Liebe Leser,
kalt notiert der Chronist das Ende des letzten Königreichs
in Israel. 722 war das Nordreich im Ansturm der Assyrer untergegangen. Wir
schreiben das Jahr 587 vor Christus. Der letzte König des Südreichs, des
Königreichs Juda, Zedekia mit Namen, will sein eigenes Süppchen kochen.
Der König Nebukadnezar von Babylonien, Beherrscher der damaligen Welt,
lässt daraufhin diesen letzten Rest von israelitischer Eigenstaatlichkeit
durch seinen Obersten der Leibwache und die Truppen der Chaldäer wie einen
Fliegenschiss von der Landkarte tilgen. Der Tempel wird ebenso
niedergebrannt, wie das Königshaus, in dem einst der große König David
seine Lieder sang. Die Oberschicht wird ins babylonische Exil geführt. Es
ist das Ende der Geschichte für Israel, so scheint es. Der Chronist des
deuteronomistischen Geschichtswerkes (Dtn-2.Kön), wie es die Bibelforscher
nennen, macht seinen letzten Punkt und legt die Feder beiseite.
„Normalerweise“, schreibt ein Ausleger, „bedeutet der Verlust der
staatlichen Souveränität auch den Verlust der kulturellen und religiösen
Identität. Dass gerade das Exil zum Kristallisationspunkt der jüdischen
Identität werden sollte, ist mehr als eine List der Geschichte. Die
Zerstörung der Staatsreligion war Voraussetzung für die Entstehung einer
Bekenntnisreligion. Der Verlust des Tempels ließ die Tora zusammen mit den
Bekenntniszeichen Beschneidung und Sabbat zur Grundlage der religiösen
Identität werden. Im Exil kam es zu einem eigentlichen Boom der Theologie.
In den Trümmern der Geschichte entsteht ein neues jüdisches Gottes- und
Selbstbewusstsein. Das babylonische Exil wird zum Wendepunkt in der
Geschichte Israels.“ (Ralph Kunz in GPM Heft 3/2002, S. 357f.)
Das Volk Israel hat die Katastrophe von 587 als Gericht Gottes verstanden.
Als Gericht, das bis an die Wurzeln dieses Volkes und seines Glaubens
ging. Es musste alles verlieren: Seinen König, seinen Staat, seine Heimat.
Sind wir noch zu retten? mag sich mancher angesichts des drohenden Unheils
gefragt haben. Und Gott sagt Nein! Manchmal sind die alten und gewohnten
Verhältnisse nicht zu retten. Aber das ist nicht das Ende des Heilswillens
Gottes für sein Volk.
Könnte es sein, dass wir hier in der Bibel die Abkehr Gottes von der Idee
eines wie immer gearteten Gottesstaats finden? Wendet Gott sich hier ab
von einem Denken, dass Thron und Altar zusammen sieht? Ist das nicht auch
in der Geschichte der Kirche immer furchtbar ins Auge gegangen? Hat die
Kirche diese Lektion nicht auch lernen müssen? Vom Volk Israel können wir
jedenfalls sagen, dass Gott sich vom einem Königreich Israel abwendet und
sich einem viel weiteren Land zuwendet: Den Herzen derer, die ihm trotz
allem vertrauen. Und so klingen aus den Trümmern des untergegangenen
Jerusalems Heilslieder von ungekannter Schönheit und Intensität hinüber zu
denen in der Fremde. Sie füllen einen großen Teil nicht nur des
Jesajabuchs.
Es sind Trostlieder, die vergangene böse Geschichte nicht zudecken. Das
Volk hat mit Gott nichts zu rechten. Es hat sich selbst zu beklagen und
die eigene Schuld für seinen Untergang. Stereotyp heißt es von den Königen
Israels, dass sie taten, was dem Herrn missfiel. Genau wird notiert, wenn
das Volk sich wieder einmal abkehrt vom Gesetz des Herrn. Das
deuteronomistische Geschichtswerk ist Bericht und Kommentar zugleich. Man
hat diese Geschichte auch nach 2500 Jahren nicht aus der Bibel getan. Man
hätte es um den Preis ihrer Trostlieder machen müssen.
Ein Volk, das seine eigene böse Geschichte vergessen will, läuft nicht nur
Gefahr, die Fehler der Vergangenheit zu wiederholen. Ein Volk, dass stolz
vom Kreuz seiner Geschichte herabsteigt, läuft Gefahr trostlos zu werden.
Wir Deutschen haben lächerliche 60 Jahre nach der Katastrophe unserer
eigenen Geschichte mehr als einen Grund uns in die Geschichte Israels
einzufinden und so bei unserer eigenen zu bleiben.
