Liebe Leser,
„Rabbi Mosche Löb, über dessen Sanftmut die kuriosesten Geschichten
erzählt werden, schwor, nach dem Tod so lange in der Hölle auszuharren,
bis er alle Bewohner der Hölle mitnehmen könne. (…) Für den Psalmvers
‚Wohl dem, den du, Herr, züchtigst‘ (Psalm 94,12) bevorzugte der Rabbi
eine andere Lesart: ‚Wohl dem, der wagt, Gott zu züchtigen.‘ Als in
einer Familie mehrere Kinder in frühem Alter starben, wandte sich die
Mutter an die Frau des Rabbi: ‚Was für ein Gott ist denn der Gott
Israels? Er ist grausam und nicht barmherzig. Er nimmt, was Er gegeben
hat.‘ So dürfe man nicht reden, wiegelte die Frau des Rabbi ab;
unergründlich seien die Wege des Herrn, der Mensch müsse lernen, sein
Schicksal anzunehmen. In diesem Augenblick erschien Rabbi Löb auf der
Türschwelle und rief der trauernden Besucherin zu: ‚Und ich sage dir,
Frau, man muss es nicht annehmen! Man muss sich nicht unterwerfen. Ich
rate dir, zu rufen, zu schreien, zu protestieren, Gerechtigkeit zu
fordern, verstehst du mich, Frau? Man darf es nicht annehmen!‘“ (Navid
Kermani, Der Schrecken Gottes, Beck 2011, E-Book, Position 4110)
Wir können dem Schriftsteller Navid Kermani nicht nur am Karfreitag
dankbar sein, dass er in seinem Buch „Der Schrecken Gottes, Attar, Hiob
und die metaphysische Revolte“ wieder einmal in Erinnerung gerufen hat,
dass es auch in der Bibel und ihrer Auslegungsgeschichte eine Tradition
der Feindschaft gegen Gott gibt, die alles andere als atheistisch ist.
Sie kommt direkt aus der Liebe zu Gott! Denn dem, den man liebt, kann
man nicht alles durchgehen lassen! Und Gott kritisiert sie nicht,
sondern er reagiert darauf! Paulus leitet uns an, das Kreuz des Christus
in diesem Zusammenhang endlich neu oder wieder richtig zu verstehen!
Das können wir nicht, ohne mit den Häresien aufzuräumen, die sich auch
in evangelischen Bekenntnisschriften und in so manchem Lied in unserem
Gesangbuch finden. Die Schlimmste und unter uns gebräuchlichste – und
wohl auch am heutigen Karfreitag von vielen Kanzeln gehörte - lautet:
„Christus hat mit seinem Tod am Kreuz die Strafe Gottes für die Sünde
der Menschheit auf sich genommen und damit Gott versöhnt.“ „Mit diesem
Satz in großen Lettern tourte vor neun Jahren die
Melanchthon-Ausstellung „Grenzen überwinden“ durch Europa. So ungeniert
stellte dieses offizielle Dokument der Evangelischen Kirche das
Evangelium auf den Kopf.“ (Rainer Stuhlmann, GPM, 1/2016, Heft 2, S.
202, Anm. 2) Und kann sich dabei auch noch auf so manche Stelle in den
evangelischen Bekenntnisschriften berufen. Aber wir wären nicht
Evangelische, wenn wir in diesem Punkt nicht wieder die Heilige Schrift
auch gegen solche Autoritäten zur Geltung bringen könnten.
Wir können die Worte des Apostels Paulus drehen und wenden, wie wir
wollen: Es gibt keinen Gott, der versöhnt wird, schon gar nicht im Sinne
irgendeiner Satisfaktion! Paulus spricht auch nicht von einem Gott, der
sich mit der Welt versöhnt. Er spricht klar und eindeutig und
ausschließlich von Gott, der die Welt mit sich versöhnt. Und das liegt
daran, dass nicht Gott böse auf die Welt ist. Nein, die Welt ist böse
auf Gott! Wer wollte es ihr verdenken!
Wie Rabbi Mosche Löb „leidet die Welt an den unabgegoltenen
Versprechungen Gottes. Die Welt leidet an der Welt, wie sie ist, wenn
die Gerechtigkeit auf sich warten lässt. Diesen Zustand nennt Paulus
‚Sünde‘ (Vers 21); und der Singular ‚Sünde‘ ist bei Paulus nie identisch
mit ‚Schuld‘. Das Böse, in dem die Feindschaft der Welt gegen Gott (…)
begründet ist, ist nicht nur das Böse, das Menschen tun und
verantworten, sondern vor allem anderen das Böse, das Menschen erleiden
- und nicht nur sie, sondern die gesamte Kreatur (…).
Die Welt liegt darum mit Gott im Streit. Sie ist nicht einverstanden mit
ihrem eigenen Zustand. Sie findet sich damit nicht ab, sie ist damit
nicht versöhnt, dass ihr Gerechtigkeit mangelt. Die Welt ist mit Gott so
lange nicht versöhnt, wie sie nicht ist, wie sie sein soll, so lange,
wie sie die alte Schöpfung ist, wie sie ‚Sünde‘ ist, der die
Gerechtigkeit fehlt. Die Welt ist es, die Klage erhebt, die Gott auf die
Anklagebank setzt, ihn anklagt über der Ungerechtigkeit. Wie das Blut
Abels, des ersten Gewaltopfers, nach Gottes Gerechtigkeit schreit und
das millionenfach vergossene unschuldige Blut bis in unsere Tage, so
auch das Blut Jesu (…).
