Predigt     2. Korinther 4/16-18    Jubilate     29.04.12

"Der große Zusammenhang"
(von Pfarrer Rudolf Koller, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

da kommt man – mancher vielleicht nach langer Zeit zum ersten Mal wieder – sonntags in die Kirche und dann hört man es wieder das alte Lied der Jenseitsvertröstung: Dass die zeitliche Trübsal und Not nichts wiegt gegenüber der ewigen Herrlichkeit. Dass das Unsichtbare viel wichtiger ist als das Sichtbare. Dass das Zeitliche keine Aufmerksamkeit verdient gegenüber dem Ewigen. Dieses „alte Entsagungslied, das Eia- popeia vom Himmel, das einlullt, wenn es greint“, wie es Heinrich Heine in seinem Wintermärchen nannte.

Ist es so? Oder pfeifen wir hier vorschnell ein Lied nach, das Religionskritiker und Atheisten singen? Das am Ende so überhaupt nicht biblisch ist! Wer die Heilige Schrift nicht als Selbstbedienungsladen für seine eigenen Meinungen und Vorurteile benützt, wer auf Jesus Christus schaut, der wird doch schnell eines anderen belehrt: Der sieht einen Christus, der die todverfallenen Körper der Kranken, Behinderten, Unreinen berührt. Und seine Berührung belebt den ganzen Menschen – Leib und Seele, sein Sichtbares und sein Unsichtbares. Der sieht einen Christus beim Festmahl im Haus des Zachäus und bei der Hochzeit zu Kana. Der sieht ihn die Kinder liebkosen und die Spende der armen Witwe loben. Für das Abwerten äußerer Not und körperlicher Gebrechen ist er nicht zu haben. Wir sehen ihn im Garten Gethsemane um sein Leben ringen. Und dann dieses Sterben am Kreuz! Wenn das Sichtbare und Zeitliche so unwichtig wäre, dann hätte sich Gott die Menschwerdung sparen können! Um wie viel mehr weiß das ein Apostel Paulus, der ihn geschaut hat, den Auferstandenen, den Christus! Wie also dürfen, ja müssen wir seine Worte verstehen?

„Darum werden wir nicht müde…“

Haben Sie auch Kinder? Ich habe zwei. Und ich erinnere mich an die ersten eineinhalb Jahre meines Erstgeborenen: Die Nächte, die er durchgeschlafen hat, die konnte man an vielleicht zwei Händen abzählen. Wir waren jeden Tag wie gerädert und ständig übermüdet. Was habe ich innerlich häufig geflucht, wenn er - um Mitternacht endlich eingeschlafen – vier Stunden später putzmunter in seinem Bettchen schrie! Und dann diese Unsicherheit: Was hat er jetzt? Bauchweh? Oder gar was Schlimmeres? Und dann diese Zweifel: Mach ich das auch richtig? Zweifel, die durch gute Ratschläge von anderen eher noch verstärkt wurden. Und dann immer wieder diese Ohnmachts- und Hilflosigkeitserfahrungen, wo eben nicht „alles gut“ war, wo man danebenstand und mit dem Kind einfach nur mitlitt.

Im Rückblick frage ich mich manchmal, wie wir das alles geschafft haben. Aber ich weiß auch die Antwort: Ich hätte alles für mein Kind getan! Alle Müdigkeit, alle Anstrengung, alle Zweifel und alle Erfahrungen von Ohnmacht waren aufgehoben und getragen von meiner Liebe zu diesem kleinen, hilflosen Wesen, meinem Kind. Damit will ich all die „unangenehmen“ Seiten nicht schön reden, will sie schon gar nicht verdrängen. Nein, sie gehören dazu, sind aber Teil eines größeren Zusammenhangs, eingebettet in das große Glück der Liebe.

