um einmal die bildhafte Sprache der Psalmen zu benutzen – resultieren, das mag ein jeder selbst ermessen.

3. „Du bist mir fremd.“ In meinen Gedanken bin ich jetzt zweimal davon ausgegangen, dass diese Worte zu Gott gesprochen sind, dass also ein Mensch oder Menschen „im Clinch“ mit Gott liegen. Aber könnte es sein, frage ich jetzt in einem letzten Schritt, dass diese Sätze andersherum gemeint sind? Dass also Gott sagt: Du, Mensch, bist mir fremd! Du bist so weit davon entfernt, mein Ebenbild zu sein! Und könnte es sein, dass deshalb Gott mit dem Menschen in den Clinch, in eine Art „Ringkampf“ geht?

Wie ich auf diesen Gedanken gekommen bin will ich Ihnen sagen: Unsere Väter im Glauben erzählen davon. Gleich im ersten Buch der Bibel, im 1. Buch Mose, wird die Lebensgeschichte eines Mannes erzählt. Er hat einen Zwillingsbruder, den er als junger Mann betrügt, dabei täuscht und belügt er noch seinen Vater und muss deshalb Hals über Kopf aus dem Elternhaus fliehen. Anschließend arbeitet er sich 15 Jahre in der Fremde hoch, gründet eine Familie und kommt zu Wohlstand für sich und die Seinen – aber auch dieses nur mit Irrungen und Wirrungen und ohne dass von Gott überhaupt die Rede ist.

Kurz eine Geschichte, die – würde sie nicht von einem Viehzüchter in der Steppe des Vorderen Orients erzählen – ebenso gut hier und heute in Hof passiert sein könnte. Ich rede vom Stammvater Jakob, wie einige von Ihnen sicherlich erkannt haben: DER Geschichte des Erwachsenwerdens in der Bibel. Und wer diese Geschichte liest, dem fällt auf, dass von Gott im Leben des Jakob nur an zwei, drei Stellen die Rede ist, das allerdings an herausgehobenen Stellen: das erste Mal da ist der junge Mann eben aus dem Elternhaus geflohen, schläft nachts auf freiem Feld und träumt vom „Himmel auf Erden“. Was ihm als „Himmelsleiter“ im Traum erscheint versichert ihm Gottes Stimme im Traum: „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten. Denn Ich will dich nicht verlassen!“ (1.Mose 28.15ff)

Die zweite Begegnung möchte ich Ihnen jetzt (noch einmal) vorlesen. Sie spielt 15 Jahre später, als Jakob ein gemachter Mann ist und beschließt, mit seiner Familie und seinem Hab und Gut heimzukehren zu seinen Eltern - wohl wissend, dass sein Bruder damals geschworen hatte, ihn umzubringen.

Lesen: 1. Mose 32, 23-32

Alles, was er hatte, bringt Jakob über den Fluss: seine Familie, sein Hab und Gut – nur sich selbst nicht. Dieses „Über-den-Fluss-Bringen“ hat eine tiefe Bedeutung. Wir kennen sie aus Märchen: Der Fluss, den der Held überqueren muss, markiert eine Grenze. Am andern Ufer beginnt das gelobte Land. Aber während im Märchen ein Fährmann den Helden hinüberbringt, heißt es bei Jakob: „Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach.“ Obwohl Jakob diesen Mann nicht als Gott erkennt, lässt die Geschichte selbst und ihre Auslegung in der Tradition keinen Zweifel daran, dass hier Gott gemeint ist. Gott geht mit Jakob in den Clinch, bis die Morgenröte anbricht! Danach gibt er ihm einen neuen Namen: „Israel“, „Gottesstreiter“ heißt Jakob fortan. Und ein anderer ist er von da an: Sicherlich ein Gezeichneter, einer, der fortan hinken wird. Aber auch ein Gesegneter, einer, der Gott seinen Segen regelrecht abgerungen hat. Kurz: Erwachsen ist er, der Jakob.

„Du bist mir fremd. Mit Gott im Clinch.“ – Was ist nun das Thema? Was ist IHR Thema? Der ferne und verborgene Gott? Der Gott, der mir fremd ist, weil ich keine oder nur eine sehr entfernte Beziehung zu ihm habe? Oder der Gott, der in der Dunkelheit mit mir ringt, bis die Morgenröte anbricht?

Ich weiß es nicht. Ich kann nur von mir sagen, dass mir keiner dieser drei Erfahrungsbereiche fremd ist. Und dass es für mich immer gut war, wenn ich einen Menschen hatte, mit dem ich mich darüber austauschen konnte. Haben Sie einen? Hier, unter uns sollte ein jeder einen haben. Denn so fängt nach meinem Verständnis Kirche an: dass wir einander unsere Erfahrungen erzählen – auch und gerade die, wo Gott für uns ganz, ganz ferne war; dass wir einander ermutigen uns Zeit zu nehmen für unseren Seelenfrieden; und dass wir einander trösten mit den Geschichten des Glaubens, die schon unsere Väter und Mütter des Glaubens erzählt haben.

Pfarrer Rudolf Koller   (Hospitalkirche Hof)

Text:

23 Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog an die Furt des Jabbok,
24 nahm sie und führte sie über das Wasser, sodass hinüberkam, was er hatte,
25 und blieb allein zurück.

Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach.
26 Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über dem Ringen mit ihm verrenkt.
27 Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
28 Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob.
29 Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen.
30 Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst.

31 Und Jakob nannte die Stätte Pnuël; denn, sprach er, ich habe Gott von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet.
32 Und als er an Pnuël vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er hinkte an seiner Hüfte.
 


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