Predigt    2. Korinther 12/1-10     Sexagesimae (60 Tage vor Ostern)     04.02.18

"Gesichtsverlust"
(von Pfarrer Johannes Taig, Hospitalkirche Hof)
 

Liebe Leser,

zurzeit wird wieder von der rosigen Zukunft der Kirche und geistlichen Aufbrüchen geträumt. Profil und Konzentration, kurz PuK, heißt ein umfangreiches Reformprogramm, das die Synode auf den Weg geschickt hat. Es will Begeisterung wecken, Kräfte freisetzen, natürlich auch, weil uns angesichts aller bedrohlichen Entwicklungen gar nichts anderes übrigbleibt. Die Flucht nach vorne wird angetreten. Schon wieder, möchte man sagen. Was ist in den letzten Jahren nicht alles reformiert, oder besser umstrukturiert worden. Wie sieht sie aus, die schöne und überlebensfähige Kirche der Zukunft? „Sie hat weniger Mitglieder, aber sie ist geistesgegenwärtig und vital. Sie ist weniger schwerfällig und weniger bürokratisch. Ihre Sprache ist verständlicher geworden. Spirituelle Inhalte zeugen von einem neuen Geist in unserer Kirche. Diejenigen, die im Jahr 2067 nach wie vor vom Evangelium begeistert sind, haben die alten Strukturen losgelassen, um neu aufzubrechen. Sie haben sich in kleinen flexiblen Keimzellen organisiert. Im Jahr 2067 geht es darum, den Mut zu haben, zur Profilkirche zu werden – zur Jugendkirche, zur Vesperkirche, zur Meditiationskirche, zur Kirche der ästhetischen Erfahrung, zur Kirche der ‚fresh expressions’. Die Christen werden (…) interessante Leute sein (man beachte das Futur!). Für die Kirche der Gegenwart jedoch gilt: Wenn wir nicht schwimmen lernen, werden wir untergehen wie ein Stein, nämlich an der eigenen bleiernen Schwere und Behäbigkeit.“ (Dr. Karl Eberlein, So nicht!, http://aufbruch-gemeinde.de/wordpress/?p=1406 )

Den Apostel Paulus werden die, die da so munter aufbrechen, im Jahr 2067 wohl eher nicht dabeihaben wollen. Sicher, Paulus kennt Momente der Gottseligkeit und des Glücks. Er hat hineingeschaut ins Paradies. Aber er weiß schon gar nicht mehr, ob er das selber war. Verweile Augenblick, du bist so schön! Aber ach, die Momente des Glücks verweilen nicht.

Vielmehr haben die Nadelstiche des Todes den Apostel Paulus ein Leben lang begleitet. Er redet von einem Pfahl im Fleisch, als würde ein Engel des Satans ihn mit Fäusten traktieren. Krämpfe, die anfallartig kamen und meistens zur Unzeit, raubten dem Apostel die Kontrolle. Das ist, schreibt Paulus, damit ich, der ich ins Paradies geschaut habe nicht vergesse, was unser Leben eigentlich ist: Schwach und zerbrechlich. Etwas, was wir weniger führen, als vielmehr erleiden. Etwas, das weniger dem Aufstieg gleicht, sondern dem Fall.

Wer von uns hält solche Aussichten aus? Fitness- und Wellenesscenter schießen allerorten aus dem Boden. Durch die Fernsehwerbung hüpfen lauter junge und gesunde Milchschnitten. Sogar unsere Alten- und Sterbeheime haben schöne Fassaden. Dahinter schaut keiner, wenn er nicht muss. Wir leben heute mehr denn je in einer Gesellschaft, die mit der Wahrheit über sich selbst nicht leben will, weil sie es vielleicht gar nicht kann.

Sich der Wahrheit stellen, fällt schwer. Und der Apostel Paulus lässt keinen Zweifel daran, woher ihm die Kraft und die Stärke zuwächst, seiner Menschlichkeit ins Auge zu sehen. Seine Kraft kommt aus dem Glauben. Sie ist Christuskraft, nicht Menschenkraft. Sie ist nur und ausschließlich Christuskraft. Es ist die Kraft, die in den Schwachen mächtig ist.

Es gehört für mich zu den bewegenden Stellen der Bibel, dass der Christus dem Apostel, der wie kein anderer sein Memento mori mit sich herumtrug, ein Wort zukommen lässt, das sich in den Evangelien nicht findet; als ob der Christus nach seiner Himmelfahrt, seinem Evangelium noch etwas hinzufügt. Ein Wort wie ein Integral der ganzen Trostkraft seines Lebens und Sterbens für uns und unsere Welt.

