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			Liebe Leser, „Du bist mir fremd. Mit Gott im Clinch.“ Ich frage: 
			Was ist das Thema dieser beiden Sätze? Welche Erfahrungen stehen 
			hinter diesen Aussagen? – In drei Schritten versuche ich mich ihnen 
			nähern.  
			 
			1. Zuerst frage ich: Was steht uns vor Augen, wenn wir diese Worte 
			hören: „Du, Gott, bist mir fremd“? Welche Erinnerungen kommen da 
			hoch, wo wir mit Gott „im Clinch“ lagen? Ich weiß nicht, ob es Ihnen 
			jetzt genauso ging wie mir als ich das erste Mal über diese Frage 
			nachdachte und sofort an wirklich schlimme Erfahrungen im Leben 
			denken musste: z.B. wenn Vater oder Mutter den Tod des eigenen 
			Kindes erleben müssen; oder die Erfahrung, über Jahre ohnmächtig mit 
			ansehen zu müssen, wie ein geliebter Mensch dahinsiechen muss ohne 
			Aussicht auf Heilung. Wie viel Tränen, wie viel Verzweiflung gibt es 
			in unseren Krankenhäusern! Und wie viele altgewordene Frauen und 
			Männer sehnen sich in unseren Altenheimen nach Erlösung! 
			 
			Es gibt so viel Leid und Schmerz und Elend auf dieser Welt! An 
			solche und ähnlich schlimme Erfahrungen musste ich denken, an die 
			Grenzerfahrungen des Lebens – im doppelten Sinne des Wortes: 
			Erfahrungen mit der Grenze des Lebens, dem Tod, dem Lebenszerstörer 
			und Allesvernichter, an dem die Frage nach dem Sinn des Lebens, 
			unseres Lebens, meines Lebens aufbricht und zugleich unterzugehen 
			droht. An Erfahrungen musste ich denken, die uns an die Grenze 
			führen: die Grenze unserer Belastbarkeit, die Grenze dessen, was wir 
			noch aushalten können, die Grenze auch dessen, was wir noch 
			verstehen können. 
			 
			„Du, Gott, bist mir fremd“ – so sachlich, so emotionslos redet dann 
			allerdings kein Mensch, wenn er eine solche Grenzerfahrung macht. Er 
			wird vielmehr seinen Schmerz und sein Leid hinausschreien, wird mit 
			Gott „hadern“ – wenn er überhaupt noch zu Worten fähig ist, wenn er 
			überhaupt noch an einen Gott glauben kann. Von einem „Clinch mit 
			Gott“ zu reden ist dann auch eine Verharmlosung dessen, was hier 
			geschieht. 
			 
			Ist das das Thema: der fremde Gott? Der Gott, den wir in den 
			Grenzsituationen des Lebens nicht verstehen, an dem wir verzweifeln? 
			Der uns sagt: „Meine Wege sind nicht eure Wege.“ Die Alten wussten 
			davon zu reden. Auch Martin Luther sprach vom dunklen, vom 
			verborgenen Gott - weshalb wir uns, so sagte er im gleichen Atemzug, 
			umso dringlicher an den offenbaren Gott halten sollen: an den Gott, 
			der sich in Jesus Christus als Macht der Liebe offenbart hat, einer 
			Liebe, die stärker ist als selbst der Tod. An den in Jesus Christus 
			offenbaren Gott sollen wir uns wenden, der seinem Sohn die 
			Grenzerfahrung eines sinnlosen, gewaltsamen Todes nicht ersparte und 
			ihn die Verzweiflung darüber stellvertretend für alle hinausschreien 
			ließ: Mein Gott, mein Gott, warum...?! - um diese Erfahrung ein für 
			alle Mal heimzuholen in Gottes liebende Gegenwart. 
			 
			2. Aber vielleicht ist das Thema auch anders zu verstehen, viel 
			alltäglicher. „Du bist mir fremd, Gott.“ – Ich glaube eine große 
			Zahl von Menschen heutzutage in Europa, in Deutschland, ja auch hier 
			in Hof, würde diesen Satz unterschreiben: Ja, du bist mir fremd, 
			Gott. Ich kenne dich nicht oder nur vage. Ich weiß auch zuwenig von 
			dir, am wenigsten von Jesus Christus, deinem Sohn. Ich habe – 
			ehrlich gesagt – auch keine Zeit für dich.  
			 
			„Mit Gott im Clinch“ zu sein meint dann, dass das schlechte Gewissen 
			sich ständig entschuldigt, dass es für solche Fragen keine Zeit hat: 
			- der Frage nach dem Sinn des Lebens angesichts auch meines gewissen 
			Todes 
			- der Frage, wie ich meinen Hunger nach Leben stille - und wo  
			- der Frage, was wirklich wichtig ist in der langen oder auch nur 
			kurzen Zeit meines Lebens 
			- der Frage, wer dieser mein Gott ist, der mir dieses Leben 
			geschenkt hat – und wer ich bin, von dem Gott sagt, ich sei sein 
			Ebenbild. 
			 
