Liebe Leser,
vielleicht war es ihm peinlich. Oder warum
sonst hat Paulus in seinen Briefen über die Ereignisse dieser Tage
kaum eine Bemerkung fallen lassen? Warum muss Lukas uns davon
berichten? Weil Paulus selbst nicht wusste, wie er davon erzählen
sollte? Und selbst wenn – wie sollte er eine solche Geschichte
erzählen in der Hoffnung, dass seine Zuhörer ihn auch nur
ansatzweise verstanden? Also tat er’s lieber nicht. Etwas warf ihn
vom Pferd, auf dem er den Christen in Damaskus entgegenschnaubte. Er
lag im Dreck. Auf allen Vieren. Dann stellte er fest, dass er nichts
mehr sehen konnte. Alles gelöscht. Man musste ihn an die Hand nehmen
wie ein Baby. Man würde ihm einen neuen Namen geben. Wären seine
Begleiter gefragt worden, was denn eigentlich mit Saulus passiert
ist, hätten sie nur die Achseln gezuckt. Irgendwas hätten sie
gehört, eine Stimme von irgendwoher, aber es sei weit und breit
nichts zu sehen gewesen. Irgend so eine Krankheit vielleicht.
Uns ist so etwas doch eher fremd. Und wenn es passiert? Notarzt
rufen. Den Mann mal ordentlich durchchecken, körperlich und
seelisch, Auszeit nehmen, dann wird’s schon wieder. Der kommt schon
wieder in die Spur. Das sollte allen sogenannten bekehrten Christen,
die gar nicht müde werden, ihr Bekehrungserlebnis wieder und wieder
in immer neuen Ausschmückungen zu erzählen, doch ein wenig zu denken
geben. Und erst recht all jenen, die versuchen, derartiges zu
inszenieren auf Missionsveranstaltungen aller Art. Die stehen dann
in unmittelbarer Nähe zu all jenen Veranstaltungen, auf denen
Menschen erzählt wird, was sie unbedingt machen müssen, um bessere,
liebenswertere, fröhlichere, ja erlöste Menschen zu werden. „Ich
weiß nicht, wie die anderen das machen“, schrieb Elisabeth Raether
im ZEIT-Magazin, „Sie hören auf, Milch zu trinken, und fühlen sich
wie ein neuer Mensch. Dabei ist es doch wie mit neuen Frisuren: Kurz
glaubt man, alles wäre möglich, bis man feststellt, dass man immer
noch man selbst ist, nur mit Ponyfransen.“ (zitiert nach Kathrin
Oxen, GPM 2/2016, Heft 3, S. 387)
Schier unübersichtlich ist der Markt der Gurus und Propheten, die
dem modernen Menschen den Weg zur Selbstfindung, Selbstoptimierung
und Selbsterlösung weisen. Wer sich für dieses Thema interessiert,
lese bei Kierkegaard nach über die große Verzweiflung, in der der
Mensch er selbst, bzw. nicht er selbst sein will (Sören Kierkegaard,
Die Krankheit zum Tode, 1849). Die Kirche, ja Glauben und Religion
allgemein, haben auf diesem Markt nichts verloren, denn das alles
hat mit der Geschichte des Paulus nicht das Geringste zu tun! Paulus
hatte keine Probleme. Er wusste, wer er war. Er war mit sich im
Reinen. Er hatte eine Mission. Er war in der Spur. Jesus löste
keines seiner Probleme. Mit der Christusbegegnung fingen sie alle
erst an. Ein guter Grund für Paulus, sich in seinen Briefen nicht
über Damaskus auszulassen, sondern seinen Mitschwestern und
Mitbrüdern lieber von etwas anderem zu schreiben: Von der großen
Liebe! (vgl. 1. Korinther 13)
Was Saulus widerfuhr, kann nicht inszeniert und gemacht werden. Es
ist die Geschichte einer Überwältigung, einer fundamentalen
Unterbrechung seines bisherigen Lebenszusammenhangs. Er wird von
etwas, von jemand anderem ergriffen. Und am Ende steht nicht das
gesteigerte, gebesserte, prachtvollere Ich, im Gegenteil: es bleibt
gar nicht mehr viel von ihm übrig. „In seiner
Religionsphänomenologie hat der Philosoph Hermann Schmitz eine These
formuliert, die dem spezifischen Wirklichkeitscharakter unserer
Szene gerecht wird: ‚Eine Atmosphäre, die ein Gefühl (oder eine
Konstellation von Gefühlen) als ergreifende Macht ist, ist göttlich,
wenn ihre Autorität für den Ergriffenen unbedingten Ernst besitzt.‘
Saulus ist der Übermacht einer göttlichen Atmosphäre begegnet, die
ihn mit ihrer Strahlungskraft körperlich attackiert, seelisch
affiziert und (…) umgepolt hat.
