Liebe Leser,
Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass.
Das Gegenteil von Liebe ist Angst.
Angst ist der laute Ruf, der Schrei nach Liebe.
Das Evangelium von Jesus Christus, breitet vor uns beides aus:
Das Leben in Angst und das Leben in der Liebe.
Angst macht eng und atemlos.
Liebe macht weit und ruhig.
Die Angst ist der Bruder des Todes.
Liebe ist die Quelle des Lebens.
„In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt
überwunden“, sagt im heutigen Evangelium der, der uns die Angst
nehmen will, der uns Heimat geben will dort, wo er ist, wo Gott
selbst ist – in der Liebe.
Das Land der Liebe müsste uns doch allen bekannt sein. Keiner unter
uns, der nicht schon dort gewesen wäre. Keiner unter uns, der nicht
aus Gott käme und irgendwo die Erinnerung daran bewahrt hätte.
Eine jüdische Legende (gewürzt mit jüdischem Humor) erzählt, dass
wir alle kleine Engel waren, bevor wir als Menschen auf die Erde
gekommen sind. Jeder von uns habe schon im Paradies gelebt, auf Du
und Du mit Abraham, mit Mose und Mirjam, mit König David und dem
alten Jakob. Vor der Geburt als Mensch habe aber jeder kleine Engel
einen so gehörigen Nasenstüber bekommen, dass er alle Erinnerungen
an das Paradies vergessen habe. Manchmal allerdings habe der
grobschlächtige Engel, der für die Nasenstüber, die jede Erinnerung
auslöschen, verantwortlich sei, manchmal habe dieser Engel so einen
über den Durst getrunken, dass er die Nase verfehlt habe - so dass
einige Menschen die Erinnerung an das Paradies nicht vergessen
haben.
Um diese humorvolle Geschichte auf die Spitze zu treiben: Ich bin
mir sicher, liebe Gemeinde, dass der grobschlächtige Engel von Gott
dauernd abgefüllt wurde und im Dauerrausch war. Denn Gott bringt es
nicht übers Herz, auch nur einen Menschen ohne die Erinnerung an die
Liebe zur Welt kommen zu lassen.
Die Vorstellung, die Fähigkeit zur Liebe und die Erinnerung an diese
Quelle unseres Lebens müssten uns erst beigebracht werden, ist
absurd. Nie und nimmer gelänge es Menschen, sich gegenseitig zur
Liebe zu erziehen. Stattdessen hätte die Angst alles im Griff, wäre
die Angst die alles entscheidende Macht: Die Angst, zu versagen; die
Angst, zu kurz zu kommen; die Angst, mich falsch zu verhalten; die
Angst, nicht anerkannt zu sein; die Angst, ausgelacht zu werden; die
Angst, schwächer zu sein; die Angst, krank zu werden; und nicht
zuletzt und in allem: die Angst, zu sterben.
Und alle Menschen würden aus dieser Angst leben und lernen, mit
Ellenbogen und Egoismus, mit immer weiterer Unterdrückung all der
guten Kräfte in ihnen, der Angst zu gehorchen. Es gäbe keine
Heiligen und es gäbe keine Heilungen von dieser Krankheit; es gäbe
nur Menschen, die aus Kalkül helfen und es gäbe keine Zärtlichkeit
mehr - denn ein Mensch in Angst ist zu Zärtlichkeit und Spiel nicht
mehr in der Lage. Die Menschheit wäre wie eine wachsende
Krebsgeschwulst, die Angst würde alles auffressen und die Erde würde
die Menschen schließlich abstoßen wie jeder gesunde Organismus einen
Krankheitserreger.
