Predigt    1. Petrus 5/1-4     Miserikordias Domini (Hirtensonntag)    15.04.18

"Die Rückseite des guten Hirten"
(von Pfarrer Rudolf Koller, Hospitalkirche Hof)
 

Liebe Leser,

von einem Bild soll heute die Rede sein, von einem Urbild unseres Glaubens, einem Gottesbild des Alten und Neuen Testamentes: dem guten Hirten, zu dem wir uns - beispielsweise mit den Worten des 23.Psalms - betend wenden, und der, wie Johannes in seinem Evangelium sagt, die „Seinen“ kennt, jedes einzelne Schaf, auch die, die nicht aus diesem Stall sind. Von diesem Urbild unseres Glaubens, vom Symbol des guten Hirten für Gott, möchte ich zuerst reden: von seiner Mächtigkeit, die Tiefes und Großes in unserem Herzen zum Schwingen bringen kann.

Aber dann möchte ich auch auf die Übertragung des Bildes von Gott, dem guten Hirten, auf die vielen Hirten in den Kirchen - und ihre vielen Herden - zu sprechen kommen: Der heutige Predigttext im 1. Brief des Apostel Petrus mahnt die Hirten der Gemeinden und mahnt die Schafe der Hirten. Und dabei wird auch deutlich werden, dass eine solche Übertragung eines Bildes „vom Himmel auf die Erde“, von Gott zu seinem Bodenpersonal - sagen wir mal - Schwierigkeiten mit sich bringt. Ein mächtiges Symbol für Gott, jetzt von Menschen beansprucht und auf sie übertragen, kann andere, auch ursprünglich nicht beabsichtigte Wirkungen entfalten. Und Gedichte einer zeitgenössischen Dichterin, von Hilde Domin, werden uns in Auszügen begleiten.

Zunächst: das Bild von Gott, dem guten Hirten. Aber wie nähern wir uns seiner Mächtigkeit und Kraft? Betend? Meditierend? Das sind, das wären Wege! Auf beiden Wegen würde das Bild jene Urerfahrung aus der Kindheit vergegenwärtigen, die - egal, ob man sie in der Kindheit real erlebt hat oder ob man sie sich nur wünschte - die jene Sehnsucht mächtig macht: nach Geborgenheit und Zuhause; nach jemandem, der bei mir ist wenn’s finster wird, der mir Essen und Trinken gibt und mir Gutes und Heilsames tut angesichts und trotz aller Anfechtungen und Gefährdungen des Lebens.

Das Bild des guten Hirten trifft sich da mit dem der guten Mutter: sie nährt, sie schützt ihr Kind und gibt ihm Geborgenheit und liebevolle Begleitung, so dass es hineinwachsen kann ins Leben, durch alle Gefährdungen hindurch. Das Bild vom guten Hirten weckt, nährt und hält sie lebendig: die Sehnsucht nach dem Ort jenseits aller Schrecken, jenseits aller Hilflosigkeit, jenseits aller Verletzung und Angst! Nicht nur als Ideal einer verlorenen Kindheit, sondern als Sehnsucht nach dieser Erfahrung in der Gegenwart, jetzt und hier und heute ...und wenn nicht heute, dann doch vielleicht morgen!? Und wie wäre es, wenn dieser Ort nicht nur ein Ort für mich wäre, sondern auch für Sie und für Sie - für alle! Für die ganze Herde!?
Das Bild vom guten Hirten, der sein Leben gibt für das Leben seiner Schafe, dieses Bild hält die Sehnsucht wach nach dem Ort in der Zukunft, wo diese ganze zerrissene Welt heil wird.

Aber hören wir jetzt den heutigen Predigttext! Hören wir eine Übertragung des Bildes von Gott als dem guten Hirten auf die Gemeindeleiter als gute Hirten ihrer Herde:

1 Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll:
2 Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund,
3 nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde.
4 So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen.

„Weidet die Herde!“ Die Auferstehung Jesu Christi, Ostern, prägt zwar das Leben der Christen - hoffentlich! -, so dass ein Christ sein Leben in freudiger Zuversicht führen kann, aber prägen heißt ja noch nicht gestalten. Und Leben will gestaltet sein - für Christen im österlichen Sinn! Für Petrus heißt das ganz selbstverständlich: Hier sind die Hirten, dort ist die Herde. Und zu den Hirten sagt er: Weidet die Herde! Und fügt hinzu: „nicht gezwungen!“, „nicht um schändlichen Gewinns willen!“, „nicht als Herren über die Gemeinde!“ - Doch eigentlich selbstverständlich für ein österliches Leben!

Dass Petrus dies dennoch so betont anmahnt, signalisiert: offensichtlich gibt es da ein Problem! Ein Problem, das anders als im Himmel auf Erden beinahe zwangsläufig gegeben ist mit der Ausübung von Herrschaft und dem Gebrauch von Macht. In der Kirche: auf Seiten der Hirten und ihres Umganges mit der Macht. Aber halt auch auf der anderen Seite: auf Seiten der Herde und ihrer Neigung, Herrschaft hinzunehmen, ja, sie geradezu zu verlangen nach dem Kindheitsmuster: Sorge du für uns!

