Liebe Leser, von einem Bild soll heute
die Rede sein, von einem Urbild unseres Glaubens, einem Gottesbild
des Alten und Neuen Testamentes: dem guten Hirten, zu dem wir uns -
beispielsweise mit den Worten des 23.Psalms - betend wenden, und
der, wie Johannes in seinem Evangelium sagt, die „Seinen“ kennt,
jedes einzelne Schaf, auch die, die nicht aus diesem Stall sind. Von
diesem Urbild unseres Glaubens, vom Symbol des guten Hirten für
Gott, möchte ich zuerst reden: von seiner Mächtigkeit, die Tiefes
und Großes in unserem Herzen zum Schwingen bringen kann.
Aber dann möchte ich auch auf die Übertragung des Bildes von Gott,
dem guten Hirten, auf die vielen Hirten in den Kirchen - und ihre
vielen Herden - zu sprechen kommen: Der heutige Predigttext im 1.
Brief des Apostel Petrus mahnt die Hirten der Gemeinden und mahnt
die Schafe der Hirten. Und dabei wird auch deutlich werden, dass
eine solche Übertragung eines Bildes „vom Himmel auf die Erde“, von
Gott zu seinem Bodenpersonal - sagen wir mal - Schwierigkeiten mit
sich bringt. Ein mächtiges Symbol für Gott, jetzt von Menschen
beansprucht und auf sie übertragen, kann andere, auch ursprünglich
nicht beabsichtigte Wirkungen entfalten. Und Gedichte einer
zeitgenössischen Dichterin, von Hilde Domin, werden uns in Auszügen
begleiten.
Zunächst: das Bild von Gott, dem guten Hirten. Aber wie nähern wir
uns seiner Mächtigkeit und Kraft? Betend? Meditierend? Das sind, das
wären Wege! Auf beiden Wegen würde das Bild jene Urerfahrung aus der
Kindheit vergegenwärtigen, die - egal, ob man sie in der Kindheit
real erlebt hat oder ob man sie sich nur wünschte - die jene
Sehnsucht mächtig macht: nach Geborgenheit und Zuhause; nach
jemandem, der bei mir ist wenn’s finster wird, der mir Essen und
Trinken gibt und mir Gutes und Heilsames tut angesichts und trotz
aller Anfechtungen und Gefährdungen des Lebens.
Das Bild des guten Hirten trifft sich da mit dem der guten Mutter:
sie nährt, sie schützt ihr Kind und gibt ihm Geborgenheit und
liebevolle Begleitung, so dass es hineinwachsen kann ins Leben,
durch alle Gefährdungen hindurch. Das Bild vom guten Hirten weckt,
nährt und hält sie lebendig: die Sehnsucht nach dem Ort jenseits
aller Schrecken, jenseits aller Hilflosigkeit, jenseits aller
Verletzung und Angst! Nicht nur als Ideal einer verlorenen Kindheit,
sondern als Sehnsucht nach dieser Erfahrung in der Gegenwart, jetzt
und hier und heute ...und wenn nicht heute, dann doch vielleicht
morgen!? Und wie wäre es, wenn dieser Ort nicht nur ein Ort für mich
wäre, sondern auch für Sie und für Sie - für alle! Für die ganze
Herde!?
Das Bild vom guten Hirten, der sein Leben gibt für das Leben seiner
Schafe, dieses Bild hält die Sehnsucht wach nach dem Ort in der
Zukunft, wo diese ganze zerrissene Welt heil wird.
Aber hören wir jetzt den heutigen Predigttext! Hören wir eine
Übertragung des Bildes von Gott als dem guten Hirten auf die
Gemeindeleiter als gute Hirten ihrer Herde:
1 Die Ältesten unter euch ermahne ich, der
Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an
der Herrlichkeit, die offenbart werden soll:
2 Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf
sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht
um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund,
3 nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als
Vorbilder der Herde.
4 So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die
unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen.
