Liebe Leser,
zur Losung für das neue Jahr gehört eine Geschichte. Das Volk Israel
braucht einen neuen König. Mit dem alten ist kein Staat mehr zu machen.
Der Prophet Samuel wird zu einem Mann namens Isai nach Bethlehem
geschickt, der acht Söhne hat – einer schmucker als der andere, wenn man
einmal von dem kleinsten absieht, der draußen beim Schafehüten ist. Ein
Sohn nach dem anderen lässt sich von Samuel begutachten und Samuel
gefällt, was er zu sehen bekommt. Aber jedes Mal sagt der Herr zu ihm: Der
ist es nicht!
Sind das der Knaben alle?, muss Samuel schließlich fragen und da wird zum
Erstaunen aller der kleine David geholt, ein Rotschopf, der noch grün
hinter den Ohren ist. Der wird später der König von Israel und ein Vorfahr
des Messias. Samuel hätte wahrscheinlich eine andere Wahl getroffen, aber
ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.
Ich erinnere mich noch an den kleinen Jungen, der mit Downsyndrom geboren
wurde und im Alter von drei Jahren starb. Ich hatte die Beerdigung zu
halten. Es war ein tränenreicher Weg für die Eltern, die so viel in dieses
behinderte Kind investiert hatten und unter dem Gefühl der Vergeblichkeit
litten. Sie haben mir Bilder gezeigt. Auf jedem Bild lachte der kleine
Junge, als würde sein Herz aus seinen Augen schauen. Für die Eltern war es
ein Trost, sich die Größe dieses Geschenks in Erinnerung zu rufen, das
dieser kleine Junge für ihr Leben war, auch wenn sie ihn so bald wieder
hergeben mussten.
Nicht jedem Kind schaut das Herz aus den Augen; und je älter sie werden,
um so weniger. Sie lernen von ihren Eltern und spätestens in der Schule
oder der Zeitung, dass sie sich verstellen und eine Rolle spielen müssen
um im Leben erfolgreich zu sein. Mehr scheinen, als sein, heißt die
gnadenlose Devise. Herzensbildung? Fehlanzeige! Aushängeschild für die
Person sind die Markenklamotten und das angesagte Handy. Einmal mit einem
von der Band Bro’Sis auf einem Foto – das ist es. Zu Silvester mindestens
so viele Kracher gebunkert haben, wie der Nachbar, ist „eine Frage der
Ehre“ und Lisa schließlich empfiehlt auf der Jugendseite unserer Zeitung
am gestrigen Montag in ihrem Lifestylereport, die Antworten auf die Frage
„was uns das neue Jahr an Liebe, Sex, Geld, Karriere und Glück bringt“
beim Pendeln, Sternedeuten, Kartenlegen oder beim „seriösen“ Wahrsager zu
suchen. Unten steht noch ein Bericht unter der schönen Überschrift
„Weihnachtskrach: Punkabilly und HipHop“, die angesagten Weihnachtsbräuche
unserer Jugendlichen. Das wäre ein gefundenes Fressen für Herbert
Riehl-Heyse gewesen, der am Heiligen Abend in der SZ unter dem Titel „In
einem frommen Land“ die Banalität eines heruntergekommen Weihnachtsfestes
und andererseits die Ängste vor einem EU-Beitritt der Türkei auf die
spitze Feder nimmt. Er schreibt: „Dann können wir ja jetzt die Kerzen am
Christbaum anzünden. Und gemeinsam mit E. Stoiber und seiner
Christen-Partei darum beten, dass uns der Mohammedaner nicht mit Hilfe der
EU unseren Glauben ruiniert.“ (ders. SZ vom 24.12.02)
Es geht halt nicht, dass sich alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit die
großen Magazine von Spiegel bis Stern in die Pose der Aufklärung werfen
und der biblischen Botschaft Lug und Trug nachweisen wollen – und auf der
anderen Seite die metaphysische Obdachlosigkeit und Banalität unserer Zeit
beklagen, die Ratlosigkeit über den richtigen Weg in die Zukunft, die
soziale Kälte, die allgemeine Skrupellosigkeit und Herzlosigkeit und dass
nichts mehr zusammengeht in diesem unseren Land. Erst räumt man gnadenlos
die Wohnung leer und setzt sich dann heulend vor die kahlen Wände. Oder
man nimmt Zuflucht zu mittelalterlichem Hokuspokus oder ballert sich – wie
der Attentäter Steinhäußer aus Erfurt – auf der LAN-Party in virtuellen
Kriegswelten die Birne zu. Aber natürlich „nicht wirklich“ wie man schnell
hinterher für die Galerie hinzufügt. „Nicht wirklich“ ist so eine
Redewendung, die unsere Lebenswelt als Ort höchster Täuschung entlarvt.
