Predigt 5. Mose 6/4-9 1. Sonntag nach Trinitatis 22.06.2014 "Das
Wunder der Treue Gottes" |
Liebe Leser, Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Das ist der Satz, den uns die Ordnung der Predigttexte am heutigen 1. Sonntag nach Trinitatis mit auf den Weg gibt. Und was könnte besser auf diesen besonderen Tag des Kirchenjubiläums passen als ein Satz über das Hören auf Gott! Wir feiern heute 800 Jahre St. Lorenzkirche und 750 Jahre Hospitalkirche und genau an diesem Tag sind wir hineingenommen in diesen so ganz besonderen und so kraftvollen Satz: Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein. Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und genau das wollen wir heute tun: wir wollen danken, wir wollen feiern, wir wollen innehalten und wir wollen in alldem auf Gott hören, der die beiden heutigen Jubiläumsgemeinden, der die Michaelisgemeinde und die Gemeinde von St. Marien hier in Hof und unsere vielen anderen Gemeinden mit ihnen durch die Zeiten bis heute geführt und treu begleitet hat. Ich wüsste keinen anderen Satz, der so sehr auf den heutigen Tag passt wie dieser Vers aus dem 5. Buch Mose. Für die Juden ist er der wichtigste Satz der ganzen Bibel. Man nennt ihn das „Sch‘ma Israel“ – das ist die hebräische Urform für „Höre Israel“. „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein“ – das ist das Grundbekenntnis Israels. Sobald kleine Kinder sprechen und sich etwas merken können, lernen sie dieses Bekenntnis auswendig. Jeder orthodoxe Jude trägt es am Körper. Wenn wir heute orthodoxe Juden sehen mit einer Lederkapsel auf der Stirn und am Arm, wenn wir an den Eingängen ihrer Häuser Kapseln sehen, dann steckt darin ein Zettel mit dem Sch’ma Israel. Alles ein Versuch, die Worte aus dem 5. Buch Mose genau zu befolgen: „diese Worte, die ich dir heute gebiete, sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.“ Wenn ein Jude im Sterben liegt, soll er, wenn irgend möglich, das Sch’ma Israel sprechen oder andere sollen es stellvertretend für ihn sagen. Es ist ein Satz, der die innige Beziehung zu Gott zum Ausdruck bringt, die stärker ist als alles Leid, stärker als alles Unheil, stärker als alle Anfechtung. „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein“ – das war der Satz, mit dem auf den Lippen unzählige Juden in die Gaskammern gegangen sind. Und es ist der Satz, mit dem das jüdische Volk nach der Katastrophe des Holocaust überhaupt erst wieder Lebensmut gewinnen und in die Zukunft schauen konnte. Ja, dieser Satz ist getränkt mit Lebenserfahrung – mit viel bitterer Lebenserfahrung – aber auch mit unzerstörbarem Lebenswillen und viel hoffnungsvollem Neuaufbruch. „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein“ – dieser Satz stammt nach dem Zeugnis der Bibel aus dem Munde des Mose. Und man muss sich nur kurz die Situation klarmachen, in der er gesprochen ist, um zu verstehen, warum er so wichtig ist. Er ist Teil der großen Abschiedsrede, die Mose in der Wüste kurz vor der Ankunft im verheißenen Land hält. Es ist die letzte große Rede, die Mose vor seinem Volk hält, bevor er stirbt – diese Verse sind so etwas wie ein Vermächtnis. Direkt vorher in dieser großen Rede schärft Mose seinem Volk noch einmal die 10 Gebote ein. „Ich bin der Herr dein Gott, der dich aus Ägypten geführt hat, aus der Knechtschaft, du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“ So heißt es im ersten Gebot. Und dann folgen noch einmal all die Wegweisungen, die Gott seinem Volk gegeben hat, damit es gut leben kann. Und wenig später sagt er: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein“! Es ist ein Wunder, dass das Volk Israel diese 40-jährige Wanderung durch die Wüste überhaupt überlebt hat. Schon beim Auszug aus Ägypten sind sie auf der Flucht vor dem Pharao beinahe im Meer ertrunken. Und Gott hat das Meer geteilt und sie gerettet. Sie sind in der