Liebe Leser,
der Schriftsteller Botho Strauss erzählt in seinem Buch „Die Fehler
des Kopisten“ (Hanser, 1997) von einem Besuch mit seiner Mutter bei
der Tante, die von einer Krebskrankheit grausig entstellt im Sterben
liegt:
„Freust du dich denn, dass der Junge gekommen ist?“ fragte die
Mutter. „Und wie“, antwortete die Tante, ohne eine Regung auf ihr
Gesicht zu lassen. Aber es war wohl nicht der Tumor, der eine
faziale Lähmung oder dergleichen bewirkt hätte. Es war schon das
angehaltene, das Endgesicht, das keine Bewegung der Seele mehr
wiedergab. Es war keine Unterhaltung mehr möglich. Den Lippen
entschlüpfte hie und da ohne Anlass eine Silbe der Artigkeit ...
„Ja. Danke.“ Und zuletzt die Frage aller Tage: „Was gibt es denn zu
essen?“
Sie war nicht mehr bei Bewusstsein. Aber was mochte sich noch rühren
unter der starren Haut, mit der der Tod ihr Gesicht schon überzogen
hatte? Ich dachte, welch höllische Einsamkeit muss sie zuletzt vor
der Grenze ertragen: keinen Ausdruck mehr zu besitzen, doch alles
noch zu hören, zu empfinden – und womöglich zu einer großen Antwort
bereit, die sie nicht mehr nach außen bringen kann ...
Als ich Tage später auf den Bahnhöfen die schnell bewegten
Fleischklumpen sah, da dachte ich wieder an die knochige Schulter
der Sterbenden, die unter dem Nachthemd hervorstach. Das ist eine
Materie, das ist ein Fleisch, die satten Wülste, die über den Gürtel
hängen und dieser spitze Schulterknochen. Der muntere Mensch „bei
Bewusstsein“ schien mir indessen weit ärger entstellt als der von
Tod und Tumor gezeichnete.“ (S. 147f.)
Zum Glück besteht das Buch nicht bloß aus solch traurigen
Betrachtungen. Es enthält wundervolle und anrührende Beschreibungen
über die ersten gemeinsamen Jahre des Autors mit seinem Sohn. Aber
am Ende fasst der Schriftsteller sein Fazit in zwei Sätze: „So viel
Vorgeschmack auf die Hölle. So wenig Nachgeschmack vom Paradies.“
(S. 107)
Wenn wir unseren heutigen Predigttext betrachten, hätte der Apostel
Paulus diese beiden Sätze sofort unterschrieben. Ja, er kennt
Momente der Gottseligkeit und des Glücks. Er hat hineingeschaut ins
Paradies. Aber er weiß schon gar nicht mehr, ob er das selber war.
Verweile Augenblick, du bist so schön! So haben wir selbst
vielleicht, oder besser hoffentlich, schon oft in unserem Leben
geseufzt unter einem blauen Himmel mit weißen Wolken, den Duft von
Frühlingsblumen in der Nase, in den Armen eines geliebten Menschen
und vor uns nichts als rosige Zukunft. Aber ach, die Momente des
Glücks verweilen nicht. Die Jahre decken sie mit grauem Alltag zu.
Die Nadelstiche des Todes haben auch den Apostel Paulus ein Leben
lang begleitet. Er redet von einem Pfahl im Fleisch, als würde ein
Engel des Satans ihn mit Fäusten traktieren. Krämpfe, die
anfallartig kamen und meistens zur Unzeit, raubten dem Apostel die
Kontrolle. Das ist, schreibt Paulus, damit ich, der ich ins Paradies
geschaut habe, nicht vergesse, was unser Leben eigentlich ist:
Voller Ohnmacht, schwach und zerbrechlich. Etwas, was wir weniger
führen, als vielmehr erleiden. Etwas, das weniger dem Aufstieg
gleicht, sondern dem Fall.
Wer von uns hält solche Aussichten aus? Fitness, Wellness und Fun
sind rund um die Uhr angesagt. Durch die Fernsehwerbung hüpfen
lauter junge und gesunde Milchschnitten. Sogar unsere Alten- und
Sterbeheime haben schöne Fassaden. Dahinter schaut keiner, wenn er
nicht muss. Leben wir heute mehr denn je in einer Gesellschaft, die
mit der Wahrheit über das Wesen des Menschen nicht leben will, weil
sie es vielleicht gar nicht kann?
