Liebe Leser,
lebt in der Liebe! Was sollen wir nur damit
anfangen? Das ist so ein Satz, der sagt alles und nichts. Geht
diesen Worten nicht schon vor der Kirchentür die Luft aus?
Auch hier in der Kirche wird der Satz ja gerne gesagt und soll
bedeuten: Seid brav, macht keinen Ärger, gebt klein bei, um der
christlichen Nächstenliebe und Harmonie willen. Müsst ihr denn immer
streiten? So sagen es die Wölfe den Lämmern, die Starken den
Schwachen, die Oben auf der Kanzel denen Unten, die Eltern den
Kindern. So sagen es die Wasserprediger, die in Wahrheit oft genug
Weinsäufer sind. So kraftlos und wirkungslos moralisieren, das hat
nicht nur in der Kirche eine unsägliche Tradition. Da trifft dann
schnell zu, was der Predigttext selber sagt: Lasst euch von
niemandem verführen mit leeren Worten. Aber – kommt unser
Predigttext nicht genauso daher?
„Verbraucht ist die Liebe“, konstatiert der Dichter, „Verbraucht ist
die Liebe, wie Äther, Staat und Kunst. Verbraucht, zerschlissen und
durchdacht, zutiefst verrückt. (…) Sieh nur: überlastet ist unsere
Liebe mit uns. Mit Zweien, die weiter auf Erden nichts wollen, als
sich. (…) Und Höhe der Unwissenheit: Denen an Unbedingtem eins nach
dem anderen ausging.“ (Botho Strauß, Diese Erinnerung an einen, der
nur einen Tag zu Gast war, Hanser, 1992, S.42)
Soviel zur Lage oder besser zur Tragödie der Liebe in unserer Zeit.
Und nicht nur in Ehen und Zweierbeziehungen wird sie sichtbar, wenn
vom großen Gefühl schließlich nur der erbitterte Krieg um jeden Cent
übrig bleibt. Ist das nicht auch der Krieg, der uns von allem
anderen noch übrig bleibt - vom sozialen Gedanken, von der Kultur in
Wirtschaft und Politik, vom Traum von einer besseren Zukunft und
einer besseren Welt? Ach, die Liebe, selbst nur im Sinne von
Mitmenschlichkeit; hat sie als letzte Gegenspielerin und Bezähmerin
des erbitterten Kriegs um jeden Cent nicht längst schon verloren?
Bei uns und bei allen, denen an Unbedingtem eins nach dem anderen
ausging?
Die Kabarettistin Luise Kinseher hat letzte Woche als Mama Bavaria
beim Politikerderblecken auf dem Nockherberg schon die richtige
Tonlage getroffen, als sie zum Thema Flüchtlinge sagte: „Es ist
schwer eine Obergrenze für Menschen zu finden, wenn das Leid keine
hat.“ „Ich erwarte als eure Mutter, die ich euch auch die
Mitmenschlichkeit und die Liebe mitgegeben habe, dass ihr’s nicht
verlernt, auf das Schicksal jedes einzelnen Menschen zu blicken,
damit er nicht in eurem unbarmherzigen Wald aus Polemik und
Statistik zugrunde geht.“ Da war für ein paar Momente echte
Betroffenheit und die ganz vorne saßen, wollten gar nicht
mitklatschen.
Der Philosoph Jürgen Habermas hat während eines internationalen
Symposions über Kants Religions- und Geschichtsphilosophie in der
Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien vorgetragen,
dass heute der Glaube an die Vernunft selbst in Frage steht. Er
registriert ein ringsum verkümmerndes normatives Bewusstsein. Das
Projekt der Moderne - die vernünftige Selbstbestimmung - sei durch
Entgleisung bedroht; durch die Vorherrschaft ökonomischer Imperative
und die naturalistische Selbstdeutung des Menschen. Habermas
empfiehlt dringend das Zwiegespräch der Philosophie mit der
Religion.
Und das empfiehlt unser heutiger Predigttext auch. Die Liebe, der an
Unbedingtem eins nach dem anderen ausging, kann sich nicht retten,
ohne das Zwiegespräch mit der Liebe, die ihr von Gott entgegenkommt.
Der verlorene Sohn, der im Schweinestall sitzt, besinnt sich auf den
Vater, der zuhause schon vor der Tür auf ihn wartet (Lk 15/11ff.).
