Liebe Leser,
zurzeit wird wieder von der rosigen Zukunft der Kirche und
geistlichen Aufbrüchen geträumt. Profil und Konzentration, kurz PuK,
heißt ein umfangreiches Reformprogramm, das die Synode auf den Weg
geschickt hat. Es will Begeisterung wecken, Kräfte freisetzen,
natürlich auch, weil uns angesichts aller bedrohlichen Entwicklungen
gar nichts anderes übrigbleibt. Die Flucht nach vorne wird
angetreten. Schon wieder, möchte man sagen. Was ist in den letzten
Jahren nicht alles reformiert, oder besser umstrukturiert worden.
Wie sieht sie aus, die schöne und überlebensfähige Kirche der
Zukunft? „Sie hat weniger Mitglieder, aber sie ist
geistesgegenwärtig und vital. Sie ist weniger schwerfällig und
weniger bürokratisch. Ihre Sprache ist verständlicher geworden.
Spirituelle Inhalte zeugen von einem neuen Geist in unserer Kirche.
Diejenigen, die im Jahr 2067 nach wie vor vom Evangelium begeistert
sind, haben die alten Strukturen losgelassen, um neu aufzubrechen.
Sie haben sich in kleinen flexiblen Keimzellen organisiert. Im Jahr
2067 geht es darum, den Mut zu haben, zur Profilkirche zu werden –
zur Jugendkirche, zur Vesperkirche, zur Meditiationskirche, zur
Kirche der ästhetischen Erfahrung, zur Kirche der ‚fresh expressions’.
Die Christen werden (…) interessante Leute sein (man beachte das
Futur!). Für die Kirche der Gegenwart jedoch gilt: Wenn wir nicht
schwimmen lernen, werden wir untergehen wie ein Stein, nämlich an
der eigenen bleiernen Schwere und Behäbigkeit.“ (Dr. Karl Eberlein,
So nicht!,
http://aufbruch-gemeinde.de/wordpress/?p=1406
)
Den Apostel Paulus werden die, die da so munter aufbrechen, im Jahr
2067 wohl eher nicht dabeihaben wollen. Sicher, Paulus kennt Momente
der Gottseligkeit und des Glücks. Er hat hineingeschaut ins
Paradies. Aber er weiß schon gar nicht mehr, ob er das selber war.
Verweile Augenblick, du bist so schön! Aber ach, die Momente des
Glücks verweilen nicht.
Vielmehr haben die Nadelstiche des Todes den Apostel Paulus ein
Leben lang begleitet. Er redet von einem Pfahl im Fleisch, als würde
ein Engel des Satans ihn mit Fäusten traktieren. Krämpfe, die
anfallartig kamen und meistens zur Unzeit, raubten dem Apostel die
Kontrolle. Das ist, schreibt Paulus, damit ich, der ich ins Paradies
geschaut habe nicht vergesse, was unser Leben eigentlich ist:
Schwach und zerbrechlich. Etwas, was wir weniger führen, als
vielmehr erleiden. Etwas, das weniger dem Aufstieg gleicht, sondern
dem Fall.
Wer von uns hält solche Aussichten aus? Fitness- und Wellenesscenter
schießen allerorten aus dem Boden. Durch die Fernsehwerbung hüpfen
lauter junge und gesunde Milchschnitten. Sogar unsere Alten- und
Sterbeheime haben schöne Fassaden. Dahinter schaut keiner, wenn er
nicht muss. Wir leben heute mehr denn je in einer Gesellschaft, die
mit der Wahrheit über sich selbst nicht leben will, weil sie es
vielleicht gar nicht kann.
Sich der Wahrheit stellen, fällt schwer. Und der Apostel Paulus
lässt keinen Zweifel daran, woher ihm die Kraft und die Stärke
zuwächst, seiner Menschlichkeit ins Auge zu sehen. Seine Kraft kommt
aus dem Glauben. Sie ist Christuskraft, nicht Menschenkraft. Sie ist
nur und ausschließlich Christuskraft. Es ist die Kraft, die in den
Schwachen mächtig ist.
Es gehört für mich zu den bewegenden Stellen der Bibel, dass der
Christus dem Apostel, der wie kein anderer sein Memento mori mit
sich herumtrug, ein Wort zukommen lässt, das sich in den Evangelien
nicht findet; als ob der Christus nach seiner Himmelfahrt, seinem
Evangelium noch etwas hinzufügt. Ein Wort wie ein Integral der
ganzen Trostkraft seines Lebens und Sterbens für uns und unsere
Welt.
