Liebe Leser,
„Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Was für ein verwegener Wunsch!
Wer von uns würde wagen, das auszusprechen? Wer wagte, diesen Wunsch
so umwerfend direkt, beinah fordernd vorzubringen, wie Mose es hier
tut? Alles orientalisch ausladende Reden, das wir von den Gesprächen
des Mose mit Gott kennen, alles Verhandeln und Diskutieren schnurrt
plötzlich zusammen auf diesen einen einzigen, ungeheuerlichen Satz.
Als müsse es heraus. Als müsse es endlich gesagt sein. Ehrlich.
Schnörkellos. Als brächte ein Mensch es hier fertig, vom Grund
seiner Seele sein tiefstes Bedürfnis auszusprechen: „Lass mich deine
Herrlichkeit sehen!“ Ist das, liebe Gemeinde, nicht die Sehnsucht,
die in allem Glauben steckt?
Ich versuche es mir vorzustellen dieses Zwiegespräch zwischen Mose
und Gott, wie auf einer Theaterbühne und ich frage mich: Wie müsste
der Schauspieler, der den Mose spielt, dort sprechen? Wie müsste er
diesen Satz vorbringen? Laut und fordernd? Verzweifelt, schier
zerbrechend an der Größe seiner Aufgabe, zerbrechend an der Größe
Gottes? Oder leise? Sich der Ungeheuerlichkeit des Begehrens
bewusst, flüsternd die Seele bloßlegend?
„Lass mich deine Herrlichkeit sehen!“ Mose spricht hier
stellvertretend für die Sehnsucht aller Glaubenden. Von dieser
Sehnsucht zeugen auch Spuren in unserer Tradition:
Im 42. Psalm heißt es:
- „Wann werde ich dahin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?“
(Ps. 42/3).
- Und der Apostel Paulus sagt: „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel
ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht“ (1.Kor.
13/12).
- Auch im Gesangbuch finde ich Spuren: „Lass uns deine
Herrlichkeit/ferner sehn in dieser Zeit“ (EG 263/6).
- „Auf dich lass meine Sinne gehen, lass sie nach dem, was droben,
stehn, bis ich dich schau, o ewigs Licht, von Angesicht zu
Angesicht“ (EG 390/3).
- Paul Gerhardt mag sich nicht einmal mit dem Sehen begnügen und
bittet: „Lass mich, lass mich hingelangen, da du mich und ich dich
leiblich werd umfangen“ (EG 370/12). Gemeinsam werden wir diese
Worte am Ende des Gottesdienstes singen.
Zum Hintergrund unseres Predigttextes: In der Krise spricht Mose
sein Begehren aus. Der Bundesschluss zwischen Gott und seinem Volk
steht auf Messers Schneide. Mose hat auf dem Berg Sinai von Gott die
Gebote des Bundes empfangen. Währenddessen machte sich das Volk, das
sich verlassen wähnte, ein goldenes Kalb als Götterbild. Bei seiner
Rückkehr vom heiligen Berg stürzt Mose angesichts der Abgötterei
seiner Leute in ein Wechselbad sowohl der Gefühle als auch der
Rollen. Er ist hin- und hergerissen. In seinem Amt als Vermittler
zwischen Gott und Volk steht er einmal flehentlich für sein Volk
bittend vor Gott. Dann wieder fährt er als zorniger
Strafvollstrecker zwischen die Stämme Israels. Auf dem Höhepunkt der
Krise schickt Gott das Volk samt Mose weg von sich - wie ein
gekränkter Vater, der mit seinen Kindern nichts mehr zu schaffen
haben will. „Geh, zieh von dannen, du und das Volk, das du aus
Ägyptenland geführt hast“ (33/1).
Ja, sie sollen ins versprochene Land kommen. Aber ohne Gott! Einen
Engel schickt er ihnen mit. Der soll ihnen den Weg bahnen. Aber Gott
selbst will nicht mitziehen mit diesem halsstarrigen Volk. Das Volk
ist entsetzt. Ohne Gott weiterziehen zu müssen ist die Katastrophe.
Ohne diesen mitgehenden Gott wäre dieses Volk auch nicht mehr dieses
Volk.
