Liebe Leser,
neulich las ich in einem Magazin unter dem Titel „Du
sollst deinen Nächsten nicht zu nahe an dich heranlassen“ drei
Geschichten, bei denen einem das Lachen im Hals stecken bleibt.
Da passierte einem alten Mann das Malheur, seinen Geldbeutel samt
Schlüssel im Wagen einzusperren. Als er eine junge Frau um einen Anruf
auf ihrem Handy bitten wollte, bekam ihm das schlecht. Er fand sich im
Krankenhaus wieder. Die junge Frau hatte gerade einen
Selbstverteidigungskurs absolviert und hielt ihn für einen
Sittenstrolch.
Schlimm erging es auch einem Mann, der seine beiden kleinen Enkel bei
einem Verkehrsunfall verloren hatte. Nachdem er auf einem seiner
Spaziergänge mit Hilfe von Schokoriegeln Kontakt zu Kindern gesucht
hatte, wurde die Polizei alarmiert und das Gelände umstellt. Bis sie
eingriff, hatten treusorgende Väter dem Kinderschänder schon eine
Abreibung verpasst.
Und schließlich war da noch die Studentin, die sich bei einem
Meinungsforschungsinstitut etwas dazu verdiente. Als sie bei einer alten
Dame klingelte, um ihr ein paar Fragen zu stellen, wurde sie aus der
halb geöffneten Tür von einem Strahl Reizgas empfangen und in die
Besenkammer gesperrt, wo die alte Dame die Betrügerin für die Polizei
aufbewahrte.
Erst draufhaun und dann reden, das ist nicht zum Lachen. Erst
verurteilen und dann vielleicht verstehen, das ist nicht zum Lachen.
Angst und Misstrauen grassieren in unserer Gesellschaft, in der
inzwischen zwei Drittel der Menschen allein im Haushalt leben. Und wo
der vorauseilende Argwohn regiert, reduziert sich das Ansehen einer
Person schnell darauf, dass sie ja eine Unperson sein könnte, der alles
zuzutrauen ist. Oder warum hören denn die Geheimdienste dieser Welt jede
und jeden ab? Weil inzwischen wir alle unter Generalverdacht stehen. Da
geht es nicht nur um unsere Grundrechte, sondern auch um das
Grundvertrauen, ohne das eine Gesellschaft nicht funktionieren kann. Das
ist ein Wahnsinn, den man nicht normal nennen darf! Und der findet
leider auch bei uns in der Kirche statt. Denn die Worte des Apostel
Paulus passen zu solchen Geschichten. Ertragt einer den anderen in
Liebe, demütig, sanftmütig, geduldig. Ach ja, so sollte es sein.
Ich kenne manche, die andere Erfahrung machen. Sie rufen mich an oder
schreiben mir Briefe. Sie erzählen Geschichten, in denen erst verurteilt
und dann nicht einmal mehr zugehört wird. Sie brechen innerlich zusammen
an der Wand aus Ablehnung, Vorurteilen und Schuldzuweisungen ihrer
christlichen Nachbarschaft. Sie ertragen es nicht länger, wie
Christenmenschen miteinander umgehen. Da ist der Bibelkreis, der zwar
tiefschürfend über Zachäus nachdenkt, aber einem Mitglied dann zu
verstehen gibt, dass man einen Zachäus wie ihn in einem solchen Kreis
nicht haben will, und einen Vorbestraften nicht in der Diakonie, und den
und den nicht länger in einem kirchlichen Amt. Schließlich geht es um
die sogenannte Glaubwürdigkeit. Und so lange das so ist, wird es das
auch unter uns geben: Den ängstlich gesenkten Blick, die vor den Mund
gehaltene Hand und die in der Tasche geballte Faust.
Das ist schon ein Skandal. Mögen sich draußen die Menschen ihrem
Argwohn, ihren Ängsten, ihren Vorurteilen und Vorverurteilungen
hingeben, sich so ein Zusammenleben irgendwann endgültig unmöglich
machen und den gleichen Amok laufen, vor dem sie sich schützen wollen.
Mögen sie irgendwann einmal merken, dass das, was in der Kirche durch
Apostel wie Paulus gepredigt wird, doch nicht so blöd ist. Aber wie
sollen sie’s merken, wenn es bei uns genauso zugeht; wenn sie bei uns
genau die gleichen schmerzlichen Erfahrungen machen? Erst draufhaun,
dann fragen? Schon der Anschein genügt. Das ist ein Skandal.