			Mir scheint, unsere heutige Gesellschaft hat sich einen Lebensstil 
			gegeben, bei dem für diese Fragen kaum oder gar keine Zeit bleibt, 
			wo Gott aus dem Alltag vieler Menschen, ja sehr vieler Menschen 
			einfach herausgefallen ist. Arbeit und Wirtschaft haben eine 
			dominierende Stellung eingenommen und beherrschen das Familienleben 
			ebenso wie das kirchliche Leben, die Politik ebenso wie die 
			Wissenschaften und die Künste. Da wundert es nicht, dass bei solcher 
			Lebens- und Arbeitsweise bei vielen Menschen die regelmäßige Pflege 
			der Beziehung zu Gott kaum oder gar keinen Platz mehr hat – und dass 
			wahrscheinlich auch deshalb soviel Unzufriedenheit und auch 
			Unfrieden unter den Menschen herrscht! Ist doch das Leben mehr als 
			nur Arbeit und Geldverdienst und der Mensch mehr als die materiellen 
			Güter, die er erwirbt! Freilich – dieses „mehr“ will gesucht und 
			gefunden, will gehegt und gepflegt werden. Den „inneren Frieden“, 
			das Sattwerden der Seele kann man mit Geld nicht kaufen. 
			 
			Statistiken haben bekanntlich nur einen begrenzten Aussagewert. Das 
			gilt sicherlich auch für die Statistik unserer Landeshauptstadt 
			München, die feststellt, dass ca. die Hälfte der Bevölkerung dieser 
			Millionenstadt keiner Kirche angehört. Nun ist die 
			Nichtzugehörigkeit zu einer Kirche sicher nicht gleichzusetzen mit 
			einem Nicht-Glauben an Gott. Aber wenn nicht in der Kirche, wo dann 
			wird die Heilige Schrift meditiert? Wo sonst wird die Seele stille 
			zu Gott? Wo anders erklingt das gemeinsame Loblied Gott zu Ehren? 
			 
			Ich frage und will doch nur sagen, dass jede Beziehung der aktiven 
			Pflege bedarf. Das gilt für unsere Beziehungen in der Familie und 
			unter Freunden, unter Nachbarn und Arbeitskollegen. Und das gilt 
			halt auch für die Beziehung zu Gott! Andernfalls bleibt mir dieser 
			Gott auf Dauer fremd – und mit ihm das Glück, das er schenkt.  
			 
			Es ist aufschlussreich, dass alle Lehrer der Theologie davon 
			sprechen, dass es eigentlich nur eine einzige Sünde gibt, die 
			„Ursünde“: nämlich nicht in Beziehung zu Gott, seinem Schöpfer, zu 
			leben; und sein Leben nicht aus dieser Beziehung heraus, aus Gottes 
			Nähe heraus, zu leben. Wie viele einzelne Tatsünden dann aus dieser 
			Beziehungslosigkeit zur „Quelle des Lebens“ – um einmal die 
			bildhafte Sprache der Psalmen zu benutzen – resultieren, das mag ein 
			jeder selbst ermessen. 
			 
			3. „Du bist mir fremd.“ In meinen Gedanken bin ich jetzt zweimal 
			davon ausgegangen, dass diese Worte zu Gott gesprochen sind, dass 
			also ein Mensch oder Menschen „im Clinch“ mit Gott liegen. Aber 
			könnte es sein, frage ich jetzt in einem letzten Schritt, dass diese 
			Sätze andersherum gemeint sind? Dass also Gott sagt: Du, Mensch, 
			bist mir fremd! Du bist so weit davon entfernt, mein Ebenbild zu 
			sein! Und könnte es sein, dass deshalb Gott mit dem Menschen in den 
			Clinch, in eine Art „Ringkampf“ geht? 
			 
			Wie ich auf diesen Gedanken gekommen bin will ich Ihnen sagen: 
			Unsere Väter im Glauben erzählen davon. Gleich im ersten Buch der 
			Bibel, im 1. Buch Mose, wird die Lebensgeschichte eines Mannes 
			erzählt. Er hat einen Zwillingsbruder, den er als junger Mann 
			betrügt, dabei täuscht und belügt er noch seinen Vater und muss 
			deshalb Hals über Kopf aus dem Elternhaus fliehen. Anschließend 
			arbeitet er sich 15 Jahre in der Fremde hoch, gründet eine Familie 
			und kommt zu Wohlstand für sich und die Seinen – aber auch dieses 
			nur mit Irrungen und Wirrungen und ohne dass von Gott überhaupt die 
			Rede ist. 
			 
