Liebe Leser,
da kommt man – mancher vielleicht nach langer Zeit zum ersten Mal
wieder – sonntags in die Kirche und dann hört man es wieder das alte
Lied der Jenseitsvertröstung: Dass die zeitliche Trübsal und Not
nichts wiegt gegenüber der ewigen Herrlichkeit. Dass das Unsichtbare
viel wichtiger ist als das Sichtbare. Dass das Zeitliche keine
Aufmerksamkeit verdient gegenüber dem Ewigen. Dieses „alte
Entsagungslied, das Eia- popeia vom Himmel, das einlullt, wenn es
greint“, wie es Heinrich Heine in seinem Wintermärchen nannte.
Ist es so? Oder pfeifen wir hier vorschnell ein Lied nach, das
Religionskritiker und Atheisten singen? Das am Ende so überhaupt
nicht biblisch ist! Wer die Heilige Schrift nicht als
Selbstbedienungsladen für seine eigenen Meinungen und Vorurteile
benützt, wer auf Jesus Christus schaut, der wird doch schnell eines
anderen belehrt: Der sieht einen Christus, der die todverfallenen
Körper der Kranken, Behinderten, Unreinen berührt. Und seine
Berührung belebt den ganzen Menschen – Leib und Seele, sein
Sichtbares und sein Unsichtbares. Der sieht einen Christus beim
Festmahl im Haus des Zachäus und bei der Hochzeit zu Kana. Der sieht
ihn die Kinder liebkosen und die Spende der armen Witwe loben. Für
das Abwerten äußerer Not und körperlicher Gebrechen ist er nicht zu
haben. Wir sehen ihn im Garten Gethsemane um sein Leben ringen. Und
dann dieses Sterben am Kreuz! Wenn das Sichtbare und Zeitliche so
unwichtig wäre, dann hätte sich Gott die Menschwerdung sparen
können! Um wie viel mehr weiß das ein Apostel Paulus, der ihn
geschaut hat, den Auferstandenen, den Christus! Wie also dürfen, ja
müssen wir seine Worte verstehen?
„Darum werden wir nicht müde…“
Haben Sie auch Kinder? Ich habe zwei. Und ich erinnere mich an die
ersten eineinhalb Jahre meines Erstgeborenen: Die Nächte, die er
durchgeschlafen hat, die konnte man an vielleicht zwei Händen
abzählen. Wir waren jeden Tag wie gerädert und ständig übermüdet.
Was habe ich innerlich häufig geflucht, wenn er - um Mitternacht
endlich eingeschlafen – vier Stunden später putzmunter in seinem
Bettchen schrie! Und dann diese Unsicherheit: Was hat er jetzt?
Bauchweh? Oder gar was Schlimmeres? Und dann diese Zweifel: Mach ich
das auch richtig? Zweifel, die durch gute Ratschläge von anderen
eher noch verstärkt wurden. Und dann immer wieder diese Ohnmachts-
und Hilflosigkeitserfahrungen, wo eben nicht „alles gut“ war, wo man
danebenstand und mit dem Kind einfach nur mitlitt.
Im Rückblick frage ich mich manchmal, wie wir das alles geschafft
haben. Aber ich weiß auch die Antwort: Ich hätte alles für mein Kind
getan! Alle Müdigkeit, alle Anstrengung, alle Zweifel und alle
Erfahrungen von Ohnmacht waren aufgehoben und getragen von meiner
Liebe zu diesem kleinen, hilflosen Wesen, meinem Kind. Damit will
ich all die „unangenehmen“ Seiten nicht schön reden, will sie schon
gar nicht verdrängen. Nein, sie gehören dazu, sind aber Teil eines
größeren Zusammenhangs, eingebettet in das große Glück der Liebe.
Warum erzähle ich das? Weil ich denke, dass wir so auch den Apostel
Paulus verstehen dürfen. Was hat der nicht alles an Trübsal und Not,
an Schmerz und Gefahr erlebt! Im 11. Kapitel des 2. Korintherbriefs
gibt er eine eindrückliche Schilderung all dessen, was er an
„Trübsal“ erlebt hat. Und in dem Abschnitt unmittelbar vor unserem
Predigttext spricht er von den schlimmen Anfeindungen, denen er
ausgesetzt ist. Wie kommt’s, dass all das ihn nicht müde macht? Dass
er nicht depressiv oder auch aggressiv wird? Dass er nicht alles
hinschmeißt, sich ins Privatleben zurückzieht und allen ein „Seht
zu, wie ihr ohne mich zurechtkommt!“ hinrotzt?
