Liebe Leser,
der Schriftsteller Botho Strauß erzählt vom Sterben
seiner Tante Cläre:
„Ja, die Person sinkt. Tief und langsam wie ihr Atem. Sie sinkt, und ein
Wort, das man zu ihr spricht, kann sie anhalten, sie wieder ein wenig
emportauchen lassen, indem sie erwidert. Ein gutes Wort kann sie nicht
zurückholen, kann ihr jedoch, die vom Wasser des Tods vollgesogen ist
wie ein Stück morsches Treibholz, einen leichten Auftrieb verschaffen.
Als sie vom „Gebilde“ erfuhr, hatte sie ihm nichts mehr
entgegenzusetzen. Das Wissen, dass der Kopf vor sich hin wuchert, dass
es nur noch schlimmer kommen kann, dies Wissen will sich nicht mehr. Ich
fuhr nach Ems, um Cläre ein letztes Mal zu sehen. Sie, die mich über die
Grenze brachte 1950 von Naumburg nach West-Berlin. Jetzt bin ich
zurückgekehrt in diese fremde Heimat, die sich über den ganzen Osten
erstreckt, und sie muss nun allein über die strengste Grenze, die
unaufhebbare.
Ich stand an ihrem Bett, sie lag auf ihrer rechten Seite, ich
streichelte ihre Hand, ihr Daumen streichelte in unregelmäßigen
Abständen wieder. Ich war nicht sicher, ob es nur Reizerwiderung oder
doch ein Zeichen des Herzens war, das sich so schleppend hob wie bei
jeder verendenden Kreatur, nicht anders als bei einer vergifteten Maus.
Das Letzte, was unter der beinahe vollständig erloschenen Wahrnehmung
sich regte, war die Antwort auf Zärtlichkeit, für die ein Sterbender
noch empfänglich ist, wenn kein Wort, nicht mal ein Sonnenstrahl mehr zu
ihm dringt.
Später richteten die Pfleger sie auf, wuschen sie und machten sie für
das Abendbrot bereit. Sie legten sie wieder auf den Rücken, der schon
sehr wund war. Da erkannte sie mich ein zweites Mal, nein, sie sah mich
erneut zum ersten Mal an diesem Tag. Das linke Auge, aufgequollen,
schielte zur Nase. Der Mund ohne Gebiss war breit und schmal. Wenn sie
einmal versuchte, ein Wort von sich zu geben, bebten die Lippen. Ihr
Gesicht war vollkommen ausdruckslos. Mit dem linken Auge versuchte sie
zu sehen. Dass draußen die Zweige der Sträucher leise im Wind
schwankten, schien sie zu beunruhigen. „Der Wind!“ sagte sie mehrmals.
Und: „Es stürmt ... Wie es stürmt!“ Sie sah das Säuseln des Winds als
ein mächtiges Brausen. Vielleicht sah sie aber nur das symbolische
Geschehen. Die fürsorgliche Ansprache meiner Mutter, ihre
geschwisterliche Zuwendung haben mich gerührt. Die alte Mutter war auf
einmal die so viel Jüngere, die reden konnte, sich sorgen, ein Gesicht
zeigen. Das der Tante erschien hart - die Stimme klang barsch,
einsilbig. „Freust du dich denn, dass der Junge gekommen ist?“ fragte
die Mutter. „Und wie“, antwortete sie, ohne eine Regung auf ihr Gesicht
zu lassen. Aber es war wohl nicht der Tumor, der eine faziale Lähmung
oder dergleichen bewirkt hätte. Es war schon das angehaltene, das
End-Gesicht, das keine Bewegung der Seele mehr wiedergab. Es war keine
Unterhaltung mehr möglich. Den Lippen entschlüpfte hie und da ohne
Anlass eine Silbe der Artigkeit ... „Ja. Danke“ Und zuletzt die Frage
aller Tage: „Was gibt es denn zu essen?“
Sie war nicht mehr bei Bewusstsein. Aber was mochte sich alles noch
rühren unter der starren Haut, mit der der Tod ihr Gesicht schon
überzogen hatte? Ich dachte, welch höllische Einsamkeit muss sie zuletzt
vor der Grenze ertragen: keinen menschlichen Ausdruck mehr zu besitzen,
doch alles noch zu hören, zu empfinden - und womöglich zu einer großen
Antwort bereit, die sie nicht mehr nach außen bringen kann ...
Als ich Tage später auf den Bahnhöfen die schnell bewegten
Fleischklumpen sah, da dachte ich wieder an die knochige Schulter der
Sterbenden, die unter dem Nachthemd hervorstach. Das ist eine Materie,
das ist ein Fleisch, die satten Wülste, die über den Gürtel hängen und
dieser spitze Schulterknochen. Der muntere Mensch „bei Bewusstsein“
schien mir indessen weit ärger entstellt als der von Tod und Tumor
gezeichnete.“ (Botho Strauß, Die Fehler des Kopisten, Hanser, 1997, S.
146 f.)
Beeindruckend, wie hier einer am Totenbett sein ganzes Herz
zusammennimmt und hinschaut. Ja, eine Wahrheit über sich selbst entdeckt
in der sterbenden Tante Cläre, in der sich wahre Menschlichkeit bis zur
Kenntlichkeit entstellt. Am Ende gehen wir Gott-weiß-wohin.
Gott-weiß-wohin, das ist eine Redensart, die allergrößte Ratlosigkeit
zum Ausdruck bringt. Und das ist wohl auch das Gefühl, das wir am Bett
von Tante Cläre empfinden und das aus den Worten des Dichters spricht.