Was von außen mehr nach einem Unfall aussieht, was als Lebenskrise
Unsicherheit und Mitleid auslöst, ist in der persönlichen
Heilsgeschichte von Menschen oft der harte, schmerzliche, aber
letztlich segensreiche Weg in das Leben. (…) Das muss nicht immer so
dramatisch und katastrophal geschehen wie im hier beschriebenen
Fall. Manchmal gewinnt ein einziges Wort, ein kurzer Augenblick, ein
winziger Einfall einen solchen Einfluss, dass das Leben des
Betroffenen davon immer mehr (…) infiziert wird und sich allmählich
grundlegend verändert.“ (Manfred Josuttis, GPM 2/1998, Heft 3, S.
399) Und manchmal haut uns auch ein kleiner Seufzer, ein kleiner
Blick vom Pferd.
Wer groß liebt und groß trauert, weiß, dass das nicht mit
Selbststeigerung, sondern mit Selbstverlust verbunden ist. Paulus
sieht nichts mehr. Er weiß nicht, wie es weitergehen soll. Er isst
und trinkt drei Tage lang nichts. „Das sind Reaktionen, die zu
großer Trauer passen - oder auch zu sehr großer Liebe. In beiden
Fällen bin ich selbst nicht wichtig, sondern nur der Andere, dessen
Abwesenheit oder Gegenwart mein Leben bestimmt. Paulus erlebt die
Begegnung mit Jesus Christus überwältigend, wie ein Sterben und eine
neue Liebe auf einmal. ‚Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern
Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe
ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat‘. So erzählt
er später selbst vom Danach seines Damaskuserlebnisses“ im Brief an
die Galater (2,20, Oxen, aaO. S. 390). Paulus wird zum
Christusmystiker, denn Christus lebt in ihm dort, wo vorher sein Ich
war. Paulus hat das nie bereut. Er hat es als große Befreiung und
als große Freiheit erlebt (2. Korinther 3,17). Und er ist in einem
Maße furchtlos geworden, das kaum begreiflich ist.
Der Theologe Manfred Josuttis hat seine vor 20 Jahren geschriebene
Meditation mit dem Satz begonnen: „Das ist ein Text gegen kirchliche
Zukunftsängste und christliche Minderwertigkeitsgefühle.“ (Josuttis,
aaO. S. 397) Wir haben ihn in den letzten 20 Jahren zu selten
gehört. Wir haben uns zu lange von unseren Zukunftsängsten bestimmen
lassen und leben heute in einer Kirchenorganisation, die in vielen
Bereichen völlig überreguliert und überverwaltet ist und in der
zwischen den Verordnungen des Kirchenrechts kaum noch Platz bleibt
für den Heiligen Geist. Halten wir noch Ausschau nach Menschen,
durch die Gottes Geist bläst, egal welche Vergangenheit und Gaben
sie mitbringen? Auch Hananias muss gehörig über seinen Schatten
springen, um dem neuen Bruder Saulus die Hände aufzulegen. Aber er
begreift, dass seine Gedanken nicht Gottes Gedanken sind und nicht
er, sondern Gott die Macht hat.