„Weidet die Herde!“ Die Auferstehung Jesu Christi, Ostern, prägt
zwar das Leben der Christen - hoffentlich! -, so dass ein Christ
sein Leben in freudiger Zuversicht führen kann, aber prägen heißt ja
noch nicht gestalten. Und Leben will gestaltet sein - für Christen
im österlichen Sinn! Für Petrus heißt das ganz selbstverständlich:
Hier sind die Hirten, dort ist die Herde. Und zu den Hirten sagt er:
Weidet die Herde! Und fügt hinzu: „nicht gezwungen!“, „nicht um
schändlichen Gewinns willen!“, „nicht als Herren über die Gemeinde!“
- Doch eigentlich selbstverständlich für ein österliches Leben!
Dass Petrus dies dennoch so betont anmahnt, signalisiert:
offensichtlich gibt es da ein Problem! Ein Problem, das anders als
im Himmel auf Erden beinahe zwangsläufig gegeben ist mit der
Ausübung von Herrschaft und dem Gebrauch von Macht. In der Kirche:
auf Seiten der Hirten und ihres Umganges mit der Macht. Aber halt
auch auf der anderen Seite: auf Seiten der Herde und ihrer Neigung,
Herrschaft hinzunehmen, ja, sie geradezu zu verlangen nach dem
Kindheitsmuster: Sorge du für uns!
Der französische Historiker und Philosoph Michel Foucault beschreibt
die Auswirkungen pastoraler Macht folgendermaßen: „Die christliche
Kirche hat die einzigartige Idee entwickelt - die übrigens der
antiken Kultur gänzlich fremd war -, dass jedes Individuum
unabhängig von seinem Alter, von seiner Stellung sein ganzes Leben
hindurch und bis ins Detail seiner Aktionen hinein regiert werden
müsse und sich regieren lassen müsse, dass es sich (...) zu seinem
Heil lenken lassen müsse (...) und zwar von jemandem, mit dem es in
einem umfassenden und zugleich peniblen Gehorsamsverhältnis
verbunden sei.“
Ich weiß nicht, ob Michel Foucault bei dieser Äußerung konkret die
katholische Kirche Frankreichs oder eine andere vor Augen stand.
Dessen ungeachtet ist richtig, dass sich Kirchen in ihrer
Verfasstheit an der Art der Ausübung von Herrschaft unterscheiden.
Und richtig ist m.E. auch, dass sich in dieser Frage des Gebrauchs
von Macht das Wesen einer christlichen Kirche überhaupt entscheidet!
Nämlich inwieweit sie „österliche“ Kirche ist: Kirche, die in ihren
Strukturen, aber vor allem auch in ihren Gläubigen durchscheinend
ist für Ostern.
Werfen wir auch kurz einen Blick auf unsere gegenwärtige
Gesellschaft: Anstelle kirchlicher Hirten regieren ja heute
Politiker und andere. An die Stelle pastoraler Herrschaft ist heute
der Wohlfahrtsstaat, die säkularisierte Pastoralmacht getreten.
Sicher: der Wohlfahrtsstaat ist eine der höchsten Errungenschaften
des christlichen Abendlandes. Aber stößt er nicht heute an seine
Grenzen? Und dabei meine ich nicht die der Finanzierbarkeit!
„Sorge du für mich!“ ist doch keine christliche Haltung, wie Michel
Foucault unterstellt. Das ist die Bitte des Notleidenden und: das
ist sein Recht! Wenn also heute allenthalben mehr Eigenverantwortung
gefordert wird, dann sollten wir als Christen diese Diskussion nicht
den anderen überlassen. Dann sollten wir sie positiv aufnehmen und
uns einbringen ins Gespräch: mit dem ganzen Reichtum einer
österlichen Kirche! Und der reicht doch wohl von der Genügsamkeit
eines jesuanischen „Sorge dich nicht um den morgigen Tag“ bis hin zu
einem großzügigen Verschenken von Reichtum zu einem guten, einem
sozialen Zweck - ausgedrückt bei Paulus in der Haltung des „Habens,
als hätte man nicht“. Sich als Christ so einzubringen heißt für mich
dann, ein Schaf zu sein, das vertrauensvoll der Stimme seines Hirten
folgt. Und heißt für mich zugleich: nicht lebenslang ein dummes
Schaf zu bleiben!
