Predigt     2. Mose 33/17–23    2. Sonntag nach Epiphanias     16.01.11

"Der Rockzipfel Gottes"
(von Pfarrer Rudolf Koller, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

„Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Was für ein verwegener Wunsch! Wer von uns würde wagen, das auszusprechen? Wer wagte, diesen Wunsch so umwerfend direkt, beinah fordernd vorzubringen, wie Mose es hier tut? Alles orientalisch ausladende Reden, das wir von den Gesprächen des Mose mit Gott kennen, alles Verhandeln und Diskutieren schnurrt plötzlich zusammen auf diesen einen einzigen, ungeheuerlichen Satz. Als müsse es heraus. Als müsse es endlich gesagt sein. Ehrlich. Schnörkellos. Als brächte ein Mensch es hier fertig, vom Grund seiner Seele sein tiefstes Bedürfnis auszusprechen: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Ist das, liebe Gemeinde, nicht die Sehnsucht, die in allem Glauben steckt?

Ich versuche es mir vorzustellen dieses Zwiegespräch zwischen Mose und Gott, wie auf einer Theaterbühne und ich frage mich: Wie müsste der Schauspieler, der den Mose spielt, dort sprechen? Wie müsste er diesen Satz vorbringen? Laut und fordernd? Verzweifelt, schier zerbrechend an der Größe seiner Aufgabe, zerbrechend an der Größe Gottes? Oder leise? Sich der Ungeheuerlichkeit des Begehrens bewusst, flüsternd die Seele bloßlegend?

„Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Mose spricht hier stellvertretend für die Sehnsucht aller Glaubenden. Von dieser Sehnsucht zeugen auch Spuren in unserer Tradition:
Im 42. Psalm heißt es:
- „Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?“ (Ps. 42/3).
- Und der Apostel Paulus sagt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht“ (1.Kor. 13/12).
- Auch im Gesangbuch finde ich Spuren: „Lass uns deine Herrlichkeit/ferner sehn in dieser Zeit“ (EG 263/6).
- „Auf dich lass meine Sinne gehen, lass sie nach dem, was droben, stehn, bis ich dich schau, o ewigs Licht, von Angesicht zu Angesicht“ (EG 390/3).
- Paul Gerhardt mag sich nicht einmal mit dem Sehen begnügen und bittet: „Lass mich, lass mich hingelangen, da du mich und ich dich leiblich werd umfangen“ (EG 370/12). Gemeinsam werden wir diese Worte am Ende des Gottesdienstes singen.

Zum Hintergrund unseres Predigttextes: In der Krise spricht Mose sein Begehren aus. Der Bundesschluss zwischen Gott und seinem Volk steht auf Messers Schneide. Mose hat auf dem Berg Sinai von Gott die Gebote des Bundes empfangen. Währenddessen machte sich das Volk, das sich verlassen wähnte, ein goldenes Kalb als Götterbild. Bei seiner Rückkehr vom heiligen Berg stürzt Mose angesichts der Abgötterei seiner Leute in ein Wechselbad sowohl der Gefühle als auch der Rollen. Er ist hin- und hergerissen. In seinem Amt als Vermittler zwischen Gott und Volk steht er einmal flehentlich für sein Volk bittend vor Gott. Dann wieder fährt er als zorniger Strafvollstrecker zwischen die Stämme Israels. Auf dem Höhepunkt der Krise schickt Gott das Volk samt Mose weg von sich - wie ein gekränkter Vater, der mit seinen Kindern nichts mehr zu schaffen haben will. „Geh, zieh von dannen, du und das Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast“ (33/1).

Ja, sie sollen ins versprochene Land kommen. Aber ohne Gott! Einen Engel schickt er ihnen mit. Der soll ihnen den Weg bahnen. Aber Gott selbst will nicht mitziehen mit diesem halsstarrigen Volk. Das Volk ist entsetzt. Ohne Gott weiterziehen zu müssen ist die Katastrophe. Ohne diesen mitgehenden Gott wäre dieses Volk auch nicht mehr dieses Volk.

