Liebe Leser, die meisten von Ihnen kennen sicherlich Johann
Wolfgang von Goethes Drama „Faust“. Zu Anfang des ersten Teils von
Goethes „Faust” schlägt der immer strebend bemühte Doktor Faust in
seiner Studierstube sein Neues Testament auf und versucht, einige
Wörter des griechischen Originals in sein „geliebtes Deutsch” zu
übertragen. Ich zitiere:
„Geschrieben steht:
Im Anfang war das Wort.
Hier stock' ich schon:
Wer hilft mir weiter fort?
Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,
ich muss es anders übersetzen,
wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.”
Er keltert nun die Wörter so lange, bis im Prolog des
Johannesevangeliums in ebenso kluger wie verhängnisvoller
Korrektheit ein grundfalscher Schluss steht. Ich zitiere erneut:
„Mir hilft der Geist,
auf einmal weiß ich Rat
und schreibe getrost:
Im Anfang war die Tat.”
Noch mehr als der gelehrte Doktor Faust freut sich der Hund, der zu
seinen Füßen wohlig knurrt, über das Ergebnis, das Wort und Tat zu
unversöhnlichen Gegensätzen macht. Des „Pudels Kern” ist, wie wir
bald darauf erfahren, kein Geringerer als der Teufel selbst und der
aufgerissene Graben zwischen Wort und Tat, zwischen Tun und Denken
eines der schwerwiegenden Probleme der Neuzeit.
Wo Wort und Tat sich nicht mehr durchdringen, wo eines am andern
nicht mehr ablesbar wird, zerfällt nicht nur der innere Zusammenhang
beider, sondern auch jede Glaubwürdigkeit. Das ist nichts Neues. Es
war auch die Ursache, die in der Urgemeinde ernste Unstimmigkeiten
zur Folge hatte. Die Jerusalemer Gemeinde wuchs durch Zuwanderer aus
dem griechischen Sprachraum. Sie musste sich nicht nur ungewohnten
Gebräuchen und Umgangsformen, sondern auch alltäglichen
Verständigungsschwierigkeiten stellen. Sagen wir also: Es fremdelte
beträchtlich.
Die Liebesgemeinschaft der Urgemeinde, die Lukas in der
Apostelgeschichte beschreibt, geriet in eine gründliche Krise.
Ausgerechnet die Ärmsten der Armen, die Witwen, waren bei der
täglichen Versorgung übersehen worden. Allein von guten Worten lebt
der Mensch aber nun einmal ebenso wenig wie nur vom Brot, und so kam
zu Recht ein Murren auf. Ihr lebt nicht, was ihr predigt, würde man
heute sagen.
Die zwölfköpfige Leitung der Gemeinde ging den Beschwerden sofort
nach und suchte – heute würde man sagen: in einer Vollversammlung
die offene Aussprache. Die Mängel konnten abgestellt werden. Aus der
Reihe der Zuwanderer wurden sieben Männer gewählt, die nicht nur
über einen guten Ruf, sondern auch über Geisteskraft und Weisheit
verfügten, um eine gerechte Verteilung zu garantieren und die tiefe
Kluft zwischen Wort und Tat zu überbrücken.
Übersehen werden ist bitter. Das weiß ein jeder von uns. Und so ist
die Geschichte des Lukas aus der Urgemeinde keine erbauliche
Anekdote, sondern stellt uns in Frage: Haben wir den damals
Vergessenen in unseren Gemeinden nicht Unzählige hinzugesellt?
Gerade dann, wenn wir wieder einmal „in eigener Sache” tätig waren,
wenn wir mit Reformen unserer hausgemachten Probleme, mit den
Luxusleiden der Institution Kirche oder einfach nur mit uns selbst
befasst waren? Haben wir dabei nicht im wahrsten Sinne aus den Augen
verloren, was Jesus uns in seinem Leben immer wieder so eindrücklich
ans Herz legte?
Ich meine nicht nur die Witwen, wie damals in Jerusalem. Ich rede
von den so vielfach Erniedrigten heute: von denen, die durch die
Maschen des Sozialnetzes gefallen sind, von den Kranken, nach denen
niemand mehr fragt, von den Hungrigen, die abgespeist werden, von
den Alten, die in unsere Altenheime häufig nur abgeschoben werden,
von den Zuwanderern, denen keine Zuwendung zuteil wird und von den
Jugendlichen, die sich in ihren Fragen nicht ernst genommen fühlen.
Wie viel Vertrauen wird zerstört, wie viel geistliche und
menschliche Substanz geht für immer verloren, wenn Menschen
enttäuscht erkennen müssen, dass wir uns selbst nicht beim Wort
nehmen. Nein! Wir müssen nicht jeden Misstand verantworten. Aber die
Verantwortung für den einzelnen Menschen vor unserer Haustür, in
unserer Nachbarschaft, in unseren Familien, die nimmt uns niemand
ab. d
Gerade das veränderte soziale Klima der letzten Jahre in Deutschland
zeigt in aller Deutlichkeit, dass viel zu viele viel zu schnell
bereit sind, die Hilfsbedürftigen an den Rändern nicht nur zu
übersehen, sondern kalt über sie hinwegzugehen. Was von ihnen
bleibt, ist dann nur noch eine Frage der Statistik. Der Evangelist
Lukas sagt uns: Unsere Glaubwürdigkeit als Kirche, unsere
Glaubwürdigkeit auch als einzelner Christ entscheidet sich nicht an
unseren Erfolgen, unserem Wachstum, unseren Stärken. Wir werden
vielmehr daran gemessen, ob uns das Wort wirklich auf den Weg bringt
zu den Ausgegrenzten, den Übersehenen, den Sorgenkindern des
Evangeliums, die ihren Platz am Herzen Gottes haben.
