Predigt    1. Samuel 16/7   Jahreslosung 2003   01.01.2003

"Das Organ der Wahrheit"
(von Pfr. Johannes Taig, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

zur Losung für das neue Jahr gehört eine Geschichte. Das Volk Israel braucht einen neuen König. Mit dem alten ist kein Staat mehr zu machen. Der Prophet Samuel wird zu einem Mann namens Isai nach Bethlehem geschickt, der acht Söhne hat – einer schmucker als der andere, wenn man einmal von dem kleinsten absieht, der draußen beim Schafehüten ist. Ein Sohn nach dem anderen lässt sich von Samuel begutachten und Samuel gefällt, was er zu sehen bekommt. Aber jedes Mal sagt der Herr zu ihm: Der ist es nicht!

Sind das der Knaben alle?, muss Samuel schließlich fragen und da wird zum Erstaunen aller der kleine David geholt, ein Rotschopf, der noch grün hinter den Ohren ist. Der wird später der König von Israel und ein Vorfahr des Messias. Samuel hätte wahrscheinlich eine andere Wahl getroffen, aber ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.

Ich erinnere mich noch an den kleinen Jungen, der mit Downsyndrom geboren wurde und im Alter von drei Jahren starb. Ich hatte die Beerdigung zu halten. Es war ein tränenreicher Weg für die Eltern, die so viel in dieses behinderte Kind investiert hatten und unter dem Gefühl der Vergeblichkeit litten. Sie haben mir Bilder gezeigt. Auf jedem Bild lachte der kleine Junge, als würde sein Herz aus seinen Augen schauen. Für die Eltern war es ein Trost, sich die Größe dieses Geschenks in Erinnerung zu rufen, das dieser kleine Junge für ihr Leben war, auch wenn sie ihn so bald wieder hergeben mussten.

Nicht jedem Kind schaut das Herz aus den Augen; und je älter sie werden, um so weniger. Sie lernen von ihren Eltern und spätestens in der Schule oder der Zeitung, dass sie sich verstellen und eine Rolle spielen müssen um im Leben erfolgreich zu sein. Mehr scheinen, als sein, heißt die gnadenlose Devise. Herzensbildung? Fehlanzeige! Aushängeschild für die Person sind die Markenklamotten und das angesagte Handy. Einmal mit einem von der Band Bro’Sis auf einem Foto – das ist es. Zu Silvester mindestens so viele Kracher gebunkert haben, wie der Nachbar, ist „eine Frage der Ehre“ und Lisa schließlich empfiehlt auf der Jugendseite unserer Zeitung am gestrigen Montag in ihrem Lifestylereport, die Antworten auf die Frage „was uns das neue Jahr an Liebe, Sex, Geld, Karriere und Glück bringt“ beim Pendeln, Sternedeuten, Kartenlegen oder beim „seriösen“ Wahrsager zu suchen. Unten steht noch ein Bericht unter der schönen Überschrift „Weihnachtskrach: Punkabilly und HipHop“, die angesagten Weihnachtsbräuche unserer Jugendlichen. Das wäre ein gefundenes Fressen für Herbert Riehl-Heyse gewesen, der am Heiligen Abend in der SZ unter dem Titel „In einem frommen Land“ die Banalität eines heruntergekommen Weihnachtsfestes und andererseits die Ängste vor einem EU-Beitritt der Türkei auf die spitze Feder nimmt. Er schreibt: „Dann können wir ja jetzt die Kerzen am Christbaum anzünden. Und gemeinsam mit E. Stoiber und seiner Christen-Partei darum beten, dass uns der Mohammedaner nicht mit Hilfe der EU unseren Glauben ruiniert.“ (ders. SZ vom 24.12.02)

Es geht halt nicht, dass sich alle Jahre wieder zur Weihnachtszeit die großen Magazine von Spiegel bis Stern in die Pose der Aufklärung werfen und der biblischen Botschaft Lug und Trug nachweisen wollen – und auf der anderen Seite die metaphysische Obdachlosigkeit und Banalität unserer Zeit beklagen, die Ratlosigkeit über den richtigen Weg in die Zukunft, die soziale Kälte, die allgemeine Skrupellosigkeit und Herzlosigkeit und dass nichts mehr zusammengeht in diesem unseren Land. Erst räumt man gnadenlos die Wohnung leer und setzt sich dann heulend vor die kahlen Wände. Oder man nimmt Zuflucht zu mittelalterlichem Hokuspokus oder ballert sich – wie der Attentäter Steinhäußer aus Erfurt – auf der LAN-Party in virtuellen Kriegswelten die Birne zu. Aber natürlich „nicht wirklich“ wie man schnell hinterher für die Galerie hinzufügt. „Nicht wirklich“ ist so eine Redewendung, die unsere Lebenswelt als Ort höchster Täuschung entlarvt. Und es scheint keinem was auszumachen. Gibt es überhaupt noch andere Orte?

