Liebe Leser, „In
der Welt der Bibel gehört Geografisches mit Geistigem ebenso eng
zusammen wie Politisches mit Theologischem. In der Richtung vom
Berge Hor zum Schilfmeer befindet sich das wandernde Gottesvolk im
Rückwärtsgang. Vom Schilfmeer war es ja gekommen, und dahin geht nun
der Weg zurück. Das ist aber gleichbedeutend mit einem erheblichen,
die Wüstenzeit ärgerlich verlängernden Umweg um das dem Gottesvolk
feindliche Edom herum, das Israel den Durchzug vorwärts verweigert
hatte. Das Ziel des verheißenen Landes geriet dadurch immer mehr in
die Ferne - und das ist in unserer Erzählung keineswegs der Wille
des murrenden Volkes, das zurück zu den Fleischtöpfen Ägyptens
möchte. Hier ist es Führung Gottes, und was vom Volk erzählt wird,
ist unwillige Reaktion darauf: Sie werden ungeduldig mit Gott. Und
zwar sehr radikal, wurzelhaft; aus dem Hebräischen hören wir, dass
die ‚Seele des Volkes‘ darüber ‚kleinmütig‘ wurde, ihr kam der
‚Geist‘ abhanden; Martin Buber prägt dafür den sprechenden Ausdruck
‚Geisteskürze‘. Will sagen: Sie werden zwar nicht von allen guten
Geistern verlassen, aber ihnen geht - ins sprichwörtlich Deutsche
herübergedacht – ‚die Luft aus‘.“ (Friedrich-Wilhelm Marquardt, GPM
1/2000, Heft 2, S. 184)
In solchen Situationen sind Gefühle alles und die Wirklichkeit
nichts. Es kommt dem Gottesvolk so vor, als müsste es in dieser
Wüste sterben, was natürlich nicht passieren müsste. Es ist –
gefühlt - kein Brot noch Wasser hier, was natürlich auch nicht
stimmt. Das Volk findet jeden Morgen Manna, das Engelsbrot vom
Himmel, und jeder kann sich sattessen und nehmen, was er braucht.
Die Lehrer des Talmud haben viel darüber nachgedacht, wie es dazu
kommen konnte, dass sich das Gottesvolk vor dieser Speise irgendwann
ekelte: Sie war ihnen zu leicht, nichts Anständiges, an dem man zu
kauen und verdauen hatte. „Sie lebten nicht mehr aus dem Kreislauf
ihrer Natur, waren gleichsam ‚physisch-existentiell‘ nicht mehr
selbst beteiligt an ihrem Überleben mit und aus Gott, fühlten sich
insofern als Menschen ‚nicht mehr ernst genommen‘ (wie wir zu murren
pflegen), und schon vor der Zeit ‚wie die Engel.‘“ (Marquardt,
a.a.O., S. 185) Zuviel des Guten, und der Seele des Volkes kommt der
Geist abhanden.
Es ist offenbar gar nicht so einfach, sich an Gottes Gnade genügen
zu lassen. Genau dazu fordert aber auch Christus den Apostel Paulus
in dem berühmten Vers aus dem 2. Korintherbrief (12,9) auf. Und es
muss ja nicht unbedingt ein Zufall sein, dass die Kommission, die
diesen Vers zur Jahreslosung 2012 erkoren hat, dann doch lieber nur
den zweiten Teil des Verses genommen hat, wo es heißt: „Meine Kraft
ist in den Schwachen mächtig.“ Das kann in einer evangelischen
Kirche, die ihr Ende kommen sieht - den Rückgang der
Mitgliederzahlen, den Rückgang der Kirchensteuereinnahmen, den
Abgrund der Bedeutungslosigkeit – ja auch so verstanden werden, dass
jeder, der noch ein bisschen krabbeln kann, gefälligst losrennen und
etwas tun soll, um die Kirche zu retten. Deshalb orientiert sich
diese „Kirche im Aufbruch“ längst nicht mehr allein an Gott und
seinem Wort, sondern macht Millionen Euro und Personal locker für
die sogenannte „Mitgliederorientierung“. Eine umfangreiche
Reformbürokratie ist hierzu in den letzten Jahren im Bereich der
Evangelischen Kirche Deutschlands entstanden. Der Theologe
Friedrich-Wilhelm Marquardt bemerkte zum Thema im März 2002, wenige
Wochen vor seinem Tod, in der Süddeutschen Zeitung: „Die Jagd der
Evangelischen Kirchen dem ‚modernen Menschen‘ hinterher war bisher
immer, ob 1933 oder 2002, ihre bornierteste Selbsttäuschung.“ Wer
sich zum Erfolg verdammt, muss blind und taub für die Güte und die
Führung Gottes werden.