Lass dir an meiner Gnade genügen; denn – so übersetzt die neue Lutherbibel - meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.

Das ist ein Wort von elementarer und existentieller Wucht. Es hebt den Seinsgrund unserer Existenz auf ein neues Fundament. Ganz unten im Abgrund unserer Existenz befindet sich nicht die Erde unseres Grabes, sondern die Schultern des Christus. Und wenn wir fallen, dann nicht Tod und Teufel in die Hände, sondern in die Arme des Christus. Leben ist nicht freier Fall, sondern Heimkehr.

Deshalb schreibt und predigt in die falsche Richtung, wer behauptet, Gott sei immer auf der Seite der Schwachen. Als gäbe es noch die Seite der Starken. Schwachheit, die nur einen Teil der Menschheit betrifft, ist Schwachheit bis auf weiteres, ein grundsätzlich zu milderndes oder zu beseitigendes Übel. Schwachheit, die zu beheben ist, sollten wir gefälligst beheben. Wer den Gott auf der Seite der Schwachen predigt, der sollte wohl aufpassen, das er nicht den Zynikern der Macht zuarbeitet, die sagen, wer nichts hat, nichts kann, nichts weiß und nichts ist, der könne ja immer noch in die Kirche gehen und beten. Das gibt Lacher am kalten Büffet.

Weg auch mit all dem frommen Demutsgehabe, das meint, wenn ich nur schwach genug daherkomme steigt meine geistliche Vollmacht. Als wäre unsere Schwachheit die Bedingung für die Kraft des Christus.

Schwachheit, von der der Apostel spricht ist Grundkondition unseres Menschseins. Wir können diese Wahrheit verdrängen, bis sie uns einholt. Dass sie das wird, ist so sicher, wie das Amen in der Kirche. „Wir alle fallen/ diese Hand da fällt/ und sieh dir andre an/ es ist in allen ...“ (R.M. Rilke, Herbst).

Aber wir dürfen mit dem Apostel ein leuchtendes Geheimnis betrachten, das zum Geheimnis unseres Lebens wird. In ihm steckt sogar die Lasskraft, Abschied zu nehmen von unseren verlorenen Paradiesen und falschen Zukunftsträumen. In die Hohlform unserer Schwachheit ergießt sich die Kraft des Christus. Wenn unser Zeiger gen Mitternacht wandert, leuchtet sein Licht auf. Mögen Tod und Teufel uns ihren Dorn ins Fleisch rammen! Sie wissen noch nicht, das es Splitter vom Kreuz Christi sind, mit denen sie uns nur noch mehr mit unserem Herrn verbinden, der zu uns sagt:

Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.

Da darf es dann aus und vorbei sein mit der verzweifelten Verlustangst, mit der wir die Wahrheit über uns selbst verdrängen und uns unsere Menschlichkeit verstellen und entstellen. Da darf dann Schluss sein, mit all den Überheblichkeiten, mit denen wir uns an uns selbst und unserer Welt überheben und erst recht an einer Kirche der Zukunft im Jahr 2067, die wir doch gar nicht in der Hand haben. Christuskraft stellt das wahre Maß unserer Menschlichkeit wieder her. Es gibt kein Gesicht, das wir zu verlieren hätten, außer seinem. Deshalb dürfen wir die Masken abnehmen, mit denen wir uns voreinander und vor dem Tod verstecken und bei Rilke fertig lesen:

„Wir alle fallen/ diese Hand da fällt/ und sieh dir andre an/ es ist in allen/ und doch ist einer/ welcher dieses Fallen/ unendlich sanft in seinen Händen hält.“

Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter www.kanzelgruss.de)

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Die Kanzel der Hospitalkirche Hof

Die Predigt zum Hören

Text:

Paulus schreibt:

1 Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn.
2 Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren - ist er im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es -, da wurde derselbe entrückt bis in den dritten Himmel.
3 Und ich kenne denselben Menschen - ob er im Leib oder außer dem Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es -,
4 der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche Worte, die kein Mensch sagen kann.
5 Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit.
6 Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört.
7 Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe, ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe.
8 Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir weiche.
9 Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft Christi bei mir wohne.
10 Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich schwach bin, so bin ich stark.
 


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