Liebe Leser,
in den letzten Wochen ist viel von Missbrauch und Schuld die Rede.
Kein Tag, an dem nicht wieder eine öffentliche oder kirchliche
Einrichtung in den Scheinwerfer der Medien gerät. Opfer brechen nach
Jahrzehnten ihr Schweigen und sprechen über ihre Verletzungen und
Qualen. Schöne Fassaden fallen in sich zusammen. Aus den Gullys,
deren Deckel nicht mehr zuzuhalten sind, strömt alles andere als ein
lieblicher Geruch. Die öffentlichen Pranger füllen sich.
Das hätten wir nicht gedacht. Das hätten wir nicht gedacht, dass all
das, was da ans Tageslicht kommt, wirklich noch weh tut. Wo wir doch
schon so abgebrüht sind. Kinderpornografie und unsägliche Gewalt
sind in Zeiten des Internets nur einen Mausklick entfernt. Wer will,
kann sich damit zu jeder Tages- und Nachtzeit unterhalten. Bei der
Menge schrecklicher Bilder und Nachrichten, die uns heute auf allen
möglichen Kanälen erreichen, ist die Grenze der Mitleidensfähigkeit
schnell überschritten. Wir schalten innerlich ab. Da ist es schon
ein Wunder, dass uns noch irgendetwas wehtun kann.
Aber vielleicht liegt es auch daran, dass wir erschreckt
feststellen, dass die Pest und Cholera des Missbrauchs, der in
seinem inneren Kern immer Machtmissbrauch ist, nun auch die letzten
Bastionen der vermeintlich besseren Welt überrollt hat. Bitte nicht
die Kirche, bitte nicht die Diakonie, bitte nicht die Eliteschule,
bitte nicht das Vorzeigeinternat mit der schon ewigen humanistischen
Tradition. Dort wo wir die letzten wirklich guten Menschen vermutet
hatten, schreit‘s aus der Hölle.
Man hat es jetzt zugegeben, nachdem es gar nicht mehr anders ging.
Man hat Telefonhotlines geschaltet, Beauftragte ernannt. Man hat
null Toleranz, brutalst mögliche Aufklärung und Bestrafung gelobt.
Man hat sich entschuldigt. Das ist gut so und erweckt doch
unvermeidlich den Eindruck, in den letzten Bastionen der
vermeintlich besseren Welt, wollten die Guten ihren Ruf, die bessere
Welt zu sein, retten, indem sie - wieder einmal - die Bösen
aussondern, damit die Guten übrig bleiben. Wer in Jahrzehnten des
Verschweigens und Beschwichtigens bewiesen hat, dass der gute Ruf
der eigenen Institution immer wichtiger war, als die Wahrheit und
die Leiden der Opfer, hat eine lange Bewährungsfrist vor sich - und
sollte als erstes die Sorge um den eigenen Ruf und die eigene
Glaubwürdigkeit ganz hinten anstellen und das offene Herz und das
offene Ohr für die Opfer ganz vorn.
Ach ja, der eigene Ruf. Diese Woche hat eine Kommentatorin in der
ARD gemahnt, wer in diesen Tagen auf all die wegen Missbrauch an den
Pranger gestellten sehe, sollte sich dadurch den Blick nicht
verstellen lassen in die eigene Nachbarschaft, in die eigene Familie
und die eigene Geschichte. Da hätte der Apostel Paulus genickt. Wie
ist das mit der eigenen Fassade und den Gullydeckeln? Auch da
schreit’s oft noch nach Jahrzehnten aus der Hölle.
„Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit verloren, die Gott ihnen
zugedacht hatte.“ So schreibt es der Apostel Paulus im Römerbrief,
Kapitel 3, Vers 23. Und so recht will dann kein Stein mehr in die
eigene Hand passen. Wenigstens in der Geschichte von der
Ehebrecherin wollte keiner als erster werfen. Das Publikum um die
Pranger unserer Öffentlichkeit besteht - mit Paulus gedacht - aus
Scheinheiligen und Selbstgerechten. Diese Pranger machen nichts
heil. Die letzten Bastionen einer besseren Welt, die letzten
Refugien der Guten sind und waren schon immer eine Fata Morgana.
Solche Erkenntnis ist schwer zu ertragen. Sie ist eigentlich nur zu
ertragen und wirklich zu haben am Pranger des Karfreitag. Dort hat
sich der Christus selbst an den Pranger gestellt, an den wir alle
gehören: „Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur
Sünde gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor
Gott gilt.“
„Martin Luther hat versucht, dies zu verstehen. In seiner
Galater-Vorlesung von 1531 zu Gal 3, 13, schreibt er: „Das sind
keine nichtigen Worte bei Paulus: ,Christus ist für uns zum Fluch
gemacht. Gott hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur
Sünde gemacht, damit wir zur Gerechtigkeit Gottes in ihm selbst
gemacht würden.‘ Das ist unser höchster Trost, Christus so anziehen
und ihn so einhüllen zu dürfen in meine, deine und der ganzen Welt
Sünden. Die Papisten erträumen einen Glauben, der durch die Liebe
erst richtige Gestalt gewinnt; durch diesen Glauben wollen sie die
Sünde beseitigen und gerechtfertigt werden. Aber das heißt, Christus
wegtun von den Sünden und ihn unschuldig sprechen, uns aber beladen
und belasten mit den eigenen Sünden.
