Liebe Leser,
der Vater aller Morde war ein Brudermord.
Kain erschlägt Abel im Glauben, Gott hätte Abel erwählt. Und ihn
selbst verstoßen. Warum sind Geschwister eine so
aggressionsanfällige Kombination? Warum ist es eher zu verkraften, wenn
irgendjemand irgendwo mehr Erfolg hat, mehr geliebt wird als wir selbst?
Und warum ist dasselbe so schwer zu verkraften, wenn es sich um unseren
Bruder oder unsere Schwester handelt?
Ich möchte Ihnen heute die Geschichte zweier solcher Geschwister erzählen.
Die beiden Geschwister heißen Judentum und Christentum. Diese Geschichte
handelt von scheinbar unvereinbaren Grundsätzen, von Erwählung und
angeblicher Verwerfung. Sie handelt davon, weshalb
dieses Geschwisterpaar so aggressionsanfällig ist und wie es als
Geschwisterpaar dennoch untrennbar zusammen gehört.
Ich werde die Geschichte von Judentum und Christentum in drei Akten
behandeln. Der Predigttext wird heute am Ende stehen. Denn er ist ein
hoffnungsvoller Blick in die Zukunft.
I. Akt: Vom Mann, der beide Geschwister in seinem
Herzen trug
Paulus, als Bürokrat Gottes verschrien, noch „schlimmer“: Der erste
Dogmatiker der Christenheit, ist der Mann mit der kühnsten Hoffnung, die
mir je begegnet ist. Paulus war Jude mit Leib und
Seele. Er gehörte dem Volk an, das Gott selbst am Berg Sinai aus allen
Völkern der Welt zu seinem Volk erwählt hat und es über alle Völker
erhoben hat. In seinen Gesetzen hat der Allmächtige seinem Volk
mitgeteilt, wie sie menschenwürdig leben können. Ein unschätzbares
Vorrecht vor allen anderen Völkern.
Deshalb wird von Israel das Heil der ganzen Welt ausgehen. Mit dem Kommen
des Messias bricht die Zeit weltweiten Friedens an. Die strikte Befolgung
aller Gebote der Tora, des Alten Testaments, ist die Voraussetzung dafür.
Nur so wird das Volk rein für die Ankunft des Herrn. Dann wird der Messias
das neue Jerusalem des Friedens auf dem Zion bauen.
Während ich sehe, wie israelitische Panzer Häuser abreißen, Opfer des
Hasses zu Grabe getragen werden, kann ich kann ihn mit Jesaja vom Reich
Gottes träumen hören, den Juden Paulus: „Dann
werden der Blinden Augen aufgetan werden, und der Tauben Ohren geöffnet
werden; Die Lahmen springen wie ein Hirsch, und der Stummen Zunge wird Lob
sagen .... Die Erlösten des HERRN werden
wiederkommen und gen Zion kommen mit Jauchzen; Freude und Wonne werden sie
ergreifen, und Schmerz und Seufzen wird entfliehen. (Jes 35,2-10)
Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu
Sicheln machen. Denn es wird kein Volk gegen das andere ein Schwert
aufheben, und sie werden hinfort nicht mehr kriegen lernen. (Jes 2,4)
Das war und ist die große Verheißung, die dem jüdischen Volk gegeben
wurde. Manche glauben, dass Paulus von seinem
jüdischen Glauben Abstand genommen hat, als ihm vor Damaskus Christus
erschien, ihn fragte, warum er ihn verfolge. Ich glaube das nicht. Paulus
war Jude mit Leib und Seele. Sein Leben und sein Glaube waren unauflösbar
miteinander verbunden. Paulus, einem solchen
Glaubenden, tritt vor Damaskus Jesus in den Weg.
Jesus, der dem Leben und Glauben des Paulus völlig entgegenstand, der
Paulus selbst völlig entgegenstand. Paulus wusste, wie der Messias sein
würde.