Noch schlimmer wäre es freilich, wenn wir selbst in unserem Leben
gar nicht mehr empfänglich wären für die kleinen und großen Dinge,
die geeignet sind, uns vom Pferd zu hauen. Noch schlimmer wäre es,
wenn wir als Christenmenschen blind, taub und stur durchs Leben
gehen und es mit Helmut Schmidt halten, der gesagt haben soll: Wer
Visionen hat, solle zum Arzt gehen. Dieser Satz gilt nur für
Menschen in ihrer Eigenschaft als Politiker. Die müssen nicht fromm,
in jedem Fall aber vernünftig sein. Auch der Apostel Paulus hat viel
von der Vernunft gehalten und von der Erkenntnis. Noch mehr hat er
aber seinem Herrn Jesus Christus zugetraut und damit dem Glauben,
der Hoffnung und der Liebe. Und wer würde es für unvernünftig
halten, Gott eben darum zu bitten, um Glauben, Hoffnung und Liebe –
für uns selbst, für unsere Kirche und für alle Welt?
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
1 Saulus aber schnaubte noch mit Drohen und
Morden gegen die Jünger des Herrn und ging zum Hohenpriester
2 und bat ihn um Briefe nach Damaskus an die Synagogen, damit er
Anhänger des neuen Weges, Männer und Frauen, wenn er sie dort fände,
gefesselt nach Jerusalem führe.
3 Als er aber auf dem Wege war und in die Nähe von Damaskus kam,
umleuchtete ihn plötzlich ein Licht vom Himmel;
4 und er fiel auf die Erde und hörte eine Stimme, die sprach zu ihm:
Saul, Saul, was verfolgst du mich?
5 Er aber sprach: Herr, wer bist du? Der sprach: Ich bin Jesus, den
du verfolgst.
6 Steh auf und geh in die Stadt; da wird man dir sagen, was du tun
sollst.
7 Die Männer aber, die seine Gefährten waren, standen sprachlos da;
denn sie hörten zwar die Stimme, aber sahen niemanden.
8 Saulus aber richtete sich auf von der Erde; und als er seine Augen
aufschlug, sah er nichts. Sie nahmen ihn aber bei der Hand und
führten ihn nach Damaskus;
9 und er konnte drei Tage nicht sehen und aß nicht und trank nicht.
10 Es war aber ein Jünger in Damaskus mit Namen Hananias; dem
erschien der Herr und sprach: Hananias! Und er sprach: Hier bin ich,
Herr.
11 Der Herr sprach zu ihm: Steh auf und geh in die Straße, die die
Gerade heißt, und frage in dem Haus des Judas nach einem Mann mit
Namen Saulus von Tarsus. Denn siehe, er betet
12 und hat in einer Erscheinung einen Mann gesehen mit Namen
Hananias, der zu ihm hereinkam und die Hand auf ihn legte, damit er
wieder sehend werde.
13 Hananias aber antwortete: Herr, ich habe von vielen gehört über
diesen Mann, wie viel Böses er deinen Heiligen in Jerusalem angetan
hat;
14 und hier hat er Vollmacht von den Hohenpriestern, alle gefangen
zu nehmen, die deinen Namen anrufen.
15 Doch der Herr sprach zu ihm: Geh nur hin; denn dieser ist mein
auserwähltes Werkzeug, dass er meinen Namen trage vor Heiden und vor
Könige und vor das Volk Israel.
16 Ich will ihm zeigen, wie viel er leiden muss um meines Namens
willen.
17 Und Hananias ging hin und kam in das Haus und legte die Hände auf
ihn und sprach: Lieber Bruder Saul, der Herr hat mich gesandt,
Jesus, der dir auf dem Wege hierher erschienen ist, dass du wieder
sehend und mit dem Heiligen Geist erfüllt werdest.
18 Und sogleich fiel es von seinen Augen wie Schuppen und er wurde
wieder sehend; und er stand auf, ließ sich taufen
19 und nahm Speise zu sich und stärkte sich. Saulus blieb aber
einige Tage bei den Jüngern in Damaskus.
20 Und alsbald predigte er in den Synagogen von Jesus, dass dieser
Gottes Sohn sei.
|