Der Dichter Bert Brecht misst Glaubwürdigkeit an ihren Konsequenzen.
Ich zitiere: „Immer wieder vor allem andern: Wie handelt man, wenn
man euch glaubt, was ihr sagt?” so fragt er. Unter uns darf sich,
liebe Brüder und Schwestern in Christus, nicht tausendfach
wiederholen, was damals in Jerusalem geschah. Der Text fragt uns als
Kirche, als „Gemeinschaft der Heiligen“, aber auch jeden einzelnen
Christen, ob bei uns Wort und Tat deckungsgleich sind. Und wie es
uns und einem jeden gelingt, Gottes Wort in die Tat umzusetzen.
Aber auch die andere Seite der Frage bleibt uns nicht erspart: Wir
haben beeindruckende Sozialprogramme. Unsere diakonischen Ämter und
Werke sind flächendeckend, gerade hier in Oberfranken. Aus großen
und durchaus konkurrenzfähigen Einrichtungen werden kleine,
effektive Stationen vor Ort gespeist. Und während wir im Gefolge von
Wichern und Bodelschwingh sogar ein wenig Stolz empfinden bei dem
Gedanken, gut mit ihrem Pfund gewuchert zu haben, übersehen wir ganz
schnell die Kehrseite unserer gigantischen Betriebsamkeit:
Dass nämlich selbst in unseren christlichen Einrichtungen Schwestern
und Pfleger aufgrund eines „kostendeckenden Personalschlüssels” sehr
oft keine Zeit mehr haben für ein paar ungestörte Minuten Gehör, für
das Vorlesen eines Kalenderblattes oder gar für ein entlastendes
Vaterunser am Bett eines Verzweifelten. Dass selbst in unseren
christlichen Einrichtungen ein menschenfreundlicher Umgang mitunter
abhanden gekommen ist. Das stellt uns ein bedenkliches Zeugnis aus.
So werden wir heute von der Heiligen Schrift nicht nur gefragt, ob
wir die Geringsten übersehen, sondern auch, ob wir das Wort überhört
haben, das uns anvertraut und ihnen zugedacht ist. Dies ist gerade
vor dem Hintergrund der postmodernen Großwetterlage, die uns einen
kalten globalen Wind ins Gesicht schickt, ein ernstes Problem.
Noch aus seiner Gefängniszelle in Tegel hat Dietrich Bonhoeffer 1944
vor dem bedrohlichen Verlust des gesunden Gleichgewichts von Wort
und Tat gewarnt. Ein solcher Verlust macht eine Kirche trotz allen
organisatorischem Geschick am Ende so stumm wie tatenlos. Zitat
Bonhoeffer: „Unsere Kirche, die in diesen Jahren nur um ihre
Selbsterhaltung gekämpft hat, als wäre sie ein Selbstzweck, ist
unfähig, Träger des versöhnenden und erlösenden Wortes für die
Menschen und für die Welt zu sein.”
Die Kirche verliert ihre Mitte, wenn sie sich im sozialen Engagement
verströmt. Aber sie verliert ihre Glaubwürdigkeit, wenn sie über
fromme Worte nicht hinauskommt!
„Täter des Wortes” zu sein fordert uns der Verfasser des
Jakobusbriefes (1,22) auf, nicht nur Hörer. Als helfende Gemeinde
predigen wir mit unseren Taten. Und als predigende Gemeinde helfen
wir mit dem Wort. Gesund ist Kirche und Gemeinde nur dort, wo, wie
Luther es formulierte, „einer dem anderen ein Christus ist”. Denn
Christus selbst begegnet uns in der „Randerscheinung”, die er uns
vor die Füße legt. Wenn wir ihn im Blick behalten, dann kommen
gleichsam automatisch unsere hilfsbedürftigen Schwestern und Brüder
in den Blick. Und dann verschenken wir mit der Hilfe, die wir – in
Wort und Tat - dem Erniedrigten, dem Kranken, dem Hungrigen, dem
Alten, dem Zuwanderer und dem fragenden Jugendlichen zukommen
lassen, nicht nur Zeit, sondern Ewigkeit.
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche
Hof) |
Text:
1 In diesen Tagen aber, als die Zahl der
Jünger zunahm, erhob sich ein Murren unter den griechischen Juden in
der Gemeinde gegen die hebräischen, weil ihre Witwen übersehen
wurden bei der täglichen Versorgung.
2 Da riefen die Zwölf die Menge der Jünger zusammen und sprachen: Es
ist nicht recht, dass wir für die Mahlzeiten sorgen und darüber das
Wort Gottes vernachlässigen.
3 Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern in
eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll Heiligen Geistes und
Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst.
4 Wir aber wollen ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes
bleiben.
5 Und die Rede gefiel der ganzen Menge gut; und sie wählten
Stephanus, einen Mann voll Glaubens und Heiligen Geistes, und
Philippus und Prochorus und Nikanor und Timon und Parmenas und
Nikolaus, den Judengenossen aus Antiochia.
6 Diese Männer stellten sie vor die Apostel; die beteten und legten
die Hände auf sie.
7 Und das Wort Gottes breitete sich aus und die Zahl der Jünger
wurde sehr groß in Jerusalem. Es wurden auch viele Priester dem
Glauben gehorsam.
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