			Kurz eine Geschichte, die – würde sie nicht von einem Viehzüchter in 
			der Steppe des Vorderen Orients erzählen – ebenso gut hier und heute 
			in Hof passiert sein könnte. Ich rede vom Stammvater Jakob, wie 
			einige von Ihnen sicherlich erkannt haben: DER Geschichte des 
			Erwachsenwerdens in der Bibel. Und wer diese Geschichte liest, dem 
			fällt auf, dass von Gott im Leben des Jakob nur an zwei, drei 
			Stellen die Rede ist, das allerdings an herausgehobenen Stellen: das 
			erste Mal da ist der junge Mann eben aus dem Elternhaus geflohen, 
			schläft nachts auf freiem Feld und träumt vom „Himmel auf Erden“. 
			Was ihm als „Himmelsleiter“ im Traum erscheint versichert ihm Gottes 
			Stimme im Traum: „Siehe, ich bin mit dir und will dich behüten. Denn 
			Ich will dich nicht verlassen!“ (1.Mose 28.15ff) 
			 
			Die zweite Begegnung möchte ich Ihnen jetzt (noch einmal) vorlesen. 
			Sie spielt 15 Jahre später, als Jakob ein gemachter Mann ist und 
			beschließt, mit seiner Familie und seinem Hab und Gut heimzukehren 
			zu seinen Eltern - wohl wissend, dass sein Bruder damals geschworen 
			hatte, ihn umzubringen. 
			 
			Lesen: 1. Mose 32, 23-32 
			 
			Alles, was er hatte, bringt Jakob über den Fluss: seine Familie, 
			sein Hab und Gut – nur sich selbst nicht. Dieses „Über-den-Fluss-Bringen“ 
			hat eine tiefe Bedeutung. Wir kennen sie aus Märchen: Der Fluss, den 
			der Held überqueren muss, markiert eine Grenze. Am andern Ufer 
			beginnt das gelobte Land. Aber während im Märchen ein Fährmann den 
			Helden hinüberbringt, heißt es bei Jakob: „Da rang ein Mann mit ihm, 
			bis die Morgenröte anbrach.“ Obwohl Jakob diesen Mann nicht als Gott 
			erkennt, lässt die Geschichte selbst und ihre Auslegung in der 
			Tradition keinen Zweifel daran, dass hier Gott gemeint ist. Gott 
			geht mit Jakob in den Clinch, bis die Morgenröte anbricht! Danach 
			gibt er ihm einen neuen Namen: „Israel“, „Gottesstreiter“ heißt 
			Jakob fortan. Und ein anderer ist er von da an: Sicherlich ein 
			Gezeichneter, einer, der fortan hinken wird. Aber auch ein 
			Gesegneter, einer, der Gott seinen Segen regelrecht abgerungen hat. 
			Kurz: Erwachsen ist er, der Jakob. 
			 
			„Du bist mir fremd. Mit Gott im Clinch.“ – Was ist nun das Thema? 
			Was ist IHR Thema? Der ferne und verborgene Gott? Der Gott, der mir 
			fremd ist, weil ich keine oder nur eine sehr entfernte Beziehung zu 
			ihm habe? Oder der Gott, der in der Dunkelheit mit mir ringt, bis 
			die Morgenröte anbricht? 
			 
			Ich weiß es nicht. Ich kann nur von mir sagen, dass mir keiner 
			dieser drei Erfahrungsbereiche fremd ist. Und dass es für mich immer 
			gut war, wenn ich einen Menschen hatte, mit dem ich mich darüber 
			austauschen konnte. Haben Sie einen? Hier, unter uns sollte ein 
			jeder einen haben. Denn so fängt nach meinem Verständnis Kirche an: 
			dass wir einander unsere Erfahrungen erzählen – auch und gerade die, 
			wo Gott für uns ganz, ganz ferne war; dass wir einander ermutigen 
			uns Zeit zu nehmen für unseren Seelenfrieden; und dass wir einander 
			trösten mit den Geschichten des Glaubens, die schon unsere Väter und 
			Mütter des Glaubens erzählt haben.  
			 
			
			Pfarrer Rudolf Koller 
			  
		(Hospitalkirche 
			Hof)  | 
			Text: 
			23 Und Jakob stand auf in der Nacht und nahm 
			seine beiden Frauen und die beiden Mägde und seine elf Söhne und zog 
			an die Furt des Jabbok, 
			24 nahm sie und führte sie über das Wasser, sodass hinüberkam, was 
			er hatte, 
			25 und blieb allein zurück. 
			 
			Da rang ein Mann mit ihm, bis die Morgenröte anbrach. 
			26 Und als er sah, dass er ihn nicht übermochte, schlug er ihn auf 
			das Gelenk seiner Hüfte, und das Gelenk der Hüfte Jakobs wurde über 
			dem Ringen mit ihm verrenkt. 
			27 Und er sprach: Lass mich gehen, denn die Morgenröte bricht an. 
			Aber Jakob antwortete: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. 
			28 Er sprach: Wie heißt du? Er antwortete: Jakob. 
			29 Er sprach: Du sollst nicht mehr Jakob heißen, sondern Israel; 
			denn du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast gewonnen. 
			30 Und Jakob fragte ihn und sprach: Sage doch, wie heißt du? Er aber 
			sprach: Warum fragst du, wie ich heiße? Und er segnete ihn daselbst. 
			 
			31 Und Jakob nannte die Stätte Pnuël; denn, sprach er, ich habe Gott 
			von Angesicht gesehen, und doch wurde mein Leben gerettet. 
			32 Und als er an Pnuël vorüberkam, ging ihm die Sonne auf; und er 
			hinkte an seiner Hüfte. 
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