Es setzt sich fort, wenn wir hinter einer Urne ans Grab gehen und über
diese Handvoll Staub nachdenken, die gerade noch ein Mensch war, dessen
Stimme uns noch im Ohr klingt. Wir wissen noch, wie er gelacht hat und
wir wissen, dass wir selbst einmal diese handvoll Staub sein werden, die
von einer handvoll schwarz gekleideter Menschen an ihren Platz gebracht
wird.
Unser heutiger Predigttext spricht zu Menschen, die solche Gedanken
kennen. Und deshalb sind das nur scheinbar triumphale Töne. Wer am Bett
von Tante Cläre gestanden war, weiß, dass unser letzter Weg kein
Triumphzug ist. Aber er führt uns nicht Gott-weiß-wohin, sondern er
führt uns Gott weiß wohin. Der Glaube stellt die Redensart wieder auf
die Füße: Gott weiß wohin. Der letzte Weg führt nach Hause, denn „Gott
hat Geduld mit euch und will nicht, dass jemand verloren gehe, sondern
dass jedermann zur Buße finde.“ Und wir sehen den verlorenen Sohn vor
uns, wie er mehr tot als lebendig vor seinem Vater in den Staub fällt.
Aber der lässt ihn dort nicht liegen.
Ob wir dann in der letzten Stunde zu einer großen Antwort bereit werden,
die der letzten Einsamkeit des Sterbens dann doch nicht mehr entkommt,
wie der Schriftsteller bei Tante Cläre vermutet, wissen wir nicht. Aber
wir kennen unser eigenes Verstummen am Grab eines geliebten Menschen und
fühlen im eigenen Herzen, wie der Tod stumm macht. Darum kann man am
Grab dummes Geschwätz und billigen Trost am wenigsten ertragen. Denn
hier gilt, was Robert Schneider in seinem Buch „Schlafes Bruder“, seinem
Helden hinterherruft, dem es nicht vergönnt war, auf dieser Welt ein
Leben im Gleichmaß von Glück und Unglück zu leben: „Was kommt, ist von
Unerheblichkeit. Es ist das Zu-Ende-Erzählen einer nunmehr unbedeutenden
Welt.“ Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat‘s genommen? Wer kann den
Freund des Helden nicht verstehen, der „bei den Worten ‚Der Name des
Herrn sei gelobt‘ wieder anfing zu flennen. Aber nicht aus Trauer,
sondern aus Wut.“ (Robert Schneider, Schlafes Bruder, Leipzig, 1992, S.
197f.)
Wie tröstlich, dass der 2. Petrusbrief von einer großen Antwort Gottes
am Ende der Zeit weiß, die sich vom Tod nicht den Mund verbieten lässt.
Mächtig schallt sein Wort in unser Verstummen. Wie ein Reisighaufen muss
diese Welt des Todes mitsamt dem Tod im Feuer zerprasseln. „Wir warten
aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner Verheißung,
in denen Gerechtigkeit wohnt.“
Ich habe Euch heute diese Geschichte vom Sterben der Tante Cläre
zugemutet. Als Zumutung empfinden wir den Verlust von Menschen, die wir
geliebt haben. Als Zumutung empfinden wir den Gedanken an den eigenen
Tod. Aber wir können solche Gedanken nicht wegtun, ohne die Gefahr,
etwas von unserer Menschlichkeit zu verlieren. Scharfsichtig sieht der
Schriftsteller die Entstellung von Menschen, die wohlgenährt, rastlos
und besinnungslos und gierig ihren Geschäften nachgehen, als lebten sie
ewig und den Tod verbannen in die verschlossenen Sterbezimmer der
Krankenhäuser und Heime. Dagegen erblickt er in der scheinbar
entstellten Tante, die wahre menschliche Gestalt.
Gott sieht das nicht anders. Das viel bemühte christliche Menschenbild
hat das Gesicht des Christus und um den Kopf eine Dornenkrone. So mutet
sich Gott die Wahrheit über uns zu. Aber als der Christus am Kreuz mit
einem Schrei verstummt, hat Gott schon das Wort im Mund, um ihn aus dem
Grab zu rufen. Gott weiß wohin! Es kann dann gut sein, dass uns aus dem
Gesicht von Tante Cläre nicht nur wahre Menschlichkeit, sondern der
Christus selbst ansieht. So kann man die Ratlosigkeit an ihrem Bett
aushalten und den Anblick von Menschen, die für immer gehen. Gott weiß
wohin: Nach Hause; ins Leben.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Paulus schreibt:
8 Eins aber sei euch nicht verborgen, ihr Lieben, dass ein Tag vor dem
Herrn wie tausend Jahre ist und tausend Jahre wie ein Tag.
9 Der Herr verzögert nicht die Verheißung, wie es einige für eine
Verzögerung halten; sondern er hat Geduld mit euch und will nicht, dass
jemand verloren werde, sondern dass jedermann zur Buße finde.
10 Es wird aber des Herrn Tag kommen wie ein Dieb; dann werden die
Himmel zergehen mit großem Krachen; die Elemente aber werden vor Hitze
schmelzen, und die Erde und die Werke, die darauf sind, werden ihr
Urteil finden.
11 Wenn nun das alles so zergehen wird, wie müsst ihr dann dastehen in
heiligem Wandel und frommem Wesen,
12 die ihr das Kommen des Tages Gottes erwartet und erstrebt, an dem die
Himmel vom Feuer zergehen und die Elemente vor Hitze zerschmelzen
werden.
13 Wir warten aber auf einen neuen Himmel und eine neue Erde nach seiner
Verheißung, in denen Gerechtigkeit wohnt.
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