Reden wir deshalb angesichts dieser Mosegeschichte (die Ihr über mir
im Kanzeldeckel der Hospitalkirche groß vor Augen habt) von den
Sünden des Gottesvolkes und von unseren eigenen: „Es ist die fromme
Sünde, die sich ärgert an (diesem) ‚Gott allein‘ und die es
unmoralisch findet, selbst nichts zu bewegen und sich stattdessen
von Gott bewegen zu lassen. Unsere grässliche Selbstquälerei mit der
Frage: ‚Was müssen wir tun?‘ - unsere Ungeduld, wenn in der Predigt
und Lehre angeblich alles ‚nicht praktisch genug‘ ist - unser
penetrantes Einfordern von Vermittlungen des Himmels mit der Erde -
unsere Zwangsvorstellungen vom ‚Abholenmüssen‘ der Leute dort, ‚wo
sie sind‘ - als wüsste irgendjemand, wo die Leute sind, und als
wüsste es auch nur einer von ihnen selbst. Das alles verbirgt sich
im Beklagen des ausbleibenden ‚Stoffwechsels‘, wenn Gott sein Volk
mit Manna (und immerhin: auch Wachteln!) durch die Wüste führt.“
(Marquardt a.a.O., S. 187)
Dann kommen die Schlangen. Gott sandte sie, übersetzt Martin Luther.
Besser übersetzt wäre: Er ließ sie los. Natürlich ist die Wüste ein
idealer Lebensraum für Schlangen. Und während das Volk bisher im
Vertrauen und mit Blick nach oben auf Gottes Führung den Schlangen
mit traumwandlerischer Sicherheit aus dem Weg ging, tritt es nun
ohne dieses Vertrauen mit Blick nach unten in jedes Schlangenloch
hinein. Dass die, die ein Leben im Vertrauen auf die Führung Gottes
„allein“ für zu viel des Guten halten, dann genau das Schicksal
ereilt, das sie befürchten, nämlich in dieser Wüste zu sterben, hat
die Tragik einer Prophezeiung, die sich selbst erfüllt.
Und das muss auch für eine Kirche gelten, die vor lauter Sorge um
sich selbst auf einmal auf Qualitätsmanagement setzt und auf
Agendasetting; die es für eine gute Idee hält, die Arbeitszeit ihrer
Lehrer und Apostel mit der Stoppuhr zu messen und einzuteilen; in
der Wertschätzung für die Mitarbeitenden unverhüllt als Instrument
der Personalführung daherkommt und das auch noch im Gottesdienst!
Misstrauen macht sich breit, ob sich denn auch alle genügend
anstrengen, um die Zukunft der Kirche zu sichern. In manchem
Kirchenvorstand – so habe ich mir erzählen lassen - geht es zu wie
im Aufsichtsrat eines Großkonzerns. Ein Eldorado für Kontrollfreaks,
Aufpasser, Wichtigtuer und Giftspritzen. Und dann wundern wir uns,
wenn in der Kirche immer mehr Mitarbeitende in tiefer Depression
versinken, weil sie an den Ansprüchen, die sie an sich selbst
stellen und an den Ansprüchen, die andere an sie stellen, irgendwann
zerbrechen. So kann eine Kirche, die ihren eigenen Untergang
beschwört, selbst dafür sorgen, dass diese Prophezeiung in Erfüllung
geht. Wer, bitte schön, sollte eine Kirche, in der eine solche
„Geisteskürze“ regiert, denn noch gut finden?