Lass dir an meiner Gnade genügen; denn – so übersetzt die neue
Lutherbibel - meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit.
Das ist ein Wort von elementarer und existentieller Wucht. Es hebt
den Seinsgrund unserer Existenz auf ein neues Fundament. Ganz unten
im Abgrund unserer Existenz befindet sich nicht die Erde unseres
Grabes, sondern die Schultern des Christus. Und wenn wir fallen,
dann nicht Tod und Teufel in die Hände, sondern in die Arme des
Christus. Leben ist nicht freier Fall, sondern Heimkehr.
Deshalb schreibt und predigt in die falsche Richtung, wer behauptet,
Gott sei immer auf der Seite der Schwachen. Als gäbe es noch die
Seite der Starken. Schwachheit, die nur einen Teil der Menschheit
betrifft, ist Schwachheit bis auf weiteres, ein grundsätzlich zu
milderndes oder zu beseitigendes Übel. Schwachheit, die zu beheben
ist, sollten wir gefälligst beheben. Wer den Gott auf der Seite der
Schwachen predigt, der sollte wohl aufpassen, das er nicht den
Zynikern der Macht zuarbeitet, die sagen, wer nichts hat, nichts
kann, nichts weiß und nichts ist, der könne ja immer noch in die
Kirche gehen und beten. Das gibt Lacher am kalten Büffet.
Weg auch mit all dem frommen Demutsgehabe, das meint, wenn ich nur
schwach genug daherkomme steigt meine geistliche Vollmacht. Als wäre
unsere Schwachheit die Bedingung für die Kraft des Christus.
Schwachheit, von der der Apostel spricht ist Grundkondition unseres
Menschseins. Wir können diese Wahrheit verdrängen, bis sie uns
einholt. Dass sie das wird, ist so sicher, wie das Amen in der
Kirche. „Wir alle fallen/ diese Hand da fällt/ und sieh dir andre
an/ es ist in allen ...“ (R.M. Rilke, Herbst).
Aber wir dürfen mit dem Apostel ein leuchtendes Geheimnis
betrachten, das zum Geheimnis unseres Lebens wird. In ihm steckt
sogar die Lasskraft, Abschied zu nehmen von unseren verlorenen
Paradiesen und falschen Zukunftsträumen. In die Hohlform unserer
Schwachheit ergießt sich die Kraft des Christus. Wenn unser Zeiger
gen Mitternacht wandert, leuchtet sein Licht auf. Mögen Tod und
Teufel uns ihren Dorn ins Fleisch rammen! Sie wissen noch nicht, das
es Splitter vom Kreuz Christi sind, mit denen sie uns nur noch mehr
mit unserem Herrn verbinden, der zu uns sagt:
Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft vollendet sich in
der Schwachheit.
Da darf es dann aus und vorbei sein mit der verzweifelten
Verlustangst, mit der wir die Wahrheit über uns selbst verdrängen
und uns unsere Menschlichkeit verstellen und entstellen. Da darf
dann Schluss sein, mit all den Überheblichkeiten, mit denen wir uns
an uns selbst und unserer Welt überheben und erst recht an einer
Kirche der Zukunft im Jahr 2067, die wir doch gar nicht in der Hand
haben. Christuskraft stellt das wahre Maß unserer Menschlichkeit
wieder her. Es gibt kein Gesicht, das wir zu verlieren hätten, außer
seinem. Deshalb dürfen wir die Masken abnehmen, mit denen wir uns
voreinander und vor dem Tod verstecken und bei Rilke fertig lesen:
„Wir alle fallen/ diese Hand da fällt/ und sieh dir andre an/ es ist
in allen/ und doch ist einer/ welcher dieses Fallen/ unendlich sanft
in seinen Händen hält.“
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
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Die Predigt zum Hören
Text:
Paulus schreibt:
1 Gerühmt muss werden; wenn es auch nichts nützt, so will ich doch
kommen auf die Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn.
2 Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren - ist er
im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib
gewesen? Ich weiß es nicht; Gott weiß es -, da wurde derselbe
entrückt bis in den dritten Himmel.
3 Und ich kenne denselben Menschen - ob er im Leib oder außer dem
Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es -,
4 der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche
Worte, die kein Mensch sagen kann.
5 Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich
mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit.
6 Denn wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich kein Narr; denn ich
würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht
jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört.
7 Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe,
ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der
mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe.
8 Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir
weiche.
9 Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn
meine Kraft vollendet sich in der Schwachheit. Darum will ich mich
am allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, auf dass die Kraft
Christi bei mir wohne.
10 Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in
Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich
schwach bin, so bin ich stark.
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