Das soll genügen. Soviel zum Bild des guten Hirten, seiner
Übertragung auf die Kirche und seinen säkularen Ausläufern. Und nun
möchte ich dem Bild vom guten Hirten drei verwandte, ja in meinen
Augen unbedingt zu ihm gehörende Bilder an die Seite stellen. Und
dabei auch Hilde Domin endlich zu Wort kommen lassen.
Der Hirte ist ein Mann! Sein Gegenstück? Die Schäferin! Aber wie
anders ist doch dieses Bild! Saftige Frühlingsweiden in sonniger,
blühender Landschaft sind ihr Ort. Sie ist jung und schön und
springt mit den Lämmern um die Wette. Weniger Fürsorge und
Verantwortungsbewusstsein kennzeichnen sie, als Lebenslust, Frohsinn
und vor allem Eros! Wo die Schäferin auftritt – z.B. in „Bastien und
Bastienne“ von Mozart –, da ist der junge Hirte nicht fern, mit dem
sich alsbald das Liebesspiel anspinnt.
Ich frage Sie: Ist das ein ganz anderes Bild? Oder ist das nicht
vielmehr die Rückseite des guten Hirten, seine erotische und auch
chaotische Seite?! Freilich, wenn Trieb und Sinnenlust von ihm
getrennt ist, wenn er sie abgegeben hat an die junge Frau, nach der
er sich ebenso sehnt wie er sie fürchtet, dann macht ihm die
Schäferin deutlich, um welchen Preis der Hirte seine Macht erringt:
Freude am Leben gibt es für ihn wenig. Und auch den Schafen wird er
Triebverzicht auferlegen, damit sie ihn nicht gar zu sehr
beunruhigen und verunsichern. Erkennen Sie hier Momente kirchlicher
Realität?
Nach der Schäferin nun das zweite Bild: „Ich armer hilfloser Hirte“
von Hilde Domin: „Das kleine, schwarze Schaf, das stößige mit der
weißen Locke und den zärtlichen Augen: wo führ ich es hin? Wo
schließ‘ ich es weg? In welch sicheren Stall, mein kleines schwarzes
Schaf, mein einziges Schaf, wenn die Gefahr kommt? die furchtbare
Pest, die alle Herden verseucht? – Schon öffnen sich die Gräben für
das große Sterben und halten die Fackeln bereit für das Verbrennen
der Leichen. – Ich armer hilfloser Hirte! – Mein Schäfchen mit den
zärtlichen Augen, - auf welche Alm, auf welch verlässlichen Stern
mit guten Kräutern rett‘ ich es hin?“
Ein Hirte spricht hier, der sich liebevoll um ein Schaf sorgt, es
schützen möchte. Aber schmerzlich spürt er seine eigenen Grenzen und
Ängste, seine Hilflosigkeit angesichts einer Wirklichkeit, die mit
Krieg und Gewalt alles Leben bedroht. Wohl wissen auch wir, dass wir
unseres Bruders Hüter sein sollen. Aber ebenso erfahren wir, wie
gering unsere Möglichkeiten sind. Wer von uns wollte sich anmaßen,
all die zu schützen, die heutzutage traumatisiert, vertrieben,
verletzt oder in Armut gefallen sind? Sie brauchen Solidarität und
Unterstützung. Und sie bekommen sie auch immer wieder. Aber zugleich
konfrontieren sie die Heilenden mit ihrer Hilflosigkeit, stellen
ihnen Leiden und Widerstände vor Augen, die das Maß ihres Einflusses
weit überschreiten!
