Liebe Leser, der heutige 9. November ist ein schicksalsträchtiger
Tag in der deutschen Geschichte:
- 90 Jahre ist es her, dass der letzte deutsche Kaiser abdankte und
damit das Ende des (zweiten) deutschen Kaiserreiches markierte.
- 70 Jahre ist es her, dass Juden durch die Straßen deutscher Städte
gejagt, mit Knüppeln verprügelt, beraubt und ihre Gottesdiensthäuser
angezündet wurden. Die sogenannte „Reichskristallnacht“ beleuchtet
hell den Tiefpunkt deutscher Geschichte.
- Und 19 Jahre ist es her, dass die Mauer gefallen ist und mit dem
Ende der DDR ein neues Kapitel deutscher Geschichte eingeläutet
worden ist.
Und die Novembertage des Jahres 2008? Vermutlich gehen sie in die
Geschichte ein als die Tage, wo fast die ganze Welt an einem
finanziellen Abgrund stand. "Fast sechs Billionen Euro ärmer in fünf
Tagen" – so war es im Finanzteil einer deutschen Zeitung zu lesen.
6000 Milliarden! Man muss sich diesen Betrag einmal vorstellen – und
was man damit Gutes hätte tun können! Und was da verloren ging, das
waren ja nicht nur die Wertpapiere der Superreichen, die es
verschmerzen können. Das waren in hohem Maße auch Altersrücklagen
von Menschen, denen ihre Ersparnisse genommen worden sind und denen
nun ein Altwerden in Not bevorsteht. Novemberstimmung!
Zeit für grundsätzliche Fragen: Wo bin ich in dieser Welt am 9.
November 2008? Wohin bewegt sich die Welt mit ihrem Reichtum
einerseits, mit der großen Armut andererseits? Worauf zielt
eigentlich mein eigenes Leben? Und letztendlich: Was wird aus mir,
wenn ich sterbe?
„Novemberfragen“ sind das, liebe Gemeinde, Fragen, die sich Menschen
zu allen Zeiten gestellt haben und stellen - weil menschliches Leben
durch die Zeiten von vielfältigsten Unsicherheiten geprägt war und
ist, ja immer wieder auch von Katastrophen, mit Gewissheit vom
eigenen Tod.
Und vor seinem eigenen Ende steht jeder allein, kann sich keiner
entschuldigen oder gar vertreten lassen. So wundert es nicht, dass
ähnlich auch die Christen in Thessaloniki um 50 n.Chr. fragten: Was
wird aus meiner Frau, meinem Vater, die gestorben sind? Und was wird
aus mir?
Der Apostel Paulus geht in seinem 1. Brief an die Christen in
Thessaloniki auf diese Fragen ein. Und im heutigen Predigttext
werden wir zu Zeugen dieses Gespräches. Wer den Worten des Paulus
folgt, der stößt auf Spannungen und Gegensätze, die auch gar nicht
aufzulösen sind: Die Nacht und die Finsternis auf der einen Seite.
Der Tag und das Licht auf der anderen. Die Schlafenden hier, die
Wachenden da. Beschwichtiger hier, die da rufen: „Friede, Friede“.
Der Dieb in der Nacht da, der kommt, wenn alle in Frieden schlafen
und nichts Böses ahnen. Kinder der Nacht und der Finsternis
einerseits, Kinder des Lichtes, des Tages anderseits. Indem ich den
Worten des Apostels folge, will ich drei Gedankenkreise
herausarbeiten:
1. Zuerst:
Der Tag des Herrn kommt wie der Dieb in der Nacht. Das ist nicht
besonders erfreulich. Wer nachts wach liegt und in die Dunkelheit
lauscht und dabei merkwürdige Geräusche wahrnimmt, dem geht es
mulmig. Was ist das? Ist da wer? Bewegt sich da was? Ist da ein
Fremder in meiner Wohnung? Und dann überlegt man, ob man aufstehen
und Licht machen soll. Und man lauscht. - Nichts. – Und man kommt zu
dem Schluss: Ich habe mich wohl getäuscht! Anders der Apostel! Der
Tag des Herrn, das Ende kommt - das ist gewiss, sagt Paulus. Und: An
diesem Tag wird es Licht in der Welt, endgültig! Da erscheint die
Wahrheit: über uns, über diese Welt, über Gott und über das
Schicksal eines jeden einzelnen Menschen. Der Apostel Paulus ist
fest davon überzeugt, dass dieser Tag kommt – freilich: weil die
Zeiten und Stunden keiner kennt, ist es auch nicht nötig, überhaupt
davon zu reden. Wir wissen nicht, wann. Die Ungewissheit gehört zu
unserem Menschsein dazu. Das mag man beklagen, aber wir werden es
damit nicht ändern. Im Bild des Paulus gesprochen: Wir hängen
dazwischen: zwischen Nacht und Tag, zwischen Finsternis und Licht.
Und wir warten auf das Licht. Wann es endgültig aufscheint,
wissen wir nicht.
Wie lebt man mit dieser Ungewissheit? Nun, für den Apostel ist
es Torheit, den „Tag des Herrn“, das eigene Ende auch, einfach zu
ignorieren und so zu tun, als wäre keine Gefahr: „Es ist Friede“,
sagen sie. Das heißt doch: Mach dir keine Sorgen, es ist alles in
Ordnung, es geht immer so weiter, jeder hat seine Rolle, wir können
ja gar nicht anders, es gibt Sachzwänge, so ist halt der Lauf der
Welt. Also: mach dir keine Sorgen!