An dieser Stelle tritt Mose vor. Nach allen Regeln der Kunst
versucht er, Gott zu überreden. Er möge doch einsehen, dass dies
sein Volk sei! Er möge selber auf dem Weg voranziehen … oder die
ganze Geschichte abblasen! Und dann wundert man sich nur noch: So
ungeduldig Gott mit dem abtrünnigen Volk ist, so geduldig versichert
er seinem Auserwählten: „Du hast Gnade vor meinen Augen gefunden,
und ich kenne dich mit Namen.“ Und tatsächlich gelingt es
Mose, Gott ein Zugeständnis abzuringen. Und zuletzt rückt Mose
heraus mit dem, was er jetzt braucht in dieser Krise: „Lass mich
deine Herrlichkeit sehen!“
Es gibt Situationen, da kann man sich nicht mit weniger
zufriedengeben. Da braucht man Gott selbst - und zwar in höchster
Dosierung! Und Gott? Gott antwortet mit einer atemberaubenden
Mischung aus Nähe und Distanz. Zuerst die Nähe: „Ich will vor deinem
Angesicht all meine Güte vorübergehen lassen.“ Diese Güte ist -
wörtlich aus dem Hebräischen übersetzt - seine Schönheit. Die Bibel
in gerechter Sprache übersetzt vollkommen korrekt: „Ich werde in
meiner Schönheit dicht an dir vorübergehen.“
Ja, liebe Gemeinde, Gott ist schön! So schön, dass es unsere Sinne
sprengen würde, ihr direkt ins Angesicht zu sehen. Aber der Name! Im
Namen gibt Gott sich zu erkennen. Im Namen stellt er sich vor und
stellt sich zur Verfügung. Im Namen verbürgt er sich und sein Name
ist: „Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich
erbarme, dessen erbarme ich mich.“ Der Name garantiert Gottes
Gegenwart, garantiert IHN in Beziehung zu uns. In Beziehung zu
seinen Menschen ist er ihnen nah, gnädig und voll mütterlichen
Erbarmens. Darauf können wir uns verlassen. Und damit können wir
überleben - auch in der Krise! Gottes Name ist sozusagen der
Rockzipfel seiner Herrlichkeit, den wir zu fassen kriegen.
Aber – und nun kommt die Distanz – aber „mein Angesicht kannst du
nicht sehen; denn kein Mensch wird leben, der mich sieht“. Und doch
zieht uns die Sehnsucht genau dahin! Als ahnten wir, dass es letzte
Erfüllung nur um den Preis unseres Lebens gibt. Vielleicht ist es
so, dass wir das am meisten fürchten, was wir am tiefsten ersehnen;
und dass wir das am tiefsten ersehnen, was wir am meisten fürchten.
Vielleicht wünschen wir uns etwas, was wir nicht überleben. Und das
spricht sich aus in dem Begehren: „Lass mich deine Herrlichkeit
sehen!“
Gott setzt seine nah-distanzierte Antwort hier beispielhaft in
Szene. Die Felsspalte in seiner Nähe! Die Hand Gottes davor, die den
Menschen schützt. Gott schützt den Mose vor sich selbst. Er lässt
ihn so viel sehen, dass er am Leben bleibt. „Siehe, es ist ein Raum
bei mir, da sollst du auf dem Fels stehen. Wenn dann meine
Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die Felskluft stellen und
meine Hand über dir halten, bis ich vorübergegangen bin. Dann will
ich meine Hand von dir tun und du darfst hinter mir hersehen; aber
mein Angesicht kann man nicht sehen.“ Hinter Gott hersehen dürfen
wir. Seine Gegenwart spüren und ihm nachschauen. Und da entdecken
wir Spuren seiner Schönheit: in unserer Lebensgeschichte, in den
Lebensgeschichten anderer! Und wir sehen sie plötzlich aufleuchten
in einem menschlichen Angesicht.
Und einmal noch geht Gott für uns an die Grenze des Erträglichen. Da
zeigt er seine Schönheit im Angesicht Jesu Christi. Unter dem Kreuz
stehen wir ähnlich wie in der Felsspalte mitten in Gottes
nah-distanzierter Antwort.
Etwas bleibt offen. Etwas harrt noch der Erfüllung. Das wird uns in
diesem Leben nicht zuteil: dass wir Gott schauen von Angesicht zu
Angesicht; dass wir Gott vollkommen erkennen, ohne Fragen, ohne
Rätselhaftigkeiten. Etwas bleibt offen. Eine Neugier, eine tiefe
Sehnsucht, eine Erwartung über dieses Leben hinaus. Ein Sehnen nach
dem, was wir fürchten, weil es uns das Leben kostet. Gebe Gott,
dass, wenn es darauf ankommt, dieses Sehnen größer ist als die
Furcht.
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche
Hof) |
Text: 17 Der HERR sprach zu
Mose:… du hast Gnade vor meinen Augen gefunden, und ich kenne dich
mit Namen.
18 Und Mose sprach: Lass mich deine Herrlichkeit sehen!
19 Und er sprach: Ich will vor deinem Angesicht all meine Güte
vorübergehen lassen und will vor dir kundtun den Namen des HERRN:
Wem ich gnädig bin, dem bin ich gnädig, und wessen ich mich erbarme,
dessen erbarme ich mich.
20 Und er sprach weiter: Mein Angesicht kannst du nicht sehen; denn
kein Mensch wird leben, der mich sieht.
21 Und der HERR sprach weiter: Siehe, es ist ein Raum bei mir, da
sollst du auf dem Fels stehen.
22 Wenn dann meine Herrlichkeit vorübergeht, will ich dich in die
Felskluft stellen und meine Hand über dir halten, bis ich
vorübergegangen bin.
23 Dann will ich meine Hand von dir tun, und du darfst hinter mir
her sehen; aber mein Angesicht kann man nicht sehen. |