Die Antwort ist: Weil er all das relativieren kann; weil all das bei
ihm eingebettet ist in einen größeren Zusammenhang. Als ihm der
Christus begegnete, da machte er eine Erfahrung - ähnlich wie ein
Neugeborenes die Liebe seiner Eltern erfährt: als Liebe ohne
Bedingungen; als Liebe, die alle Mühen auf sich nimmt; als Liebe,
die einen nicht allein lässt in Hilflosigkeit und Ohnmacht.
„Erfahrung der Gnade Gottes“ nennt das unsere Tradition und meint
damit eine vorbehaltlose Geborgenheit in Gottes Liebe und
lebensspendender Kraft.
In Kindern blitzt sie auf, sagte Jesus zu seinen Jüngern. „Ist
jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur“ sagt der Apostel
Paulus. Und spricht vom „inneren Menschen“, den die Liebe Gottes von
Tag zu Tag erneuert. Anfeindungen, Müdigkeit, Ohnmacht und
Schwachheit sind dann sicherlich auch nicht schön. Aber sie werden
relativiert. Ihnen wird die Speerspitze genommen, nämlich ihr
Anspruch, das letzte Wort zu sein. Nein, das letzte Wort spricht
Gott. Und er hat es in Jesus Christus doch schon ein für allemal
gesprochen! Über einem jeden von uns in der Taufe schon
ausgesprochen! Sein Wort des Lebens! Sein Wort der Vergebung! Sein
Versprechen in Jesus Christus, dass er zu Ende bringen wird, was wir
nicht schaffen, und dereinst dafür sorgen wird, dass alles, wirklich
alles, gut sein wird.
Anfeindungen, Müdigkeit, Ohnmacht und Schwachheit werden „in
Christus“ und durch den „Christus in uns“ somit zu
Herausforderungen! Zu Herausforderungen, mit ihnen so umzugehen, wie
Gott mit ihnen umgeht: nämlich mit Liebe! Das heißt ja nicht, dass
die Seufzer dann aufhören. Aber der Mund, aus dem sie kommen, der
hat schon ein Lächeln. Und das Herz, aus dem sie emporsteigen, weiß
um ihre Vorläufigkeit und Vergänglichkeit. Weil es das österliche
Lachen schon gehört hat: Gottes Sieg über alle lebensfeindlichen
Mächte. Wenn unsere lutherische Tradition von „Glaube“ redet, dann
meint sie damit auch jene unstillbare Sehnsucht nach einer Welt, in
der unser Leben mit allen seinen Unzulänglichkeiten angenommen und
aufgehoben ist. Eine Sehnsucht, die das ganze Herz, den ganzen
Verstand, oder – wie die Alten sagten – unser ganzes Gemüt erfüllen
will.
Vielleicht kennen Sie ja die Seeräuber-Jenny aus Berthold Brechts
Dreigroschenoper. In einem Lied gibt sie ihrer Sehnsucht – mitten in
ihrem „elenden Leben“ Ausdruck. Sie zeigt zugleich, wie diese
Sehnsucht jetzt schon einen Menschen verändert.
Meine Herren, heute sehen Sie mich Gläser abwaschen und ich mache
das Bett für jeden.
Und Sie geben mir einen Penny und ich bedanke mich schnell
und Sie sehen meine Lumpen und dies lumpige Hotel
und Sie wissen nicht, mit wem sie reden.
Aber eines Abends wird ein Geschrei sein am Hafen
und man fragt: Was ist das für ein Geschrei?
Und man wird mich lächeln sehn bei meinen Gläsern
und man sagt: Was lächelt die dabei?
Und ein Schiff mit acht Segeln
und mit fünfzig Kanonen
wird liegen am Kai ...
Nach der letzten Strophe singt die Seeräuber-Jenny:
Und das Schiff mit acht Segeln
und mit fünfzig Kanonen
wird entschwinden mit mir.