Wenn aber Christus das Lamm Gottes ist, das der Welt Sünde trägt,
wenn er der ist, der für uns zum Fluch gemacht und in unsere Sünden
eingehüllt ist, dann folgt notwendig, dass wir nicht durch unsere
Liebe gerechtfertigt werden und dass nicht wir die Sünde beseitigen
können. Gott hat unsere Sünde nicht auf uns, sondern auf Christus,
seinen Sohn, gelegt. Als der barmherzige Gott sah, dass wir durch
das Gesetz niedergeworfen werden, unter den Fluch festgehalten sind,
und dass wir durch nichts uns selbst befreien können, da sandte er
seinen Sohn in die Welt und warf auf ihn unser aller Sünden und
sprach zu ihm: Du sollst Petrus sein, jener Verleugner, du sollst
Paulus sein, jener Verfolger, Lästerer und Gewaltmensch. Du sollst
David sein, jener Ehebrecher. Du sollst jener Sünder sein, der die
Frucht im Paradies aß, jener Räuber am Kreuz. In summa: Du sollst
aller Menschen Person sein und sollst aller Menschen Sünde getan
haben, du also sieh zu, wie du Lösung schaffst und für sie
Genugtuung.“ (zitiert nach Hirschler, GPM, 1/1998, Heft 2, S. 210f.)
Das ist der Pranger, um den wir am Karfreitag stehen. Es ist der
einzige Pranger, um den wir nicht als Scheinheilige und
Selbstgerechte stehen müssen. Und wenn es aus uns und unserer
Geschichte wie aus der Hölle schreit, dann dürfen, nein dann sollen
wir dieses Geschrei wie ein Kleidungsstück ausziehen und dem
überziehen, der am Kreuz hängt.
Das ist nicht billig. Es kommt dem Christus, es kommt Gott teuer zu
stehen. Was dem Christus angehängt werden darf, ist gerade am
Gekreuzigten selbst schrecklich anzusehen. Es muss beim Namen
genannt werden - bevor es in ihm für immer vergeht. Dieser Pranger
und nur dieser macht heil.
„Denn die Schuld entfernt uns wohl von Gott. Aber nur die Lüge hält
uns in der Fremde fest.“ Werner Jetter hat das gesagt. Wer um den
Pranger des gekreuzigten Christus steht und weiterhin lieber an
seiner Fassade und seinem guten Ruf arbeitet, statt sich der
Wahrheit über sich selbst zu stellen, setzt sich in der Fremde fest.
Eine solche Kirche schämt sich ihres Christus. Es darf gefragt
werden, warum die Kirche im Zweifelsfall dann doch lieber Leute an
ihre Spitze stellt, die ein Schuldbekenntnis und den Pranger des
Gekreuzigten im Licht der Öffentlichkeit nicht nötig haben. Paulus,
der in Korinth gegen andere wesentlich ansehnlichere Prediger beim
Publikum durchfiel, singt in seinem Brief auch ein Lied davon, wie
verblendet Christenmenschen bleiben können: Nicht um Paulus, Petrus,
Apollos, Meier, Huber oder Müller geht es in der Kirche, sondern um
den gekreuzigten Christus.
Welt ging verloren, Christ ist geboren. Das haben wir an Weihnachten
gesungen. Am Pranger des Karfreitag löst Gott diese Verheißung ein.
Der Christus, der von keiner Sünde wusste, der, der ein Leben in
inniger Einheit mit seinem himmlischen Vater lebte, kommt in der
Gottverlassenheit an. Nicht, dass er ein Mensch wurde wie du und
ich, nicht, dass er unserem Erdendasein ein wenig religiösen Glanz
verleiht, nicht ein Trostpflästerchen fürs verstimmte Gemüt zu sein,
ist die Mission des Christus. Sein Weg führt ihn in die Finsternis,
dorthin, wo wir wirklich leben: An den Pranger des Karfreitag. Dort,
in der Gottverlassenheit holt er uns ab. Dort ist er der Weg und die
Wahrheit und das Leben. Dort beginnt unsere Heimkehr. Die neue
Schöpfung, die neue Kreatur. Unsere neue Einheit und Gemeinschaft
mit Gott in Christus.
Gewaltig steht der Gekreuzigte in der Tür zum schönen Paradeis. Hält
sie für uns auf. Sein Schrei gilt Gott - und uns die Bitte: Dass wir
ihn nicht warten und umsonst dort hängen lassen.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de |
Text:
Paulus schreibt:
14 Denn die Liebe Christi drängt uns, zumal
wir überzeugt sind, dass, wenn einer für alle gestorben ist, so sind
sie alle gestorben.
15 Und er ist darum für alle gestorben, damit, die da leben, hinfort
nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und
auferstanden ist.
16 Darum kennen wir von nun an niemanden mehr nach dem Fleisch; und
auch wenn wir Christus gekannt haben nach dem Fleisch, so kennen wir
ihn doch jetzt so nicht mehr.
17 Darum: Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur; das
Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.
18 Aber das alles von Gott, der uns mit sich selber versöhnt hat
durch Christus und uns das Amt gegeben, das die Versöhnung predigt.
19 Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber
und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns
aufgerichtet das Wort von der Versöhnung.
20 So sind wir nun Botschafter an Christi statt, denn Gott ermahnt
durch uns; so bitten wir nun an Christi statt: Lasst euch versöhnen
mit Gott!
21 Denn er hat den, der von keiner Sünde wusste, für uns zur Sünde
gemacht, damit wir in ihm die Gerechtigkeit würden, die vor Gott
gilt.
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