Warum erzähle ich das? Weil ich denke, dass wir so auch den Apostel Paulus verstehen dürfen. Was hat der nicht alles an Trübsal und Not, an Schmerz und Gefahr erlebt! Im 11. Kapitel des 2. Korintherbriefs gibt er eine eindrückliche Schilderung all dessen, was er an „Trübsal“ erlebt hat. Und in dem Abschnitt unmittelbar vor unserem Predigttext spricht er von den schlimmen Anfeindungen, denen er ausgesetzt ist. Wie kommt’s, dass all das ihn nicht müde macht? Dass er nicht depressiv oder auch aggressiv wird? Dass er nicht alles hinschmeißt, sich ins Privatleben zurückzieht und allen ein „Seht zu, wie ihr ohne mich zurechtkommt!“ hinrotzt?

Die Antwort ist: Weil er all das relativieren kann; weil all das bei ihm eingebettet ist in einen größeren Zusammenhang. Als ihm der Christus begegnete, da machte er eine Erfahrung - ähnlich wie ein Neugeborenes die Liebe seiner Eltern erfährt: als Liebe ohne Bedingungen; als Liebe, die alle Mühen auf sich nimmt; als Liebe, die einen nicht allein lässt in Hilflosigkeit und Ohnmacht. „Erfahrung der Gnade Gottes“ nennt das unsere Tradition und meint damit eine vorbehaltlose Geborgenheit in Gottes Liebe und lebensspendender Kraft.

In Kindern blitzt sie auf, sagte Jesus zu seinen Jüngern. „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur“ sagt der Apostel Paulus. Und spricht vom „inneren Menschen“, den die Liebe Gottes von Tag zu Tag erneuert. Anfeindungen, Müdigkeit, Ohnmacht und Schwachheit sind dann sicherlich auch nicht schön. Aber sie werden relativiert. Ihnen wird die Speerspitze genommen, nämlich ihr Anspruch, das letzte Wort zu sein. Nein, das letzte Wort spricht Gott. Und er hat es in Jesus Christus doch schon ein für allemal gesprochen! Über einem jeden von uns in der Taufe schon ausgesprochen! Sein Wort des Lebens! Sein Wort der Vergebung! Sein Versprechen in Jesus Christus, dass er zu Ende bringen wird, was wir nicht schaffen, und dereinst dafür sorgen wird, dass alles, wirklich alles, gut sein wird.

Anfeindungen, Müdigkeit, Ohnmacht und Schwachheit werden „in Christus“ und durch den „Christus in uns“ somit zu Herausforderungen! Zu Herausforderungen, mit ihnen so umzugehen, wie Gott mit ihnen umgeht: nämlich mit Liebe! Das heißt ja nicht, dass die Seufzer dann aufhören. Aber der Mund, aus dem sie kommen, der hat schon ein Lächeln. Und das Herz, aus dem sie emporsteigen, weiß um ihre Vorläufigkeit und Vergänglichkeit. Weil es das österliche Lachen schon gehört hat: Gottes Sieg über alle lebensfeindlichen Mächte. Wenn unsere lutherische Tradition von „Glaube“ redet, dann meint sie damit auch jene unstillbare Sehnsucht nach einer Welt, in der unser Leben mit allen seinen Unzulänglichkeiten angenommen und aufgehoben ist. Eine Sehnsucht, die das ganze Herz, den ganzen Verstand, oder – wie die Alten sagten – unser ganzes Gemüt erfüllen will.

Vielleicht kennen Sie ja die Seeräuber-Jenny aus Berthold Brechts Dreigroschenoper. In einem Lied gibt sie ihrer Sehnsucht – mitten in ihrem „elenden Leben“ Ausdruck. Sie zeigt zugleich, wie diese Sehnsucht jetzt schon einen Menschen verändert.

Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen und ich mache das Bett für jeden.
Und Sie geben mir einen Penny und ich bedanke mich schnell
und Sie sehen meine Lumpen und dies lumpige Hotel
und Sie wissen nicht, mit wem sie reden.
Aber eines Abends wird ein Geschrei sein am Hafen
und man fragt: Was ist das für ein Geschrei?
Und man wird mich lächeln sehn bei meinen Gläsern
und man sagt: Was lächelt die dabei?
Und ein Schiff mit acht Segeln
und mit fünfzig Kanonen
wird liegen am Kai ...
Nach der letzten Strophe singt die Seeräuber-Jenny:
Und das Schiff mit acht Segeln
und mit fünfzig Kanonen
wird entschwinden mit mir.