Die Seeräuber-Jenny singt das Lied der Hoffnung - und es legt sich
über ihre sklavenhafte Existenz. Mit ihrem Lied über das Schiff der
Freiheit ist sie sich selbst voraus. Ihre Gewissheit, dass das
Schiff kommen wird, relativiert das Gewicht ihrer elenden Gegenwart.
Und es ist gleichzeitig ein Lied über ihre Hoffnung - und damit über
ihre Würde und Schönheit.
„Einen Menschen macht nicht nur schön, was er jetzt schon kann und
ist. Seine Sehnsucht und seine Wünsche machen ihn schön, sie sind
Teil seiner Würde und Freiheit. Jennys Freiheit beginnt, indem sie
von dem Schiff träumt, das sie aus der Welt der Verachtung entführt.
Ihre Befreiung beginnt mit der Gewissheit, dass sie eine andere ist
als die Sklavin, die den Herren die Betten macht und die dankbar
sein muss für die Pennys, die sie ihr zuwerfen. Ihr Traum spricht
der Gegenwart das Recht ab, sich als endgültige Welt aufzuspielen.“
So der Theologe Fulbert Steffensky. Und genau das ist ja die
Botschaft von Ostern, dass die Welt des Todes und der
Hoffnungslosigkeit überwunden ist und wir befreit sind zu unserem
neuen „Leben in Christus.“ Dass wir liebevoll von Gott angesehen
werden und so gekannt werden, wie wir wirklich sind, und darum unser
Leben hoffnungsvoll sein kann und soll.
Ja, wir alle sind der zeitlichen Trübsal unterworfen - aber die
Osterbotschaft nimmt uns hinein in das große Versprechen Gottes,
dass die Todesmächte unseres Lebens überwunden und aufgehoben sind.
Und je mehr wir diesem Versprechen trauen, desto mehr wächst in uns
das Bewusstsein der „über alle Maßen gewichtigen Herrlichkeit“ der
Gnade Gottes heran.
Und damit wächst noch etwas in uns: Nämlich eine neue
Entscheidungskompetenz für unser Handeln. Je mehr wir dem Christus
in uns Raum geben, ihn mit seiner Liebe bei uns aufräumen lassen,
desto stärker wird so etwas wie geistliche Urteilskraft in uns.
Unsere Maßstäbe verändern sich. Dann gilt nicht mehr „Auge um Auge,
Zahn um Zahn! Sondern „Liebet eure Feinde!“ Dann gilt nicht Schuld
und Sühne. Sondern Vergebung und Neuanfang. Dann entscheiden und
handeln wir nicht mehr nach den angeblichen Sachzwängen dieser Welt,
sondern wie Paulus aus Liebe heraus. Dann leben wir nicht nur in
allen möglichen Rollen, die andere oder wir selbst von uns erwarten,
sonder werden authentisch in unseren Rollen. Das gilt auch für
unsere Frömmigkeit: Im Glauben lernen wir, mit Herz und Verstand zu
tun, was uns die Liebe gebietet.
Schön, dass Sie heute - vielleicht nach langer Zeit zum ersten Mal
wieder – in die Kirche gekommen sind! Ist sie doch der Ort, wo wir
nicht alleine sind mit unserer Sehnsucht, wo wir sie immer wieder
neu entbrennen lassen. Die vielleicht einfachste und wohl
unmittelbarste Art der Sehnsuchtserinnerung, die uns zur Verfügung
steht, sind unsere gemeinsamen Gesänge - gerade am Sonntag Jubilate!
Die Seeräuber-Jenny singt, und wir singen auch: Die Lieder von der
Freiheit in Gottes Welt, die Osterlieder der Freude und des Dankes.
Singend lassen wir uns hineinnehmen in diese andere Welt Gottes.
Singend, mit Herz und Mund, haben wir jetzt schon Anteil an ihr.
Jubilate!
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche
Hof) |
Text:
Paulus schreibt:
16 Darum werden wir
nicht müde; sondern wenn auch unser äußerer Mensch verfällt, so wird
doch der innere von Tag zu Tag erneuert.
17 Denn unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine
ewige und über alle Maßen gewichtige Herrlichkeit,
18 uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das
Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber
unsichtbar ist, das ist ewig.
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