Predigt    2. Könige 25/8-12   10. Sonntag nach Trinitatis (Israelsonntag)   04.08.02

"Vom Gottesstaat zum Land der Herzen"
(von Pfr. Johannes Taig, Hospitalkirche)

Liebe Leser,

kalt notiert der Chronist das Ende des letzten Königreichs in Israel. 722 war das Nordreich im Ansturm der Assyrer untergegangen. Wir schreiben das Jahr 587 vor Christus. Der letzte König des Südreichs, des Königreichs Juda, Zedekia mit Namen, will sein eigenes Süppchen kochen. Der König Nebukadnezar von Babylonien, Beherrscher der damaligen Welt, lässt daraufhin diesen letzten Rest von israelitischer Eigenstaatlichkeit durch seinen Obersten der Leibwache und die Truppen der Chaldäer wie einen Fliegenschiss von der Landkarte tilgen. Der Tempel wird ebenso niedergebrannt, wie das Königshaus, in dem einst der große König David seine Lieder sang. Die Oberschicht wird ins babylonische Exil geführt. Es ist das Ende der Geschichte für Israel, so scheint es. Der Chronist des deuteronomistischen Geschichtswerkes (Dtn-2.Kön), wie es die Bibelforscher nennen, macht seinen letzten Punkt und legt die Feder beiseite.

„Normalerweise“, schreibt ein Ausleger, „bedeutet der Verlust der staatlichen Souveränität auch den Verlust der kulturellen und religiösen Identität. Dass gerade das Exil zum Kristallisationspunkt der jüdischen Identität werden sollte, ist mehr als eine List der Geschichte. Die Zerstörung der Staatsreligion war Voraussetzung für die Entstehung einer Bekenntnisreligion. Der Verlust des Tempels ließ die Tora zusammen mit den Bekenntniszeichen Beschneidung und Sabbat zur Grundlage der religiösen Identität werden. Im Exil kam es zu einem eigentlichen Boom der Theologie. In den Trümmern der Geschichte entsteht ein neues jüdisches Gottes- und Selbstbewusstsein. Das babylonische Exil wird zum Wendepunkt in der Geschichte Israels.“ (Ralph Kunz in GPM Heft 3/2002, S. 357f.)

Das Volk Israel hat die Katastrophe von 587 als Gericht Gottes verstanden. Als Gericht, das bis an die Wurzeln dieses Volkes und seines Glaubens ging. Es musste alles verlieren: Seinen König, seinen Staat, seine Heimat. Sind wir noch zu retten? mag sich mancher angesichts des drohenden Unheils gefragt haben. Und Gott sagt Nein! Manchmal sind die alten und gewohnten Verhältnisse nicht zu retten. Aber das ist nicht das Ende des Heilswillens Gottes für sein Volk.

Könnte es sein, dass wir hier in der Bibel die Abkehr Gottes von der Idee eines wie immer gearteten Gottesstaats finden? Wendet Gott sich hier ab von einem Denken, dass Thron und Altar zusammen sieht? Ist das nicht auch in der Geschichte der Kirche immer furchtbar ins Auge gegangen? Hat die Kirche diese Lektion nicht auch lernen müssen? Vom Volk Israel können wir jedenfalls sagen, dass Gott sich vom einem Königreich Israel abwendet und sich einem viel weiteren Land zuwendet: Den Herzen derer, die ihm trotz allem vertrauen. Und so klingen aus den Trümmern des untergegangenen Jerusalems Heilslieder von ungekannter Schönheit und Intensität hinüber zu denen in der Fremde. Sie füllen einen großen Teil nicht nur des Jesajabuchs.

Es sind Trostlieder, die vergangene böse Geschichte nicht zudecken. Das Volk hat mit Gott nichts zu rechten. Es hat sich selbst zu beklagen und die eigene Schuld für seinen Untergang. Stereotyp heißt es von den Königen Israels, dass sie taten, was dem Herrn missfiel. Genau wird notiert, wenn das Volk sich wieder einmal abkehrt vom Gesetz des Herrn. Das deuteronomistische Geschichtswerk ist Bericht und Kommentar zugleich. Man hat diese Geschichte auch nach 2500 Jahren nicht aus der Bibel getan. Man hätte es um den Preis ihrer Trostlieder machen müssen.

Ein Volk, das seine eigene böse Geschichte vergessen will, läuft nicht nur Gefahr, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Ein Volk, dass stolz vom Kreuz seiner Geschichte herabsteigt, läuft Gefahr trostlos zu werden. Wir Deutschen haben lächerliche 60 Jahre nach der Katastrophe unserer eigenen Geschichte mehr als einen Grund uns in die Geschichte Israels einzufinden und so bei unserer eigenen zu bleiben.