Sie lebt davon, dass Gott die Geduld nicht verliert. Wir leben von
Menschen, wie Mose, die die Geduld nicht verlieren, Gott um Geduld
mit seinen Kindern zu bitten. Psychologen sagen, das eigene Elend
kann erst dann besiegt werden, wenn man den Mut findet, es sich ganz
genau anzuschauen. Mose steckt die Schlange, die seinen Leuten den
Tod bringt, auf einen Stab. Wer sie ansieht, wird leben.
Nebenbei bemerkt heißen die Schlangen im Hebräischen Text Seraphim.
In der Paradiesgeschichte stehen sie am Anfang des Unheils. Dem
Gottesvolk bringen sie in der Wüste den Tod. In der himmlischen
Herrlichkeit stehen um den Thron Gottes neben den Cherubim des
himmlischen Orchesters die Seraphim mit gezogenen Giftzähnen und
beißen keinen mehr. Da haben wir den Blick schon wieder in die
richtige Richtung gewandt, wie das Gottesvolk, das die Blickrichtung
ändern muss, um am Leben zu bleiben. Das ist Sündenbekenntnis und
Umkehr zugleich. Der Blick geht nun nicht mehr nach unten auf die
Gefahr, auf die eigene Angst und zur eigenen Nabelschau, sondern
hinauf zum Heilszeichen, das Gott ihnen setzt. Und da kehrt das
Leben zurück.
Es ist deshalb alles andere als ein Zufall, dass die Schöpfer des
Kanzeldeckels in der Hospitalkirche vorne rechts den Mose
dargestellt haben, der auf die erhöhte Schlange zeigt. Und ihm zur
Seite steht rechts Johannes der Täufer, der auf den gekreuzigten
Christus zeigt. Auch der Kirche Jesu Christi bleibt der
Rückwärtsgang nicht erspart. Aber gerade dann hat sie sich mit dem
Gottesvolk daran zu erinnern, wo ihr Heil und ihr Leben liegt: Nicht
in der eigenen Nabelschau, sondern im Aufblick zum Zeichen, das Gott
ihr setzt. Es ist der Christus, von dem die Apostel bekennen: „In
keinem andern ist das Heil, auch ist kein andrer Name unter dem
Himmel den Menschen gegeben, durch den wir sollen selig werden.“
(Apostelgeschichte 4,12) Wer auf den Christus schaut, hat nie zu
viel des Guten.
(Und als Predigtlied unbedingt singen: EG 113!)
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
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Die Predigt zum Hören
Text:
4 Da brachen sie auf von dem Berge Hor in
Richtung auf das Schilfmeer, um das Land der Edomiter zu umgehen.
Und das Volk wurde verdrossen auf dem Wege
5 und redete wider Gott und wider Mose: Warum habt ihr uns aus
Ägypten geführt, dass wir sterben in der Wüste? Denn es ist kein
Brot noch Wasser hier, und uns ekelt vor dieser mageren Speise.
6 Da sandte der HERR feurige Schlangen unter das Volk; die bissen
das Volk, dass viele aus Israel starben.
7 Da kamen sie zu Mose und sprachen: Wir haben gesündigt, dass wir
wider den HERRN und wider dich geredet haben. Bitte den HERRN, dass
er die Schlangen von uns nehme. Und Mose bat für das Volk.
8 Da sprach der HERR zu Mose: Mache dir eine eherne Schlange und
richte sie an einer Stange hoch auf. Wer gebissen ist und sieht sie
an, der soll leben.
9 Da machte Mose eine eherne Schlange und richtete sie hoch auf. Und
wenn jemanden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange an
und blieb leben.
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