Der Schrei des Gekreuzigten: ‚Mein Gott, warum hast du mich verlassen?‘
(…) ist Ausdruck dieser großen biblischen Frage nach Gottes
Gerechtigkeit. Jesus stellt sie stellvertretend für alle Juden und
Nichtjuden, die danach hungern und dürsten. Sie heißen Hiob und Jeremia,
sie singen oder beten die jüdischen Klagelieder, sie stoßen
unartikulierte Seufzer aus oder fluchen Gott über dem Leid der Welt.
Dass sie darüber auch schuldig werden, ist nicht von der Hand zu weisen.
Die Feindschaft der Welt schließt den Aspekt des Schuldig-Werdens ein
(…), aber das darf nicht dazu führen, die Feindschaft gegen Gott zu
moralisieren und auf Schuld zu reduzieren.
Jesu Leidensgeschichte als Lamm Gottes ruft nach Erinnerung
gegenwärtiger Leidensgeschichten, in denen die Opfer menschlicher Gewalt
wie Lämmer abgeschlachtet werden in Terror und Krieg, durch Ausgrenzen,
Ertrinken und Verhungern, die wie Lämmer ausgeliefert sind dem Sadismus
im Folterkeller wie dem Missbrauch im Wohnzimmer. Sie schreien nach
Heilung und Versöhnung. Es ist der Schrei nach Gottes neuer Schöpfung.“
(Rainer Stuhlmann, aaO. S. 203).
Wie trostlos bleibt eine Kirche, die angesichts solcher Schreie den
moralischen Zeigefinger erhebt, sich auf die Seite der Guten stellt, auf
die Bösen schimpft und ansonsten wie die Frau des Rabbi sagt: So darf
man nicht reden, unergründlich sind die Wege des Herrn und der Mensch
muss lernen, sein Schicksal anzunehmen. So kann nur reden, wer Hiob
vergisst und all die anderen, die Gott lieben und eben wegen dieser
Liebe zu seinen Feinden werden.
Schaut auf diese Heiligen, die all diejenigen verstehen, die mit einem
solchen Gott nichts mehr zu tun haben wollen und sich abwenden, ohne es
selbst zu können. Die mit ihm im Kampf bleiben, wie Jakob mit dem Engel
am Jabbok. (1. Mose 32,23 ff.) Und schaut auf den Christus, in dem Gott
nicht nur unser Menschsein angenommen hat, sondern am Kreuz auch die
„Sünde“, die Feindschaft gegen Gott. Im Todesschrei Jesu kommt der
Schrei aller gequälten Kreatur nicht nur vor Gott, sondern Ihm selbst
aus dem Herzen! Gott stellt sich auf die Seite von Hiob und Jeremia und
Attar und Rabbi Mosche Löb und aller seiner Feinde und aller Opfer des
Bösen auf dieser heillosen Welt. Denn er hat den, der von keiner Sünde
wusste, für uns zur Sünde gemacht.
Im Christus lässt Gott sich das Herz brechen! Mit dem Todesschrei fährt
der Christus hinab in alle Höllen dieser Welt und im Jenseits und wo
immer sie sein mögen, um sie leerzuräumen, leerzufegen, und jeden noch
so Großen und Kleinen auf seine Schultern zu laden und alle Tränen
abzuwischen. Die Evangelien wissen, dass die Erde bebte, als der
Christus die Augen schloss. Und die Felsen zerrissen, und die Gräber
taten sich auf. (Matthäus 27/52f.)
Das mag man kaum glauben. Aber mit dem Todesschrei des Christus passiert
die entscheidende Wende in Gottes eigenem Herzen. Gott versöhnt die
Welt mit sich, zieht sie an sein Herz und die Welt nimmt Fahrt auf und ändert die Richtung. Sie
treibt nicht länger ihrem Untergang entgegen, sondern nimmt Kurs auf die
neue Schöpfung und mit ihr auch wir. An Ostern holt Gott den Christus
aus seinem Grab und sagt: Nun soll es gelten! Und deshalb muss schon
heute und jetzt gelten, was Paulus schreibt: Ist jemand in Christus, so
ist er eine neue Kreatur; das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist
geworden.
Wer sich so von Gott mit Gott versöhnen lässt, kann und wird deshalb den
Mund erst recht nicht halten können. Nein, man darf es nicht annehmen!
Rabbi Mosche Löb hat recht! Denn Gott selbst macht sich am Kreuz des
Christus zum Anwalt aller Klagen aus der Gottverlassenheit, zum Anwalt der Opfer, der Schwachen, der Sünder, ja sogar
seiner Feinde. Deshalb bittet Gott uns am
Karfreitag unter das Kreuz. Denn dort lässt er sich aus Liebe zu uns das
Herz brechen. Wer sich an das Kreuz des Christus stellt, wird deshalb
Hoffnung und Trost finden, wie er sonst nirgends zu finden ist: „Es gibt
nichts Ganzeres, als ein zerbrochenes Herz!“ (Rabbi Nachman von Bratslav)
Pfarrer Johannes Taig (Hospitalkirche
Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Paulus schreibt:
14 Denn die Liebe Christi drängt uns, zumal wir überzeugt sind, dass,
wenn einer für alle gestorben ist, so sind sie alle gestorben.
15 Und er ist darum für alle gestorben, damit, die da leben, hinfort
nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und
auferstanden ist.
16 Darum kennen wir von nun an niemanden mehr nach dem Fleisch; und auch
wenn wir Christus gekannt haben nach dem Fleisch, so kennen wir ihn doch
jetzt so nicht mehr.
17 Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das Alte
ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.
18 Aber das alles von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat durch
Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt.
19 Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und
rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das
Wort von der Versöhnung.
20 So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt durch
uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!
21 Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde
gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott gilt.
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