Sich der Wahrheit stellen, wie sie der Autor im spitzen
Schulterknochen seiner sterbenden Tante erblickt, fällt schwer. Und
der Apostel Paulus lässt keinen Zweifel daran, woher ihm die Kraft
und die Stärke zuwächst, all dem ins Auge zu sehen. Seine Kraft
kommt aus dem Glauben. Sie ist Christuskraft, nicht Menschenkraft.
Sie ist nur und ausschließlich Christuskraft. Es ist die Kraft, die
in den Schwachen mächtig ist.
Es gehört für mich zu den bewegenden Stellen der Bibel, dass der
Christus dem Apostel, der wie kein anderer sein memento mori mit
sich herumtrug, ein Wort zukommen lässt, das sich in den Evangelien
nicht findet; als ob der Christus nach seiner Himmelfahrt, seinem
Evangelium noch etwas hinzufügt. Ein Wort wie ein Integral der
ganzen Trostkraft seines Lebens und Sterbens für uns und unsere
Welt.
Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den
Schwachen mächtig.
Das ist ein Wort von elementarer und existentieller Wucht. Es hebt
den Seinsgrund unserer Existenz auf ein neues Fundament. Ganz unten
im Abgrund unserer Existenz befindet sich nicht die Erde unseres
Grabes, sondern die Schultern des Christus. Und wenn wir fallen,
dann nicht Tod und Teufel in die Hände, sondern in die Arme des
Christus. Leben ist nicht freier Fall, sondern Heimkehr.
Deshalb schreibt und predigt in die falsche Richtung, wer behauptet,
Gott sei immer auf der Seite der Schwachen. Als gäbe es noch die
Seite der Starken. Schwachheit, die nur einen Teil der Menschheit
betrifft, ist Schwachheit bis auf Weiteres, ein grundsätzlich zu
milderndes oder zu beseitigendes Übel. Schwachheit, die zu beheben
ist, sollten wir gefälligst beheben. Wer den Gott auf der Seite der
Schwachen predigt, der sollte wohl aufpassen, dass er nicht den
Zynikern der Macht zuarbeitet, die sagen, wer nichts hat, nichts
kann, nichts weiß und nichts ist, der könne ja immer noch in die
Kirche gehen und beten. Das gibt Lacher am kalten Büffet.
Hierhin gehört die Kritik an einer Turbogesellschaft, die vom Maß
des Menschlichen nichts mehr wissen will und in der ausgebrannte,
abgearbeitete und kranke Menschen nichts mehr wert sind. Wie
lebenswert ist eine Gesellschaft noch, in der sich der materielle
Reichtum ständig mehrt, die aber sozial und menschlich ins Elend
fällt? Zurecht hat der bayerische Landesbischof Bedford-Strohm in
seiner Weihnachtsbotschaft 2011 mehr sozialen Reichtum angemahnt.
Und vom Theologen Eberhard Jüngel können wir gar nicht oft genug
daran erinnert werden: „Kinder und Alte repräsentieren auf
natürlichste Weise den unbedingten Vorrang der Person vor ihren
Taten. Sie sind ja primär Nehmende und können für ihr Dasein noch
nichts oder nichts mehr tun. Nur wenn wir sie als solche, die für
ihr Dasein noch nichts oder nichts mehr tun können, als eine Wohltat
empfinden, nur wenn wir, statt nach ihrem - auf- oder abwertbaren -
Wert zu fragen, ihre Würde respektieren, strahlen unsere
Gottesdienste das Evangelium so in den Alltag der Welt aus, dass
unsere Leistungsgesellschaft eine menschliche Gesellschaft genannt
zu werden verdient. Entsprechendes gilt für unseren Umgang mit
Kranken, und zwar nicht nur für unseren privaten Umgang, sondern
auch für den sich in der Sozialgesetzgebung ausweisenden
gesellschaftlichen Umgang mit den kranken Menschen.“ (Eberhard
Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als
Zentrum des Christlichen Glaubens, Mohr, 1999/3, S.229)
Schwachheit, von der der Apostel spricht, ist Grundkondition unseres
Menschseins. Wir können diese Wahrheit verdrängen, bis sie uns
einholt. Dass sie das wird, ist so sicher, wie das Amen in der
Kirche. „Wir alle fallen/ diese Hand da fällt/ und sieh dir andre
an/ es ist in allen ...“ (R.M. Rilke, Herbst). So viel Vorgeschmack
auf die Hölle. So wenig Nachgeschmack vom Paradies.