Wüste fast verdurstet – und Gott hat aus bitterem Wasser süßes gemacht, so dass sie trinken konnten. Sie sind auf dem Weg fast verhungert – und Gott hat Manna regnen lassen und Wachteln geschickt, so dass sie satt wurden. Und trotz all dieser Fürsorge haben sie am Ende nicht Gott, sondern ein goldenes Kalb angebetet. Doch Gott hat sie nicht fallen lassen, sondern hat zu ihnen gehalten, hat ihnen einen neuen Anfang geschenkt und sie weiter durch die Wüste geführt, bis zum gelobten Land. Ja, wir kennen das ganz genau. Diesen Hunger, wenn uns die Kraft ausgeht. Und diesen Durst nach Leben, wenn unsere Lebensgeister schwinden. Und viele von uns haben – das wage ich zu vermuten – haben es selbst erfahren, wie Gott uns aufhilft und der Hunger überwunden ist. Wie Gott uns unsere Lebensgeister zurückgibt und wie der Durst gestillt wird. Und wir wissen auch von der Anbetung des Goldenen Kalbes. Dass wir Gott einfach vergessen oder ihn vielleicht noch im Munde führen, aber in Wirklichkeit das Geld anbeten oder den Erfolg oder die Schönheit oder die Macht. Und doch dürfen wir heute wie die Israeliten in der Wüste damals erfahren, wie Gott zu uns hält, wie Gott es von Neuem mit uns versucht, dass wir wie vorhin an der Lorenzkirche unsere Sünden bekennen und dann Vergebung zugesprochen bekommen und sie in der Seele erfahren dürfen. Das alles haben die Menschen vor uns in den 750, in den 800 Jahren hier erfahren dürfen und das dürfen wir auch heute erfahren. Wenn man sich nur einen Moment lang vorstellt, was in dieser Zeit alles passiert ist, dann erscheint es wie ein Wunder, dass wir heute hier stehen. Hungersnöte und Pestepidemien haben unzählige Menschenleben gekostet. Der Streit der Glaubensrichtungen und Konfessionen nach der Reformation hat die Menschen entzweit. Fürchterliche Kriege haben die Dörfer und Städte verwüstet. Menschenfeindliche Ideologien haben die Herzen verschlossen und den Geist verhärtet, haben Hass geschürt und unfassbare Gewalt hervorgebracht und mit alledem schlimmes Leid angerichtet. Und jetzt stehen wir hier und loben Gott dafür, dass er uns trotz alledem bis hierher gebracht hat durch seine große Güte. Und mancher von uns empfindet es vielleicht auch persönlich als ein Wunder, dass er hier heute steht. Weil er in seinem eigenen Leben so viel Leid erlebt hat. Weil er einen lieben Menschen verloren hat und nicht mehr gewusst hat, wie es weitergehen soll. Weil er seine Arbeit verloren hat und die Selbstachtung mit dazu. Weil ihn eine Krankheit getroffen hat und sie kaum auszuhalten war. Weil die Kindheit geprägt war von Gewalt und Missbrauch und das Leben wie eine Sackgasse schien. Weil aus einer großen Liebe ein Albtraum geworden ist und am Ende die Trennung stand und der Lebensplan zerbrochen ist. Und nun sind wir alle zusammen hier, die Glücklichen und die Traurigen, Gesunden und die Kranken, die Armen und die Reichen, die Gestrauchelten und die, bei denen alles gut läuft, die, die die selbst schon die Erfahrung der Rettung machen durften und die, die auf Rettung hoffen – wir alle sind heute zusammen und lassen uns das sagen: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein“. Lass deine Angst und deinen Zweifel fahren! Vertraue auf den, der dich und alle, die vor dir waren, bis zu diesem Tage geführt hat. Er ist dein Hirte, dir wird nichts mangeln. Er wandert mit dir im finstern Tal und er führt dich immer wieder von neuem zum frischen Wasser. Höre das, der HERR ist unser Gott, der HERR allein! Es ist wie mit dem Höhlenforscher, der in dieser Woche gerettet wurde. Viele Menschen haben um ihn gebangt. Und selbst diejenigen, die Unmut über die Risiken der Höhlenforschung, den Medienrummel und die Kosten der Bergung geäußert haben, konnten sich am Ende ja nur von Herzen darüber freuen, dass die Bergung erfolgreich war. Wer immer wieder die Grafik mit dem Verlauf der Höhle und