An dieser Stelle tritt Mose vor. Nach allen Regeln der Kunst versucht er, Gott zu überreden. Er möge doch einsehen, dass dies sein Volk sei! Er möge selber auf dem Weg voranziehen … oder die ganze Geschichte abblasen! Und dann wundert man sich nur noch: So ungeduldig Gott mit dem abtrünnigen Volk ist, so geduldig versichert er seinem Auserwählten: „Du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen.“  Und tatsächlich gelingt es Mose, Gott ein Zugeständnis abzuringen. Und zuletzt rückt Mose heraus mit dem, was er jetzt braucht in dieser Krise: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“

Es gibt Situationen, da kann man sich nicht mit weniger zufriedengeben. Da braucht man Gott selbst - und zwar in höchster Dosierung! Und Gott? Gott antwortet mit einer atemberaubenden Mischung aus Nähe und Distanz. Zuerst die Nähe: „Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen.“ Diese Güte ist - wörtlich aus dem Hebräischen übersetzt - seine Schönheit. Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt vollkommen korrekt: „Ich werde in meiner Schönheit dicht an dir vorübergehen.“

Ja, liebe Gemeinde, Gott ist schön! So schön, dass es unsere Sinne sprengen würde, ihr direkt ins Angesicht zu sehen. Aber der Name! Im Namen gibt Gott sich zu erkennen. Im Namen stellt er sich vor und stellt sich zur Verfügung. Im Namen verbürgt er sich und sein Name ist: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.“ Der Name garantiert Gottes Gegenwart, garantiert IHN in Beziehung zu uns. In Beziehung zu seinen Menschen ist er ihnen nah, gnädig und voll mütterlichen Erbarmens. Darauf können wir uns verlassen. Und damit können wir überleben - auch in der Krise! Gottes Name ist sozusagen der Rockzipfel seiner Herrlichkeit, den wir zu fassen kriegen.

Aber – und nun kommt die Distanz – aber „mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht“. Und doch zieht uns die Sehnsucht genau dahin! Als ahnten wir, dass es letzte Erfüllung nur um den Preis unseres Lebens gibt. Vielleicht ist es so, dass wir das am meisten fürchten, was wir am tiefsten ersehnen; und dass wir das am tiefsten ersehnen, was wir am meisten fürchten. Vielleicht wünschen wir uns etwas, was wir nicht überleben. Und das spricht sich aus in dem Begehren: „Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“

Gott setzt seine nah-distanzierte Antwort hier beispielhaft in Szene. Die Felsspalte in seiner Nähe! Die Hand Gottes davor, die den Menschen schützt. Gott schützt den Mose vor sich selbst. Er lässt ihn so viel sehen, dass er am Leben bleibt. „Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will ich meine Hand von dir tun und du darfst hinter mir hersehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.“ Hinter Gott hersehen dürfen wir. Seine Gegenwart spüren und ihm nachschauen. Und da entdecken wir Spuren seiner Schönheit: in unserer Lebensgeschichte, in den Lebensgeschichten anderer! Und wir sehen sie plötzlich aufleuchten in einem menschlichen Angesicht.

Und einmal noch geht Gott für uns an die Grenze des Erträglichen. Da zeigt er seine Schönheit im Angesicht Jesu Christi. Unter dem Kreuz stehen wir ähnlich wie in der Felsspalte mitten in Gottes nah-distanzierter Antwort.

Etwas bleibt offen. Etwas harrt noch der Erfüllung. Das wird uns in diesem Leben nicht zuteil: dass wir Gott schauen von Angesicht zu Angesicht; dass wir Gott vollkommen erkennen, ohne Fragen, ohne Rätselhaftigkeiten. Etwas bleibt offen. Eine Neugier, eine tiefe Sehnsucht, eine Erwartung über dieses Leben hinaus. Ein Sehnen nach dem, was wir fürchten, weil es uns das Leben kostet. Gebe Gott, dass, wenn es darauf ankommt, dieses Sehnen größer ist als die Furcht.

Pfarrer Rudolf Koller   (Hospitalkirche Hof)

Text:

17 Der HERR sprach zu Mose:… du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich mit Namen.
18 Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen!
19 Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen und will vor dir kundtun den Namen des HERRN: Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme, dessen erbarme ich mich.
20 Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht.
21 Und der HERR sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen.
22 Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin.
23 Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen.


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