Aber bei aller Kritik an dem, was Menschen sich selbst und anderen
antun, bei aller Kritik auch was Menschen dieser Erde und dem Leben
in ihr an Schaden zufügen - das Böse hat die Liebe, die Gott uns mit
seinem Atem eingehaucht hat, nicht verdrängen können! Auch wenn
dieser Hauch nur ein Flüstern ist, wenn der Heilige Geist nur leise
sagt: „Du bist geliebt! Du kannst lieben! Du kannst dich lieben
lassen ohne Angst“ – ein jeder von uns hat das doch schon einmal
gehört. Wir alle hören die Stimme unseres Gewissens. Wir alle haben
Sehnsucht nach Frieden. Und keinen von uns überkommt Genugtuung,
wenn andere Menschen Gewalt und Unrecht leiden.
Da fängt der Jugendliche die Wespe am Fenster mit einem Wasserglas
und einem Stück Karton und bringt sie ins Freie und schlägt sie eben
nicht tot. Da teilen Menschen in unserer Gemeinde das, was ihnen
Gott schenkt, mit anderen, die hungern und spenden für Brot für die
Welt. Da bittet einer den anderen um Verzeihung und sagt: „Ich bin
jetzt zu weit gegangen! Verzeih! Ich habe dich verletzt.“
Der grundlegende, tiefe Gedanken, der hinter alldem steht, ist unser
Glaube, dass es nur einen Gott gibt. Dass Gut und Böse, Gewitter und
Sonne, Leben und Tod nicht verteilt sind auf die Kompetenz
verschiedener Götter. Dass Gott nicht außerhalb der Welt ist, dass
Gott auch nicht innerhalb der Welt ist. Sondern dass Gott alles
umfasst: wie das Meer die Fische und die Muscheln und die Pflanzen
und die Mineralien; wie die Luft, die alles umhüllt auf Erden, so
ist alles und sind alle in Gott geborgen.
Es liegt allein an mir, ob ich meine Herkunft verleugne. Die Liebe
Gottes kann ich nicht abschneiden. Ich kann sie allenfalls
verleugnen, lebe dann aber – so sagt uns das Kreuz Christi - in
einer Scheinwelt. Jesus Christus kommt von Gott. Du und ich, wir
kommen von Gott. Wir sind Geschwister Jesu, Kinder Gottes, Kinder
der Liebe! Der Muslim ist aus Gott, der Kommunist ist aus Gott, der
Asylsuchende ist aus Gott, der Unternehmer ist aus Gott und der
Arbeitslose auch.
Es ist der Sinn unserer Lebensreise, von dieser Herkunft zu
erzählen, sozusagen Sprachlehrer zu sein, Sprachlehrer für die
Liebe! Sie in und mit unserem Leben zur Sprache zu bringen und so
die Angst kleiner zu machen. Und es ist die tiefste Aufgabe aller
Religionen, den Menschen die Angst zu nehmen. Ohne Liebe machen sie
in ihrer Angst die größten Dummheiten: Sie führen Kriege und sie
schlagen ihre Kinder, sie mobben im Betrieb und betrügen ihren
Mitmenschen. Und nachts weinen sie einsam in ihr Kissen.
Das Gegenteil von Liebe ist nicht Hass.
Das Gegenteil von Liebe ist Angst.
Angst ist der laute Ruf, der Schrei nach Liebe.
Das Evangelium von Jesus Christus ruft uns zu: Ein jeder von uns hat
einen Platz in dem Ganzen, in dem Auf und Ab der Jahre und
Jahrtausende! Das Leben eines jeden von uns hat einen Sinn, ist ein
Puzzlestein im dem Bild, das Gott sich von seiner Schöpfung gemacht
hat. Aus diesem Bild kann keiner herausfallen, ist ein jeder und
jedes ein wertvoller Teil des Ganzen. Liebe ist im Grunde nichts
anderes als Hingabe, angstfreie Hingabe an Gott, an meine Herkunft,
an Jesus Christus, an meinen Nächsten, an den Fremden.
Der heutige Predigttext am Sonntag Rogate, der uns das beten lehren
will, ist unverständlich ohne diesen Hintergrund. Er stammt aus dem
Timotheusbrief, einem der jüngsten Briefe des Neuen Testamentes.