Denn hier ist Kirche Jesu Christi. Hier ist die Gemeinschaft des Jesus
von Nazareth, der den Seinen ein neues Gebot gibt: Dass ihr euch liebt
untereinander wie ich euch geliebt habe (Johannes 13/34). Hier fordert
der Christus die Liebe unter uns ein, die er jedem von uns schenkt und
zuspricht. Wir können uns nicht an den Tisch des Herrn setzen und dem
anderen die Tischgemeinschaft verwehren. Wir können uns nicht Gottes
Gnade und Vergebung zusprechen lassen und einander die Barmherzigkeit
verweigern. Wir können nicht zur Familie Gottes gehören und andere aus
der Gemeinschaft ausschließen. Und das gilt natürlich nicht nur für den
nahen, sondern auch für den fernen Nächsten, der bei uns Schutz sucht
vor Terror, Krieg und Verfolgung. Wir können nicht den Gott predigen,
der uns Menschen ins Herz schaut und eine Kirche sein, der ihre Ruhe,
ihre Fassade und der äußere Schein wichtiger ist.
Darum ermahne ich euch nun, dass ihr einander ertragt in der Liebe. Dazu
gehört mehr Mut, als zum Reizgas zu greifen. Unser Predigttext nennt
drei Arten von Mut:
Demut. Den Mut, den anderen wert- und hochzuschätzen, auch wenn er
schwierig ist und in meinen Augen verkehrt.
Sanftmut. Den Mut großzügig zu sein, zu vergeben ohne die Angst,
ausgenutzt zu werden und als Schwächling dazustehen.
Langmut. Den Mut zum Aushalten. Die Geduld, die dem anderen Zeit lässt.
Ich denke, für diese drei Arten von Mut, muss der Zeigefinger nicht
mahnend erhoben werden. Erinnern wir uns nur einmal, wie wohltuend das
war, wenn uns ein Mensch mit solchem Mut begegnet ist. Wie gut das war,
als seine Tür für uns offen stand und er Platz für uns hatte. Wie er zu
uns hielt, als uns andere die Tür vor der Nase zumachten. Erinnern wir
uns, wie gut das war, wenn wir aufatmen konnten, weil eine auf uns
lastende Schuld vergeben wurde. Was für eine Wohltat das war, wenn uns
Zeit gelassen wurde, obwohl wir die Geduld der anderen strapazierten.
Kurz gesagt: Welch eine Wohltat, Menschen mit solchem Mut, solcher
Demut, Sanftmut und Langmut in unserer Nähe zu haben und gehabt zu
haben.
Und wenn uns Demut, Sanftmut und Langmut ausgegangen sein sollten, dann erinnert uns Paulus an
den einen Geist, an die eine Hoffnung, an die eine Taufe, an den einen
Herrn, an den einen Gott. Dann ist es vielleicht wieder einmal Zeit,
sein Wort zu lesen und zu hören. Dann ist es bestimmt wieder einmal Zeit
die Hände zu falten zum Gebet. Unser Predigttext endet ja in einem
Lobpreis an den Gott, der über allen, durch alle und in allen ist.
Dann ist es Zeit, einfach einmal still zu werden, bis all die
ängstlichen, verwirrten, argwöhnischen Stimmen leiser werden und
schließlich ganz verstummen. Damit wir überhaupt wieder Schallraum haben
für den Lobgesang, den alles Lebendige seinem Schöpfer singt. Auch wir
sind lebendig. Es singt auch in uns; dieses Gebet zu dem, der der rechte
Vater ist über alles, was da Kinder heißt im Himmel und auf Erden.
(Epheser 3/15)
Dann ist es Zeit, wieder Schallraum zu gewinnen für das Evangelium vom
menschenfreundlichen Gott. Zeit, dass Kirche Schallraum für dieses
Evangelium und für nichts als dieses Evangelium ist, damit es Resonanz
finden kann in unseren ängstlichen Herzen. Mut haben wir heute bitter
nötig, Mut wie Demut, Sanftmut, und Langmut. Damit wir Menschen werden
und bleiben, die statt in ihrem Misstrauen und ihren Ängsten
eingewurzelt sind in der Liebe durch unseren Herrn Jesus Christus.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
Paulus schreibt:
1 So ermahne ich euch nun, ich, der Gefangene in dem Herrn, dass ihr der
Berufung würdig lebt, mit der ihr berufen seid,
2 in aller Demut und Sanftmut, in Geduld. Ertragt einer den andern in
Liebe
3 und seid darauf bedacht, zu wahren die Einigkeit im Geist durch das
Band des Friedens:
4 ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid zu
einer Hoffnung eurer Berufung;
5 ein Herr, ein Glaube, eine Taufe;
6 ein Gott und Vater aller, der da ist über allen und durch alle
und in allen.
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