Und nun stand da dieser Christus, der niemals Messias hätte sein dürfen,
der plötzlich jeden erwählte. In seinem Namen machte sich diese Sekte
breit, die jeden, aber auch wirklich jeden aufnahm, der
sich nicht beschneiden ließ, der
die Reinheitsgebote nicht achtete,
der glaubte, ein Gekreuzigter sei der
Messias. Obwohl doch offensichtlich war, dass er es
nicht sein konnte. Denn die Welt befolgt die Gebote
des Alten Testaments nicht. Ihre Augen wurden nicht aufgetan! Wenn nicht
jedem Menschen das Gesetz Gottes ins Herz geschrieben ist, war der Messias
noch nicht da gewesen. Die Welt war nicht heil geworden durch Jesus
Christus. Das sah jeder, der die Augen auch nur
einen Schlitz breit auf machte. Es konnte also nur
völliger Schwachsinn sein, dass Jesus von Nazareth der Messias war.
Außerdem war er tot.
Paulus hatte die Schrift und die bisherige Logik des Glaubens auf seiner
Seite. Und da stand dieser Christus vor ihm und fragte auch noch, warum er
ihn verfolge. Ja bitte! Doch weil er wie ein Bulldozer die Hoffnung auf
Frieden niederwalzte, indem er Leute aufnahm, die noch nicht einmal eine
Ahnung davon hatten, was Reinheitsgebote überhaupt sind!
Da stand er also, dieser Jesus als Christus. Und Paulus kam nicht mehr an
ihm vorbei. Paulus hat erfahren, dass sein Glaube mit Jesus verbunden
wurde - gegen alle bisherige Logik.
Es sollte ihm ein Leben lang zu schaffen machen. Noch in seinem
großen letzten Brief dem Römerbrief kommt er nach fast verzweifelten,
ausführlichen Überlegungen dazu, dass an Christus kein Weg vorbeiführt. Es
ist völlig undenkbar, wie Israel, wenn es sich nicht zu Jesus Christus
bekehrt, zur Kirche, zum Volk Gottes gehören kann. Wenn es Jesus Christus
ablehnt, lehnt es Gott selbst ab und kann nicht mehr das Volk Gottes sein.
Und doch muss es das Volk Gottes sein. Denn auch eine Verwerfung Israels
liegt außerhalb jeder Möglichkeit. Israel bleibt das Volk Gottes, auch
wenn es sich nicht zu Christus bekehrt.
Durch alle Briefe das Paulus zieht sich sein Ringen um die Frage: Wie kann
zusammenpassen, was nach aller Vernunft niemals zusammenkommen wird, weil
es sich schlechterdings widerspricht. Anfangs
schien es noch die Hoffnung zu geben, dass schnell die Mehrheit Israels
Jesus Christus als den Messias anerkennen würde. Doch sehr schnell wurde
klar, dass dem nicht so war. Die Kirche Jesu Christi wuchs unter den
Nichtjuden. Unter den Juden verschwand sie. Aber die Erwählung Israels
konnte niemals hinfällig sein.
Gott wird es möglich machen am Ende der Tage, dass Israel erwählt bleibt
und an Jesus Christus niemand vorbei kommt. Völlig unvorbereitet steht am
Ende des Kapitels über Israel: Israel wird erlöst werden. Das ist die
Quintessenz eines durch und durch vernünftigen Lebens getragen von einer
gewaltigen Hoffnung, die über die Vernunft hinausgeht. Ich wünschte mir
mehr Menschen vom Format des Paulus, deren Hoffnung die Grenzen der Logik
sprengt. Und Paulus trug seine Hoffnung über das Volk Israel hinaus in die
gesamte damals bekannte Welt: Zu den Heiden, die sich bald Christen nennen
würden.
II. Akt: Unter Heiden
Anfangs war der Mönch Martin Luther wie berauscht von dieser Hoffnung, die
ihm aus den Briefen des Paulus entgegen quoll. Der Hoffnung, dass der
Glaube an Jesus Christus ausreichte, ein geliebtes Kind Gottes zu sein.
Nicht durch das, was wir tun oder von wem wir abstammen, sind wir geliebt.
Nein, sondern durch das, was wir durch unseren Glauben sind: Kinder
Gottes, Volk Gottes. Nicht durch Geburt wie das Volk Israel, sondern durch
unseren Glauben. Es war eine große Befreiung für
Luther gewesen. Er glaubte daran, dass wenn er diese Botschaft nur für
jeden verständlich, auf Deutsch ausdrückte, würden sich alle bekehren, die
dazu berufen sind. Mit der Zeit reifte in ihm die Überzeugung, dass wer
sich trotz verständlicher deutscher Bibelübersetzung und christlichen
Unterrichts nicht zu Christus bekehrte, nicht berufen, sondern verworfen
sei: Ein Kind des Todes. Der alte Luther wurde zum Judenhasser.