Im Angesicht dieser Wahrheit dürfen wir mit dem Apostel ein
leuchtendes Geheimnis betrachten, das zum Geheimnis unseres Lebens
wird. In ihm steckt sogar die Lasskraft, Abschied zu nehmen von
unseren verlorenen Paradiesen. In die Hohlform unserer Schwachheit
ergießt sich die Kraft des Christus. Wenn unser Zeiger gen
Mitternacht wandert, leuchtet sein Licht auf. Mögen Tod und Teufel
uns ihren Dorn ins Fleisch rammen! Sie wissen noch nicht, dass es
Splitter vom Kreuz Christi sind, mit denen sie uns nur noch mehr mit
unserem Herrn verbinden, der zu uns sagt:
Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den
Schwachen mächtig.
Da darf es dann aus und vorbei sein mit der verzweifelten
Verlustangst, mit der wir die Wahrheit über uns selbst verdrängen
und uns unsere Menschlichkeit verstellen und entstellen. Da darf
dann Schluss sein, mit all den Überheblichkeiten, mit denen wir uns
an uns selbst und unserer Welt überheben. Christuskraft stellt das
wahre Maß des Menschlichen her. Es gibt kein Gesicht, das wir zu
verlieren hätten, außer seinem. Deshalb dürfen wir die Masken
abnehmen, mit denen wir uns voreinander und vor dem Tod verstecken,
auch der sterbenden Tante ins Gesicht sehen und bei Rilke fertig
lesen:
„Wir alle fallen/ diese Hand da fällt/ und sieh dir andre an/ es ist
in allen/ und doch ist einer/ welcher dieses Fallen/ unendlich sanft
in seinen Händen hält.“
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Paulus schreibt:
1 Gerühmt muss werden;
wenn es auch nichts nützt, so will ich doch kommen auf die
Erscheinungen und Offenbarungen des Herrn.
2 Ich kenne einen Menschen in Christus; vor vierzehn Jahren – ist er
im Leib gewesen? Ich weiß es nicht; oder ist er außer dem Leib
gewesen? Ich weiß es auch nicht; Gott weiß es –, da wurde derselbe
entrückt bis in den dritten Himmel.
3 Und ich kenne denselben Menschen – ob er im Leib oder außer dem
Leib gewesen ist, weiß ich nicht; Gott weiß es –,
4 der wurde entrückt in das Paradies und hörte unaussprechliche
Worte, die kein Mensch sagen kann.
5 Für denselben will ich mich rühmen; für mich selbst aber will ich
mich nicht rühmen, außer meiner Schwachheit.
6 Und wenn ich mich rühmen wollte, wäre ich nicht töricht; denn ich
würde die Wahrheit sagen. Ich enthalte mich aber dessen, damit nicht
jemand mich höher achte, als er an mir sieht oder von mir hört.
7 Und damit ich mich wegen der hohen Offenbarungen nicht überhebe,
ist mir gegeben ein Pfahl ins Fleisch, nämlich des Satans Engel, der
mich mit Fäusten schlagen soll, damit ich mich nicht überhebe.
8 Seinetwegen habe ich dreimal zum Herrn gefleht, dass er von mir
weiche.
9 Und er hat zu mir gesagt: Lass dir an meiner Gnade genügen; denn
meine Kraft ist in den Schwachen
mächtig. Darum will ich mich am
allerliebsten rühmen meiner Schwachheit, damit die Kraft Christi bei
mir wohne.
10 Darum bin ich guten Mutes in Schwachheit, in Misshandlungen, in
Nöten, in Verfolgungen und Ängsten um Christi willen; denn wenn ich
schwach bin, so bin ich stark.
(Jahreslosung
2011)
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