Und es scheint keinem was auszumachen. Gibt es überhaupt noch andere Orte?
Auch danach fragt die Jahreslosung für das neue Jahr. Wird Gott vielleicht
vergeblich nach unserem Herzen Ausschau halten? „Woran Du dein Herz
hängst, da ist dein Gott“, hat Martin Luther vor über 450 Jahren gesagt.
Vielleicht ist uns erst Gott und dann das eigene Herz abhanden gekommen
oder war’s umgekehrt? Egal! Aber auf jeden Fall bedrohlich. Bedrohlich
wenn ein Volk zu einem Volk von Jammerlappen verkommt und ihm beherzte
Menschen fehlen. Denn die Bibel hält nicht den Verstand, sondern das Herz
für das Organ der Wahrheit.
Das kann Angst machen. Wen Gott auf Herz und Nieren prüft, der kann Gott
und auch sich selbst nicht länger verborgen bleiben. Die Wahrheit über
sich selbst ist nicht immer erfreulich. Aber jedes Kind weiß, dass
Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Besserung ist. Oder ist das keine
Not: Zu leben, aber „nicht wirklich“; zu lieben und geliebt zu sein, aber
„nicht wirklich“; stark zu sein, aber „nicht wirklich“, Anerkennung zu
finden, aber „nicht wirklich“? Ist das keine Not, wenn nicht nur
Jugendliche sagen müssen: Was in mir wirklich vorgeht, interessiert
keinen, jedenfalls „nicht wirklich“?
Gott interessiert es. Das ist die frohe und notwendige Botschaft der
Jahreslosung. Sie ist Zuspruch und Anspruch zugleich. Was an Schmerz und
Lust uns wirklich bewegt, hat immer die größte Öffentlichkeit, die es
gibt. Es steht dem menschenfreundlichen Gott vor Augen. Selig sind, die
reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. (Mt. 5,8) So formuliert
es Jesus in der Bergpredigt.
Das reine Herz ist freilich keine moralische Kategorie. Denken wir an den
kleinen David, der als König auch zum Mörder und Ehebrecher wird. Ein
reines Herz ist ein Herz, dass offen bleibt vor und für Gott. Es kommt
vor, dass unser Herz finster und mutlos wird, dass es uns in die Hose
rutscht oder ganz aus dem Blick gerät. „Es ist das Herz ein trotzig und
verzagt Ding; wer kann es ergründen?“ (Jer. 17/9), fragt der Prophet
Jeremia. Und wie leicht kann es zerbrechen. Wie die Wahrheit ja auch!
Nur ein Herz, das offen für Gott bleibt, kann wieder hell und heil werden.
Und nur ein solches Herz kann andere wieder hell und heil machen. Der
kalte Blick hat sich unter uns nicht erst seit gestern breit gemacht; der
kalte Blick, der den Menschen als Kostenfaktor betrachtet oder abschätzt,
was mit ihm verdient werden kann. Was sieht ein solcher Blick vom
Menschen? Gar nichts! Der kleine Prinz hat recht: Man sieht nur mit dem
Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Denn das Herz
ist das Organ der Wahrheit. Da ist auch Gott einer Meinung.
Brauchen wir die große Flut, die Häuser einreißt, um das wieder zu
entdecken? Brauchen wir einen solchen bösen Einbruch in die Wirklichkeit,
damit in unserem Land für ein paar Wochen wieder etwas zusammengeht?
Lassen wir uns stattdessen von der Jahreslosung an den Gott erinnern, für
den sich alle Zukunft im Herzen entscheidet. Ein Mensch sieht, was vor
Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.
Ich wünsche Ihnen im neuen Jahr viele wesentliche Augenblicke des Herzens.
Und dann Sie werden merken, wie reich beschenkt wir sind und wie klein oft
die Dinge sind, die wir für unsere größten Sorgen halten. Vielleicht wird
es kein gutes Jahr. Vielleicht steht uns die nächste Flut ins Haus oder
der nächste Börsencrash. Vielleicht werden wir krank. Vielleicht gehen wir
unter. Aber nicht wirklich. Denn der Friede Gottes, der höher ist als alle
Vernunft, bewahrt unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr
aber sieht das Herz an.
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