Der hilflose Hirte warnt die hilflosen Helfer somit vor Größenwahn -
und erinnert daran, dass Hirt und Herde auch zwei Teilaspekte einer
Person sind: unserer Person! Sie dürfen nicht aufhören, sich
gegenseitig zu suchen und zu rufen!
Das letzte Bild, das zum Bild des guten Hirten dazugehört: es gibt
keinen Hirten! Wieder Hilde Domin: „Die schwersten Wege werden
allein gegangen: die Enttäuschung, der Verlust, das Opfer sind
einsam. Selbst der Tote, der jedem Ruf antwortet und sich keiner
Bitte versagt, steht uns nicht bei (...) und sieht zu, ob wir es
vermögen. Die Hände der Lebenden, die sich ausstrecken, ohne uns zu
erreichen, sind wie die Äste der Bäume im Winter (...) Alle Vögel
schweigen (...) Man hört nur den eigenen Schritt (...) und den
Schritt, den der Fuß noch nicht gegangen ist, aber gehen wird.
Stehenbleiben und sich umdrehen hilft nicht. Es muss gegangen sein!“
Allein muss gegangen sein, gerade dann, wenn es am schwersten ist.
Viele finstere Täler, die Menschen durchwandern, lassen sich in
diese nüchternen, illusionslosen Worte einzeichnen. Es ist so, dass
die schlimmsten Lebenssituationen oft eine Einsamkeit mit sich
bringen, die nur durch eigene Schritte zu bewältigen ist! Keine
menschliche Hilfe kommt an. Es gibt keinen „Hirten“! Auch Christus
ist fern und „sieht zu, ob wir es vermögen“
Schwerste Wege sind menschen- und gottverlassene Wege. Niemand
bereitet den Tisch. Niemand kann führen und begleiten. Nur eigene
Schritte zählen. Wer sie nicht tut, bleibt im Elend. Das Bild vom
guten Hirten hat hier seinen schärfsten Kontrapunkt: im Schrei des
Gekreuzigten, der seine ganze Gottverlassenheit hinausschreit. Und
niemand kann diesen Schrei überhören, wenn er die Wirklichkeit nicht
schönen will, sondern es wagt, auch in ihren Abgrund zu blicken.
So frage ich zum Schluss: Müssen wir uns also verabschieden vom
Gottesbild des guten Hirten?
Ja, sage ich, das müssen wir, wo es Eros und Lebenslust aus Kirche
und Leben verbannt! Ja, sage ich, das müssen wir, wo es uns
verführt, unsere Angst und Hilflosigkeit zu übertönen, und wir so
zum Übermenschen, aber eigentlich zum Unmenschen werden! Ja, sage
ich, das müssen wir, wo es uns in kindlicher Abhängigkeit hält, in
einem kindlichen Glauben an das Gute, der den eigenen Schritt
verhindert.
Nein, sage ich, wo das Bild vom guten Hirten uns an den Ort erinnert
jenseits aller Schrecken, jenseits aller Hilflosigkeit; jenseits
aller Verletzung und Angst. Und wo es die Erinnerung wachhält und
die Sehnsucht mächtig macht, dass Ostern uns allen blüht!
Beim guten Hirten zu sein ist dann ein Bild dieses Ortes - Hoffnung
der Menschen, gewisse Zuversicht der Glaubenden. Und doch können wir
als Glaubende, können wir als Menschen diesen Ort immer nur
sporadisch und auf Zeit in Anspruch nehmen. Sonst wendet er sich
gegen uns.
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche Hof) |
... zur Predigtseite der Hospitalkirche
Text:
1 Die Ältesten unter euch ermahne ich, der
Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an
der Herrlichkeit, die offenbart werden soll:
2 Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf
sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht
um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund,
3 nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als
Vorbilder der Herde.
4 So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die
unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen.
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