den tief in der Erde liegenden Ort des Unfalls gesehen hat, konnte sich kaum vorstellen, wie durch engste Durchgänge und tiefste Schächte eine Bergung überhaupt möglich sein würde. Und doch ist der Moment gekommen, an dem der Verletzte wieder das Tageslicht erreichte. Und die Helfer brachen in Beifall aus und umarmten sich. Liebe Jubiläums-Gemeinde hier in Hof, wir dürfen das als Gleichnis für unser eigenes Leben und für unseren Weg als Kirche nehmen. Die Wege sind manchmal so eng, dass ein Durchkommen schlicht unmöglich erscheint. Wir fallen manchmal so tief, dass es keinen Weg nach oben mehr zu geben scheint. Wir erfahren manchmal solch tiefe Verletzungen, dass die Hoffnung auf Heilung verschwindet. Und doch gibt es die Wunder. Dass wir durch die Engstellen durchgeführt werden, dass wir manchmal mit großem Kraftaufwand richtiggehend hochgezogen werden oder dass wir in unserer Verletzlichkeit und Zerbrechlichkeit so sanft begleitet werden, dass wir wohl behalten am Ziel ankommen. Dass das Wunder vom Untersberg auch in unserem Leben geschieht. Wir dürfen am heutigen Tag voller Dankbarkeit sagen: Gott der Herr hat die Lorenzgemeinde und die Hospitalgemeinde und mit ihnen alle anderen bis hierher geführt, durch die Engstellen und durch die tiefen Schächte der 800- und 750-jährigen Geschichte. Und wir dürfen heute genauso hoffnungsvoll in die Zukunft schauen wie das Volk Israel an der Schwelle zum gelobten Land. Die Situation in den Gemeinden hier hat sich in vielem geändert. Die Christen sind weniger geworden. Menschen mit anderen kulturellen und religiösen Hintergründen sind hierhergekommen. Manche haben es schwer, weil sie keine Arbeit oder wenig Geld haben. Aber die Gemeinden haben sich darauf eingestellt. Sie haben zahlreiche Angebote entwickelt, die den Geist des Evangeliums in die Welt hinein ausstrahlen. Sie sind zur „Kirche für andere“, zur „Kirche mit anderen“ geworden. Ob Kindergarten oder Seniorentreff, ob Offene Kirche mit Cafe-Angebot, ob das f.i.t.-Programm mit dem Ziel der Integration von Migranten und finanziell benachteiligten Menschen oder auch die Beherbergung von Suchthilfegruppen im Gemeindehaus, ob das Vorstadtcafé „Für und mit“, der integrative Kindergarten am Schellenberg oder die evangelische Volksschule: das sind alles kraftvolle Antworten auf diesen so zentralen Satz aus dem 5. Buch Mose: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein“! Wenn Sie hier in Hof nun bald den nach der Sanierung neugestalteten Lorenzpark wiedereröffnen, als „Stadtoase St. Lorenz“, und damit die Frucht der Kooperation der Kirchen, vieler Einzelner, der Stadt Hof, vieler ihrer Bürger, verschiedener Organisationen und Sponsoren ernten dürfen, dann ist das an einer kleinen Stelle vielleicht so etwas wie bei den Israeliten der Gang über den Jordan hinein ins Gelobte Land. Nur an einer Stelle. Aber doch so, dass, wenn Menschen unterschiedlicher Kulturen und Milieus in diesem Park zusammenkommen und sich begegnen, ein bisschen etwas aufscheint von dem, was uns verheißen ist: dass Trennungen überwunden werden und wir Gemeinschaft erfahren, dass Hass seine Macht verliert und Frieden wachsen kann, dass Einsamkeit aufhört und Beziehungen wachsen. So haben wir – wenn wir auf diese Gemeinden und ihre Arbeit schauen - heute allen Grund Gott zu loben und ihm zu danken, so wie wir es nun gleich im Lied tun wollen: „Gelobet sei der Herr, mein Gott mein Licht mein Leben, mein Schöpfer, der mir hat, mein Leib und Seel gegeben, mein Vater, der mich schützt von Mutterleibe an, der alle Augenblick viel Guts an mir getan.“ Und der Friede Gottes, der höher ist als alle unsere Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. AMEN Landesbischof Prof. Dr. Heinrich Bedford-Strohm Hier finden Sie alle Texte des Stationengottesdienstes (PDF) |
Text: 4 Höre, Israel, der HERR ist unser Gott,
der HERR allein. |