Die Seeräuber-Jenny singt das Lied der Hoffnung - und es legt sich über ihre sklavenhafte Existenz. Mit ihrem Lied über das Schiff der Freiheit ist sie sich selbst voraus. Ihre Gewissheit, dass das Schiff kommen wird, relativiert das Gewicht ihrer elenden Gegenwart. Und es ist gleichzeitig ein Lied über ihre Hoffnung - und damit über ihre Würde und Schönheit.

„Einen Menschen macht nicht nur schön, was er jetzt schon kann und ist. Seine Sehnsucht und seine Wünsche machen ihn schön, sie sind Teil seiner Würde und Freiheit. Jennys Freiheit beginnt, indem sie von dem Schiff träumt, das sie aus der Welt der Verachtung entführt. Ihre Befreiung beginnt mit der Gewissheit, dass sie eine andere ist als die Sklavin, die den Herren die Betten macht und die dankbar sein muss für die Pennys, die sie ihr zuwerfen. Ihr Traum spricht der Gegenwart das Recht ab, sich als endgültige Welt aufzuspielen.“ So der Theologe Fulbert Steffensky. Und genau das ist ja die Botschaft von Ostern, dass die Welt des Todes und der Hoffnungslosigkeit überwunden ist und wir befreit sind zu unserem neuen „Leben in Christus.“ Dass wir liebevoll von Gott angesehen werden und so gekannt werden, wie wir wirklich sind, und darum unser Leben hoffnungsvoll sein kann und soll.

Ja, wir alle sind der zeitlichen Trübsal unterworfen - aber die Osterbotschaft nimmt uns hinein in das große Versprechen Gottes, dass die Todesmächte unseres Lebens überwunden und aufgehoben sind. Und je mehr wir diesem Versprechen trauen, desto mehr wächst in uns das Bewusstsein der „über alle Maßen gewichtigen Herrlichkeit“ der Gnade Gottes heran.

Und damit wächst noch etwas in uns: Nämlich eine neue Entscheidungskompetenz für unser Handeln. Je mehr wir dem Christus in uns Raum geben, ihn mit seiner Liebe bei uns aufräumen lassen, desto stärker wird so etwas wie geistliche Urteilskraft in uns. Unsere Maßstäbe verändern sich. Dann gilt nicht mehr „Auge um Auge, Zahn um Zahn! Sondern „Liebet eure Feinde!“ Dann gilt nicht Schuld und Sühne. Sondern Vergebung und Neuanfang. Dann entscheiden und handeln wir nicht mehr nach den angeblichen Sachzwängen dieser Welt, sondern wie Paulus aus Liebe heraus. Dann leben wir nicht nur in allen möglichen Rollen, die andere oder wir selbst von uns erwarten, sonder werden authentisch in unseren Rollen. Das gilt auch für unsere Frömmigkeit: Im Glauben lernen wir, mit Herz und Verstand zu tun, was uns die Liebe gebietet.

Schön, dass Sie heute - vielleicht nach langer Zeit zum ersten Mal wieder – in die Kirche gekommen sind! Ist sie doch der Ort, wo wir nicht alleine sind mit unserer Sehnsucht, wo wir sie immer wieder neu entbrennen lassen. Die vielleicht einfachste und wohl unmittelbarste Art der Sehnsuchtserinnerung, die uns zur Verfügung steht, sind unsere gemeinsamen Gesänge - gerade am Sonntag Jubilate! Die Seeräuber-Jenny singt, und wir singen auch: Die Lieder von der Freiheit in Gottes Welt, die Osterlieder der Freude und des Dankes. Singend lassen wir uns hineinnehmen in diese andere Welt Gottes. Singend, mit Herz und Mund, haben wir jetzt schon Anteil an ihr. Jubilate!

Pfarrer Rudolf Koller   (Hospitalkirche Hof)

Text:

Paulus schreibt:

16 Darum werden wir nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird doch der innere von Tag zu Tag erneuert.
17 Denn unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit,
18 uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig.
 


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