Der französische Historiker und Philosoph Michel Foucault beschreibt die Auswirkungen pastoraler Macht folgendermaßen: „Die christliche Kirche hat die einzigartige Idee entwickelt - die übrigens der antiken Kultur gänzlich fremd war -, dass jedes Individuum unabhängig von seinem Alter, von seiner Stellung sein ganzes Leben hindurch und bis ins Detail seiner Aktionen hinein regiert werden müsse und sich regieren lassen müsse, dass es sich (...) zu seinem Heil lenken lassen müsse (...) und zwar von jemandem, mit dem es in einem umfassenden und zugleich peniblen Gehorsamsverhältnis verbunden sei.“

Ich weiß nicht, ob Michel Foucault bei dieser Äußerung konkret die katholische Kirche Frankreichs oder eine andere vor Augen stand. Dessen ungeachtet ist richtig, dass sich Kirchen in ihrer Verfasstheit an der Art der Ausübung von Herrschaft unterscheiden. Und richtig ist m.E. auch, dass sich in dieser Frage des Gebrauchs von Macht das Wesen einer christlichen Kirche überhaupt entscheidet! Nämlich inwieweit sie „österliche“ Kirche ist: Kirche, die in ihren Strukturen, aber vor allem auch in ihren Gläubigen durchscheinend ist für Ostern.

Werfen wir auch kurz einen Blick auf unsere gegenwärtige Gesellschaft: Anstelle kirchlicher Hirten regieren ja heute Politiker und andere. An die Stelle pastoraler Herrschaft ist heute der Wohlfahrtsstaat, die säkularisierte Pastoralmacht getreten. Sicher: der Wohlfahrtsstaat ist eine der höchsten Errungenschaften des christlichen Abendlandes. Aber stößt er nicht heute an seine Grenzen? Und dabei meine ich nicht die der Finanzierbarkeit!

„Sorge du für mich!“ ist doch keine christliche Haltung, wie Michel Foucault unterstellt. Das ist die Bitte des Notleidenden und: das ist sein Recht! Wenn also heute allenthalben mehr Eigenverantwortung gefordert wird, dann sollten wir als Christen diese Diskussion nicht den anderen überlassen. Dann sollten wir sie positiv aufnehmen und uns einbringen ins Gespräch: mit dem ganzen Reichtum einer österlichen Kirche! Und der reicht doch wohl von der Genügsamkeit eines jesuanischen „Sorge dich nicht um den morgigen Tag“ bis hin zu einem großzügigen Verschenken von Reichtum zu einem guten, einem sozialen Zweck - ausgedrückt bei Paulus in der Haltung des „Habens, als hätte man nicht“. Sich als Christ so einzubringen heißt für mich dann, ein Schaf zu sein, das vertrauensvoll der Stimme seines Hirten folgt. Und heißt für mich zugleich: nicht lebenslang ein dummes Schaf zu bleiben!

Das soll genügen. Soviel zum Bild des guten Hirten, seiner Übertragung auf die Kirche und seinen säkularen Ausläufern. Und nun möchte ich dem Bild vom guten Hirten drei verwandte, ja in meinen Augen unbedingt zu ihm gehörende Bilder an die Seite stellen. Und dabei auch Hilde Domin endlich zu Wort kommen lassen.

Der Hirte ist ein Mann! Sein Gegenstück? Die Schäferin! Aber wie anders ist doch dieses Bild! Saftige Frühlingsweiden in sonniger, blühender Landschaft sind ihr Ort. Sie ist jung und schön und springt mit den Lämmern um die Wette. Weniger Fürsorge und Verantwortungsbewusstsein kennzeichnen sie, als Lebenslust, Frohsinn und vor allem Eros! Wo die Schäferin auftritt – z.B. in „Bastien und Bastienne“ von Mozart –, da ist der junge Hirte nicht fern, mit dem sich alsbald das Liebesspiel anspinnt.

Ich frage Sie: Ist das ein ganz anderes Bild? Oder ist das nicht vielmehr die Rückseite des guten Hirten, seine erotische und auch chaotische Seite?! Freilich, wenn Trieb und Sinnenlust von ihm getrennt ist, wenn er sie abgegeben hat an die junge Frau, nach der er sich ebenso sehnt wie er sie fürchtet, dann macht ihm die Schäferin deutlich, um welchen Preis der Hirte seine Macht erringt: Freude am Leben gibt es für ihn wenig. Und auch den Schafen wird er Triebverzicht auferlegen, damit sie ihn nicht gar zu sehr beunruhigen und verunsichern. Erkennen Sie hier Momente kirchlicher Realität?