Auch danach fragt die Jahreslosung für das neue Jahr. Wird Gott vielleicht vergeblich nach unserem Herzen Ausschau halten? „Woran Du dein Herz hängst, da ist dein Gott“, hat Martin Luther vor über 450 Jahren gesagt. Vielleicht ist uns erst Gott und dann das eigene Herz abhanden gekommen oder war’s umgekehrt? Egal! Aber auf jeden Fall bedrohlich. Bedrohlich wenn ein Volk zu einem Volk von Jammerlappen verkommt und ihm beherzte Menschen fehlen. Denn die Bibel hält nicht den Verstand, sondern das Herz für das Organ der Wahrheit.

Das kann Angst machen. Wen Gott auf Herz und Nieren prüft, der kann Gott und auch sich selbst nicht länger verborgen bleiben. Die Wahrheit über sich selbst ist nicht immer erfreulich. Aber jedes Kind weiß, dass Selbsterkenntnis der erste Schritt zur Besserung ist. Oder ist das keine Not: Zu leben, aber „nicht wirklich“; zu lieben und geliebt zu sein, aber „nicht wirklich“; stark zu sein, aber „nicht wirklich“, Anerkennung zu finden, aber „nicht wirklich“? Ist das keine Not, wenn nicht nur Jugendliche sagen müssen: Was in mir wirklich vorgeht, interessiert keinen, jedenfalls „nicht wirklich“?

Gott interessiert es. Das ist die frohe und notwendige Botschaft der Jahreslosung. Sie ist Zuspruch und Anspruch zugleich. Was an Schmerz und Lust uns wirklich bewegt, hat immer die größte Öffentlichkeit, die es gibt. Es steht dem menschenfreundlichen Gott vor Augen. Selig sind, die reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. (Mt. 5,8) So formuliert es Jesus in der Bergpredigt.

Das reine Herz ist freilich keine moralische Kategorie. Denken wir an den kleinen David, der als König auch zum Mörder und Ehebrecher wird. Ein reines Herz ist ein Herz, dass offen bleibt vor und für Gott. Es kommt vor, dass unser Herz finster und mutlos wird, dass es uns in die Hose rutscht oder ganz aus dem Blick gerät. „Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding; wer kann es ergründen?“ (Jer. 17/9), fragt der Prophet Jeremia. Und wie leicht kann es zerbrechen. Wie die Wahrheit ja auch!

Nur ein Herz, das offen für Gott bleibt, kann wieder hell und heil werden. Und nur ein solches Herz kann andere wieder hell und heil machen. Der kalte Blick hat sich unter uns nicht erst seit gestern breit gemacht; der kalte Blick, der den Menschen als Kostenfaktor betrachtet oder abschätzt, was mit ihm verdient werden kann. Was sieht ein solcher Blick vom Menschen? Gar nichts! Der kleine Prinz hat recht: Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar. Denn das Herz ist das Organ der Wahrheit. Da ist auch Gott einer Meinung.

Brauchen wir die große Flut, die Häuser einreißt, um das wieder zu entdecken? Brauchen wir einen solchen bösen Einbruch in die Wirklichkeit, damit in unserem Land für ein paar Wochen wieder etwas zusammengeht? Lassen wir uns stattdessen von der Jahreslosung an den Gott erinnern, für den sich alle Zukunft im Herzen entscheidet. Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.

Ich wünsche Ihnen im neuen Jahr viele wesentliche Augenblicke des Herzens. Und dann Sie werden merken, wie reich beschenkt wir sind und wie klein oft die Dinge sind, die wir für unsere größten Sorgen halten. Vielleicht wird es kein gutes Jahr. Vielleicht steht uns die nächste Flut ins Haus oder der nächste Börsencrash. Vielleicht werden wir krank. Vielleicht gehen wir unter. Aber nicht wirklich. Denn der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahrt unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus.


Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter www.kanzelgruss.de)

Text: 

Ein Mensch sieht, was vor Augen ist; der Herr aber sieht das Herz an.

 


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