Einmal im Jahr feiern wir einen Israelsonntag und bedenken unser
besonderes Verhältnis zu diesem Volk. Es ist mit unserem Glauben
untrennbar verbunden. Die Reihe unserer Väter reicht in dieses Volk
zurück, weil Jesus ein Jude war und sich zum Gottesvolk in besonderer
Weise gesandt wusste. Seit dem 3. Reich hängt über diesem Sonntag der
Schatten der Shoa, dersystematische Mord an 6 Millionen Juden durch
deutsche Nationalsozialisten, durch unsere Väter und Großväter.
Dietrich Bonhoeffer schrieb 1940: „Eine Verstoßung der Juden aus dem
Abendland muss die Verstoßung Christi nach sich ziehen. Denn Jesus
Christus war Jude.“ (Bonhoeffer, Ethik, München 1985, S. 95) Bonhoeffer
hat Recht behalten. Die Ermordung der Juden war nicht zuletzt die
Verstoßung des Christus und alles Christlichen aus unserem Volk und 1945
standen wir am Ende der deutschen Geschichte. Was einmal war, lag in
Schutt und Asche und war nicht mehr zu retten. Wer wollte es aller Welt
verdenken, die damals forderte, dass hinter diese Geschichte ein letzter
Punkt gemacht wird und die Chronisten der Deutschen ihre Feder ein für
alle Mal aus der Hand legen.
Wer heute in unserem Land die Augen aufschlägt und sich in einem
wiedervereinten und wohlhabenden Deutschland wieder findet, kann nicht
anders, als sich wundern und ein Dankgebet sprechen. Es ist und bleibt
nichts als eine Gnade, an der sich die noch Lebenden und die Nachgeborenen
freuen dürfen. Als solche erkennt sie nur der, der sich erinnert, was war.
Dankbar genießt und bewahrt sie nur der, der sich der finsteren Zeit
bewusst wird, der er unverdientermaßen entkommen ist. Gott sei Dank ist
das Christliche nach 1945 wieder eingeflossen in unser Grundgesetz und
unsere Sozialgesetzgebung. Gott sei Dank hat sich in unserem Land ein
Bewusstsein für Menschenrechte, Demokratie und Bewahrung der Schöpfung
durchgesetzt; dazu die Einsicht, dass wir dieses Bewusstsein auch anderen
nicht schuldig bleiben dürfen, ohne am Unrecht in der Welt mitschuldig zu
werden.
Dazu gehört auch das heutige Volk Israel, gegen das ein Krieg geführt
wird, in dem Frauen und Kinder sterben und das einen Krieg führt, in dem
Frauen und Kinder sterben. Unsere Geschichte verbietet uns nicht, die
Dinge beim Namen zu nennen, wohl aber verwehrt sie uns, uns auf den
Richterstuhl zu setzten. Wer selbst als Begnadigter lebt, wird sich solches
selbstverständlich versagen.
Von Jesus auf dem Weg nach Jerusalem wird erzählt: „Und als er nahe
hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie und sprach: Wenn doch auch
du zu dieser Zeit erkennen würdest, was zum Frieden dient! Aber nun ist's
vor deinen Augen verborgen.“ (Lukas 19/41f.) Jesus fällt Besseres ein, als
die kalte Kritik der Besserwisser und Selbstgerechten. Tränen sind die
Kritik der Liebe. Und wir sehen in dieser Geschichte, wie weh es Gott
selbst tut, wenn er sieht, wie tot, brach und verwüstet vom Hass die
Herzen seiner Menschen sind. Es mag wohl sein, dass der Christus heute
wieder dort sitzt und weint. Und mit seinen Tränen kämpft um dieses
verwüstete Land der Herzen. Und das kann und darf gerade uns nicht kalt
lassen.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
(8)Am siebenten Tage des fünften Monats,
das ist das neunzehnte Jahr Nebukadnezars, des Königs von Babel, kam
Nebusaradan, der Oberste der Leibwache, als Feldhauptmann des Königs von
Babel nach Jerusalem
(9)und verbrannte das Haus des HERRN und das Haus des Königs und alle
Häuser in Jerusalem; alle großen Häuser verbrannte er mit Feuer.
(10)Und die ganze Heeresmacht der Chaldäer, die dem Obersten der Leibwache
unterstand, riss die Mauern Jerusalems nieder.
(11)Das Volk aber, das übrig war in der Stadt, und die zum König von Babel
abgefallen waren und was übrig war von den Werkleuten, führte Nebusaradan,
der Oberste der Leibwache, weg;
(12)aber von den Geringen im Lande ließ er Weingärtner und Ackerleute
zurück. |