Einmal im Jahr feiern wir einen Israelsonntag und bedenken unser besonderes Verhältnis zu diesem Volk. Es ist mit unserem Glauben untrennbar verbunden. Die Reihe unserer Väter reicht in dieses Volk zurück, weil Jesus ein Jude war und sich zum Gottesvolk in besonderer Weise gesandt wusste. Seit dem 3. Reich hängt über diesem Sonntag der Schatten der Shoa, dersystematische Mord an 6 Millionen Juden durch deutsche Nationalsozialisten, durch unsere Väter und Großväter.

Dietrich Bonhoeffer schrieb 1940: „Eine Verstoßung der Juden aus dem Abendland muss die Verstoßung Christi nach sich ziehen. Denn Jesus Christus war Jude.“ (Bonhoeffer, Ethik, München 1985, S. 95) Bonhoeffer hat Recht behalten. Die Ermordung der Juden war nicht zuletzt die Verstoßung des Christus und alles Christlichen aus unserem Volk und 1945 standen wir am Ende der deutschen Geschichte. Was einmal war, lag in Schutt und Asche und war nicht mehr zu retten. Wer wollte es aller Welt verdenken, die damals forderte, dass hinter diese Geschichte ein letzter Punkt gemacht wird und die Chronisten der Deutschen ihre Feder ein für alle Mal aus der Hand legen.

Wer heute in unserem Land die Augen aufschlägt und sich in einem wiedervereinten und wohlhabenden Deutschland wieder findet, kann nicht anders, als sich wundern und ein Dankgebet sprechen. Es ist und bleibt nichts als eine Gnade, an der sich die noch Lebenden und die Nachgeborenen freuen dürfen. Als solche erkennt sie nur der, der sich erinnert, was war. Dankbar genießt und bewahrt sie nur der, der sich der finsteren Zeit bewusst wird, der er unverdientermaßen entkommen ist. Gott sei Dank ist das Christliche nach 1945 wieder eingeflossen in unser Grundgesetz und unsere Sozialgesetzgebung. Gott sei Dank hat sich in unserem Land ein Bewusstsein für Menschenrechte, Demokratie und Bewahrung der Schöpfung durchgesetzt; dazu die Einsicht, dass wir dieses Bewusstsein auch anderen nicht schuldig bleiben dürfen, ohne am Unrecht in der Welt mitschuldig zu werden.

Dazu gehört auch das heutige Volk Israel, gegen das ein Krieg geführt wird, in dem Frauen und Kinder sterben und das einen Krieg führt, in dem Frauen und Kinder sterben. Unsere Geschichte verbietet uns nicht, die Dinge beim Namen zu nennen, wohl aber verwehrt sie uns, uns auf den Richterstuhl zu setzten. Wer selbst als Begnadigter lebt, wird sich solches selbstverständlich versagen.

Von Jesus auf dem Weg nach Jerusalem wird erzählt: „Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch du zu dieser Zeit erkennen würdest, was zum Frieden dient! Aber nun ist's vor deinen Augen verborgen.“ (Lukas 19/41f.) Jesus fällt Besseres ein, als die kalte Kritik der Besserwisser und Selbstgerechten. Tränen sind die Kritik der Liebe. Und wir sehen in dieser Geschichte, wie weh es Gott selbst tut, wenn er sieht, wie tot, brach und verwüstet vom Hass die Herzen seiner Menschen sind. Es mag wohl sein, dass der Christus heute wieder dort sitzt und weint. Und mit seinen Tränen kämpft um dieses verwüstete Land der Herzen. Und das kann und darf gerade uns nicht kalt lassen.


Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter www.kanzelgruss.de)

Text: 

(8)Am siebenten Tage des fünften Monats, das ist das neunzehnte Jahr Nebukadnezars, des Königs von Babel, kam Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, als Feldhauptmann des Königs von Babel nach Jerusalem
(9)und verbrannte das Haus des HERRN und das Haus des Königs und alle Häuser in Jerusalem; alle großen Häuser verbrannte er mit Feuer.
(10)Und die ganze Heeresmacht der Chaldäer, die dem Obersten der Leibwache unterstand, riss die Mauern Jerusalems nieder.
(11)Das Volk aber, das übrig war in der Stadt, und die zum König von Babel abgefallen waren und was übrig war von den Werkleuten, führte Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, weg;
(12)aber von den Geringen im Lande ließ er Weingärtner und Ackerleute zurück. 


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