Nach der Schäferin nun das zweite Bild: „Ich armer hilfloser Hirte“ von Hilde Domin: „Das kleine, schwarze Schaf, das stößige mit der weißen Locke und den zärtlichen Augen: wo führ ich es hin? Wo schließ‘ ich es weg? In welch sicheren Stall, mein kleines schwarzes Schaf, mein einziges Schaf, wenn die Gefahr kommt? die furchtbare Pest, die alle Herden verseucht? – Schon öffnen sich die Gräben für das große Sterben und halten die Fackeln bereit für das Verbrennen der Leichen. – Ich armer hilfloser Hirte! – Mein Schäfchen mit den zärtlichen Augen, - auf welche Alm, auf welch verlässlichen Stern mit guten Kräutern rett‘ ich es hin?“

Ein Hirte spricht hier, der sich liebevoll um ein Schaf sorgt, es schützen möchte. Aber schmerzlich spürt er seine eigenen Grenzen und Ängste, seine Hilflosigkeit angesichts einer Wirklichkeit, die mit Krieg und Gewalt alles Leben bedroht. Wohl wissen auch wir, dass wir unseres Bruders Hüter sein sollen. Aber ebenso erfahren wir, wie gering unsere Möglichkeiten sind. Wer von uns wollte sich anmaßen, all die zu schützen, die heutzutage traumatisiert, vertrieben, verletzt oder in Armut gefallen sind? Sie brauchen Solidarität und Unterstützung. Und sie bekommen sie auch immer wieder. Aber zugleich konfrontieren sie die Heilenden mit ihrer Hilflosigkeit, stellen ihnen Leiden und Widerstände vor Augen, die das Maß ihres Einflusses weit überschreiten!
Der hilflose Hirte warnt die hilflosen Helfer somit vor Größenwahn - und erinnert daran, dass Hirt und Herde auch zwei Teilaspekte einer Person sind: unserer Person! Sie dürfen nicht aufhören, sich gegenseitig zu suchen und zu rufen!

Das letzte Bild, das zum Bild des guten Hirten dazugehört: es gibt keinen Hirten! Wieder Hilde Domin: „Die schwersten Wege werden allein gegangen: die Enttäuschung, der Verlust, das Opfer sind einsam. Selbst der Tote, der jedem Ruf antwortet und sich keiner Bitte versagt, steht uns nicht bei (...) und sieht zu, ob wir es vermögen. Die Hände der Lebenden, die sich ausstrecken, ohne uns zu erreichen, sind wie die Äste der Bäume im Winter (...) Alle Vögel schweigen (...) Man hört nur den eigenen Schritt (...) und den Schritt, den der Fuß noch nicht gegangen ist, aber gehen wird. Stehenbleiben und sich umdrehen hilft nicht. Es muss gegangen sein!“

Allein muss gegangen sein, gerade dann, wenn es am schwersten ist. Viele finstere Täler, die Menschen durchwandern, lassen sich in diese nüchternen, illusionslosen Worte einzeichnen. Es ist so, dass die schlimmsten Lebenssituationen oft eine Einsamkeit mit sich bringen, die nur durch eigene Schritte zu bewältigen ist! Keine menschliche Hilfe kommt an. Es gibt keinen „Hirten“! Auch Christus ist fern und „sieht zu, ob wir es vermögen“

Schwerste Wege sind menschen- und gottverlassene Wege. Niemand bereitet den Tisch. Niemand kann führen und begleiten. Nur eigene Schritte zählen. Wer sie nicht tut, bleibt im Elend. Das Bild vom guten Hirten hat hier seinen schärfsten Kontrapunkt: im Schrei des Gekreuzigten, der seine ganze Gottverlassenheit hinausschreit. Und niemand kann diesen Schrei überhören, wenn er die Wirklichkeit nicht schönen will, sondern es wagt, auch in ihren Abgrund zu blicken.

So frage ich zum Schluss: Müssen wir uns also verabschieden vom Gottesbild des guten Hirten?

Ja, sage ich, das müssen wir, wo es Eros und Lebenslust aus Kirche und Leben verbannt! Ja, sage ich, das müssen wir, wo es uns verführt, unsere Angst und Hilflosigkeit zu übertönen, und wir so zum Übermenschen, aber eigentlich zum Unmenschen werden! Ja, sage ich, das müssen wir, wo es uns in kindlicher Abhängigkeit hält, in einem kindlichen Glauben an das Gute, der den eigenen Schritt verhindert.

Nein, sage ich, wo das Bild vom guten Hirten uns an den Ort erinnert jenseits aller Schrecken, jenseits aller Hilflosigkeit; jenseits aller Verletzung und Angst. Und wo es die Erinnerung wachhält und die Sehnsucht mächtig macht, dass Ostern uns allen blüht!

Beim guten Hirten zu sein ist dann ein Bild dieses Ortes - Hoffnung der Menschen, gewisse Zuversicht der Glaubenden. Und doch können wir als Glaubende, können wir als Menschen diesen Ort immer nur sporadisch und auf Zeit in Anspruch nehmen. Sonst wendet er sich gegen uns.

Pfarrer Rudolf Koller     (Hospitalkirche Hof)

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Die Kanzel der Hospitalkirche Hof

Text:

1 Die Ältesten unter euch ermahne ich, der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi, der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll:
2 Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist, und achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt, nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund,
3 nicht als solche, die über die Gemeinden herrschen, sondern als Vorbilder der Herde.
4 So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte, die unverwelkliche Krone der Herrlichkeit empfangen.
 


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