Wenn man mit Sicherheit weiß, dass in der Nacht ein Dieb kommt, dann
bleibt man wach. Klar! Ich will auch wach sein, wenn dieser Tag
kommt. Ich will gerüstet sein. Ich will vorbereitet sein. Und so
steckt in dem Bild vom Dieb für mich die Aufforderung: Sei wach!
Verschlaf nicht dein Leben!
2. Wir hängen, sagt Paulus, zwischen der Nacht jetzt und dem
kommendem Tag dann. Aber: So ganz dazwischen hängen wir nun doch
nicht. Und damit komme ich zum zweiten Gedankengang: „Ihr aber,
liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein
Dieb über euch komme. Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und
Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der
Finsternis.“ Paulus macht hier einen bemerkenswerten Unterschied: Es
gibt die einen, die schlafen und in der Finsternis sind. Und es gibt
die anderen, die vom Licht und vom Tag sind. Das ist erstaunlich.
Woher weiß Paulus, wer zu den einen und zu den anderen gehört? Woher
weiß er, dass er nicht zur Nacht gehört? Paulus spricht ja von sich
und den Christen in Thessaloniki und anderswo. „Kinder des Lichts“
sind sie alle. Aber wer nicht zur Gemeinde gehört, steht im Dunkeln.
Eine große Behauptung: Wer sich zu Christus bekennt und ihm
vertraut, der ist im Licht. Wer das nicht tut, der ist im Dunkeln.
Da tun sich Fragen auf. Ich denke die Wichtigste ist: Wie komme ich
ins Licht? Die Antwort des Apostels hat etwas Befreiendes: Das Licht
des kommenden Tages scheint schon jetzt! Und Gott selbst stellt uns
in sein Licht. Er zieht Menschen zu sich ins Licht – durch Jesus
Christus! In ihm erleuchtet uns Gott. Und um seinetwillen ist unser
Leben schon endgültig gelungen, bevor wir überhaupt angefangen
haben, es aus eigener Kraft gelingen lassen zu wollen. Freilich: es
gilt, sich dem Licht zuzuwenden. Oder mit den Worten unseres
Predigttextes zu sprechen: es gilt wachsam und nüchtern sein!
3. Damit bin ich bei meinem letzten Gedankengang: „So lasst uns nun
nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern
sein.“ Der Buddhismus nennt das die Haltung der Achtsamkeit. Wachen
- das ist das Gegenteil von Schlafen und Dahindämmern. Wachen – das
heißt: Die Welt und sich selbst und meine Mitgeschöpfe achtsam
wahrnehmen. Und in der Welt, bei mir selbst und bei meinen
Mitgeschöpfen wach sein für Gottes Wirken, wach sein für Gottes
Absicht mit mir, meinen Mitgeschöpfen und mit dieser Welt. - So
übersetze ich das. Das heißt dann aber auch:
- über den Tag hinaus sehen, auf den Anfang und auf das Ende schauen
- das Unrecht sehen und das Leid, das es im Gefolge trägt
- Unwahrheit aufzeigen und beim Namen nennen
- dem gefährlichen Denken und Reden heute entgegentreten
- nicht wegschauen, wo Dunkelheit ist, überall da, wo Menschen
verachtet werden
Und nüchtern sein? - Das ist das Gegenteil von geistiger Umnebelung.
Geistige Umnebelung gab es vor 70 Jahren und gibt es heute. Wie die
Versprechungen von sogenannten Experten: Ihr könnt mit eurem Geld
noch mehr Geld verdienen, schnell und ohne Risiko! Nun, mancher hat
vielleicht Glück gehabt und es ging gut. Aber diesmal ist es nicht
gut gegangen.
Und es tritt Ernüchterung ein. Einige Fragen sollten wir deshalb neu
stellen: Verdienen wir tatsächlich unseren Reichtum mit unserer
Hände Arbeit? Wer zahlt, damit wir gut leben können? Die Armen in
den vielen Ländern der Erde? Die spätere Generation? Wir sollten
auch neu fragen: Sind Politik und Wirtschaft dazu da, Interessen -
natürlich die jeweils eigenen - durchzusetzen, Macht an sich zu
reißen und einige wenige mit aller Macht reich zu machen? Oder
stehen nicht auch Politik und Wirtschaft in der Verantwortung vor
Gott und sind dazu da, den Armen und Bedürftigen zu helfen und sie
zu schützen?
Wach sein und nüchtern sein, liebe Gemeinde - diese Haltung
entspricht einem Leben vom Licht Gottes her in diesen Tagen, in
denen so vieles im Dämmerlicht bleibt. Und nun werden Sie fragen:
Kann man das nicht noch etwas konkreter sagen? Was gilt nun
eigentlich am Tag des Herrn? Was ist der Maßstab am Ende?
Jesus hat auf diese Frage geantwortet im Gleichnis vom Weltgericht,
einfach und unmissverständlich: Wer Hungrige speist, wer Durstenden
zu trinken gibt, wer Kranke und Gefangene besucht, wer Fremde
aufnimmt und ihnen Obdach gibt, der wird im Licht stehen am Tag des
Herrn. Der wird im Reich Gottes sein. Gebe Gott, dass wir uns alle
dort wiederfinden!
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche
Hof) |
Text:
Paulus schreibt:
1 Von den Zeiten und Stunden aber, liebe
Brüder, ist es nicht nötig, euch zu schreiben;
2 denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird
wie ein Dieb in der Nacht.
3 Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr -, dann
wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine
schwangere Frau und sie werden nicht entfliehen.
4 Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag
wie ein Dieb über euch komme.
5 Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir
sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis.
6 So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns
wachen und nüchtern sein. |