So war aus der gewaltigen Hoffnung des Paulus eine verkrüppelte Theologie
geworden, deren Früchte Jahrhunderte lange Judenfeindschaft und eine
Entfremdung der Kirche von ihren jüdischen Wurzeln waren.
Martin Luther ist an der schier unerträglichen Weite der Hoffnung
gescheitert, die ihm aus den Briefen des Paulus entgegen quoll. Von nun an
wurde die Hoffnung zu Steinen, die durch Synagogenfester flogen.
III. Akt: Der Stein
Dass Paulus nicht aus Nostalgie daran festhielt, dass Israel das Volk
Gottes ist und bleibt, auch wenn es Jesus nicht als Christus anerkennt;
dass Israel für Paulus nicht ein ungläubiges Anhängsel ist, dem irgendwann
einmal ein Versprechen gegeben wurde, das Gott nun unangenehmer weise
nicht mehr zurücknehmen konnte; Das zeigt der Predigttext aus dem Brief
des Paulus an die Epheser. Er dreht die Perspektive um: Nicht Israel ist
das Problem. Das Problem ist, dass Jesus Christus uns die Heiden, die wir
ursprünglich nicht zum erwählten Volk Gottes gehören, beruft. Aus reiner
Gnade dürfen wir durch den Glauben an Jesus Christus zum auserwählten Volk
Gottes gehören. Der Epheserbrief vergleicht die Kirche Gottes mit einem
Gebäude. Der Hauptbau ist das Volk Israel. Die uralte Tempelmauer bekommt
durch den Eckstein Jesus Christus einen Anbau: Die Christen, die nicht
Juden sind. Ich lese aus dem 2. Kapitel des Briefes an die Epheser:
„Jesus Christus ist gekommen und hat im Evangelium
Frieden verkündigt euch, den Nichtjuden, die ihr fern wart,
und Frieden den Juden, die schon immer nahe waren.
Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum Vater.
So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge,
sondern Mitbürger der Heiligen und Gottes Hausgenossen,
erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus
der Eckstein ist, auf welchem der ganze Bau ineinander gefügt wächst zu
einem heiligen Tempel in dem Herrn. Durch ihn
werdet auch ihr miterbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist.“ (Eph 2,17-22)
Die Kirche Gottes wird erweitert. Der Hauptbau ist das Volk Israel. Durch
den Eckstein Jesus Christus bekommt er einen Anbau: Uns, die Christen, die
nicht Juden sind. Durch Christus haben auch alle
Nichtjuden Zugang zum Heil. In der Hoffnung gehören wir zusammen – auch
wenn wir uns in vielem völlig entgegenstehen. Es gilt die Steine aus den
Synagogen zu räumen und die Hoffnungsfenster zu reparieren, um
unterschiedlich wie wir sind, gemeinsam hindurch zu sehen auf die
wunderbare Verheißung, die Gott seinem Volk durch Jesaja gibt:
Dann werden der Blinden Augen aufgetan werden, und der Tauben Ohren
geöffnet werden (Jes 35, 5)...
Da werden sie ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu
Sicheln machen. Denn es wird kein Volk gegen das andere ein Schwert
aufheben, und werden hinfort nicht mehr kriegen lernen. (Jes
2,4)
Dieser Friede Gottes, der höher ist als alle menschliche Vernunft erfülle
unsere Herzen durch Jesus Christus. Amen.
Vikar Michael Krauß (Hospitalkirche
Hof) |
Text:
Paulus schreibt:
(17)Und er ist gekommen und hat im Evangelium
Frieden verkündigt euch, die ihr fern wart, und Frieden denen, die nahe
waren.
(18)Denn durch ihn haben wir alle beide in einem Geist den Zugang zum
Vater.
(19)So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Mitbürger der
Heiligen und Gottes Hausgenossen,
(20)erbaut auf den Grund der Apostel und Propheten, da Jesus Christus der
Eckstein ist,
(21)auf welchem der ganze Bau ineinander gefügt
wächst zu einem heiligen Tempel in dem Herrn.
(22)Durch ihn werdet auch ihr miterbaut zu einer Wohnung Gottes im Geist. |