Hundert Jahre sind schon vergangen seit Tod und Auferstehung Jesu.
Paulus und Petrus und Jakobus sind längst den Märtyrertod gestorben.
Und auch die dritte Generation der Christen ist bedroht. Sie hat
sich von den Juden getrennt, hat eine eigene Kirche aufgebaut mit
klaren Strukturen, wird verfolgt von der römischen Obrigkeit, die
die Länder rund um das Mittelmeer in ihrer Macht hält. Die Christen
sind bedroht. Viele mussten Nachteile wegen ihres Glaubens auf sich
nehmen, andere das Leben lassen.
Was ich jetzt lese, klingt beim ersten Hören vielleicht wie kluge
Taktik, Taktik, aus der Einsicht geboren, doch nichts anrichten zu
können gegen die römischen Übergriffe. Nach dem Motto: dann also
besser nicht auffallen. Aber es ist nicht Taktik. Es ist
konsequenter Christus-Glaube, den anderen nicht zu verurteilen,
sondern zu lieben.
Die Lutherbibel überschreibt den Abschnitt aus dem 2. Kapitel des 1.
Timotheusbriefes (1-6) mit „Das Gemeindegebet“. (Text siehe rechte
Spalte)
Gott will, dass allen Menschen geholfen werde. Deshalb: Rogate!
Betet! Für alle Menschen! Betet für die, die euch Feinde nennen. Ihr
betet für Menschen, die Gottes Liebe geschaffen hat, deren
Erinnerung an ihre Herkunft vielleicht verschüttet ist, die Angst
haben vor der Liebe und die – wie mächtig auch immer sie sind oder
uns scheinen – letztendlich arm dran sind.
Freilich, wir können für andere nur beten, wenn wir an die Liebe in
ihnen glauben und selbst von der Liebe getragen sind. Denn Fürbitte
ohne Liebe verkommt zur Pflichtübung und hat keine Folgen. Nehmen
wir einmal an, ich habe im Religionsunterricht vielleicht zwei oder
drei, mit denen ich absolut nicht zurechtkomme, die die anderen
drangsalieren und der ganzen Klasse auf die Nerven gehe. Wenn ich
vor dem Unterricht eben für diese zwei oder drei bete, werde ich
nachher anders mit ihnen umgehen. Ich werde die Angst verlieren,
Stück um Stück.
Thomas Merton, der katholische Priester und Mystiker, schreibt:
„Gebet besteht nicht in dem Bemühen, Gott zu erreichen, sondern
darin, unsere Augen zu öffnen und zu erkennen, dass wir schon bei
ihm sind.“Und dort, bei ihm, werden wir die Nahen und die Fernen,
die, die uns wehtun und die, die uns Gutes tun, mit anderen Augen
sehen.
Angst ist kein guter Berater.
Angst trennt.
Angst macht zu Gegnern.
Angst macht klein, dich und mich.
Liebe ist unsere Herkunft.
Liebe eint.
Liebe macht Freunde.
Liebe macht groß und lässt aufrecht gehen,
dich und mich.
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche
Hof) |
Text: Paulus schreibt:
1 So ermahne ich nun, dass man vor allen
Dingen tue Bitte, Gebet, Fürbitte und Danksagung für alle Menschen,
2 für die Könige und für alle Obrigkeit, damit wir ein ruhiges und
stilles Leben führen können in aller Frömmigkeit und Ehrbarkeit.
3 Dies ist gut und wohlgefällig vor Gott, unserm Heiland,
4 welcher will, dass allen Menschen geholfen werde und sie zur
Erkenntnis der Wahrheit kommen.
5 Denn es ist ein Gott und ein Mittler zwischen Gott und den
Menschen, nämlich der Mensch Christus Jesus,
6 der sich selbst gegeben hat für alle zur Erlösung.
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