Die Verse aus dem Epheserbrief malen uns den Christus vor Augen, der
das Verlorene liebevoll sucht bis in den eigenen Tod. Eine Liebe,
die keine Angst vor dem Tod hat, ist unbedingte Liebe. An sie sollen
wir uns nicht nur in der Passionszeit erinnern, weil die Liebe des
Christus uns niemals ausgehen kann. Wir könnten allenfalls verlorene
Söhne sein, die im Dreck sitzen bleiben.
Ein solcher Sohn wäre eine Karikatur - wie der Christ, der von der
unbedingten Liebe des Christus lebt, und keinen Gedanken daran
verschwendet, wie denn ein menschliches Leben im Sinne seines Herrn
aussehen würde, und der stattdessen lieber ein Unmensch bliebe. Ein
Christ, der lieber ein Unmensch in unmenschlichen Verhältnissen
bliebe, wäre eine Karikatur. Normal wäre, dass er sich als Gottes
geliebtes Kind an seinem Vater ein Beispiel nimmt. Normal wäre, dass
sich die Nachfolger Christi an ihrem Herrn ein Beispiel nehmen - ein
Beispiel der Menschlichkeit. Insofern ist das, was der Epheserbrief
fordert, nichts Besonderes, sondern das Selbstverständliche.
Freilich, wenn schon Philosophen vom Kaliber eines Habermas für die
Vernunft die weiße Flagge hissen, dann darf und muss auch das, was
sich eigentlich von selbst versteht, immer wieder in Erinnerung
gerufen werden. Nicht als Aufzählung der Dinge, mit denen eine
moralisierende Kirche ihre Machtansprüche über das Leben der
Gläubigen erhebt, sondern als Aufzählung der Dinge, die unser Leben
zur Hölle auf Erden machen. Wie konnte die Kirche immer wieder
übersehen, dass Unzucht und Habsucht Geschwister sind? Unzucht, die
den Menschen lieblos als Wegwerfware benutzt und die Habsucht, die
den Menschen lieblos als Wegwerfware benutzt. Unzucht ist alles, was
ohne Liebe geschieht. Die Sucht nach Geld und die Sucht nach Sex
sind gleichermaßen sinnfreie Steigerungen um ihrer selbst willen.
Sucht kommt nicht von Suche, sondern von siech, d.h. krank. Sucht
beschreibt Verhältnisse die unmenschlich sind, weil sie Menschen
zerstören, ihnen Herz und Seele rauben und sie schließlich
verschlingen. Sucht verlangt blinde Gefolgschaft - Götzendienst.
Sucht sagt TINA. There Is No Alternative! Es gibt keine Alternative!
Das ist die Botschaft aller schandbaren, närrischen und losen Reden.
Die werden darum nicht in der Faschingsbütt gehalten, sondern in
Parlamenten und Synoden, in Gemeinderäten und Kirchenvorständen;
nicht im Clownskostüm, sondern in Nadelstreifen. TINA hat immer die
gleiche Strategie: Sie malt ein Horrorszenario vor Augen und
prophezeit anhand von Statistiken und Prognosen den baldigen
Untergang, wenn nicht sofort getan wird, was sie fordert. TINA ist
gut fürs Geschäft und für den Krieg um jeden Cent. Und davon müssen
wir moral- und vernunftfrei immer mehr kriegen, damit es uns immer
besser geht. TINA sagt uns, wie gut es uns erst gehen wird, wenn wir
vom Guten nichts mehr wissen.
Die TINA-Ideologie ist der fundamentale Widerspruch zur Botschaft
der Bibel. Die weiß immer eine Alternative: Zur Finsternis zeigt sie
uns Licht. Zum Schweinestall den zuhause vor der Tür wartenden
Vater. Zum Weltuntergang das hereinbrechende Himmelreich. Zum Tod
den lebendigen Christus. Zur Gleichgültigkeit die Liebe Gottes. Zum
Geld die Geschenke Gottes. Zur Fahrt in den Abgrund die Umkehr zur
Heimkehr.
So lockt uns die heutige Botschaft vor allem zum Widerspruch gegen
all die TINA-Lehren, in denen wir uns im Großen und Kleinen, in
Gesellschaft, Wirtschaft und sogar in der Kirche eingerichtet haben.
Sie malt uns den Christus vor Augen, der das Verlorene liebevoll
sucht bis in den eigenen Tod. Wer sich diesem Christus zuwendet,
wird sich von all den Zeitgenossen abwenden, denen das Verlorene bei
uns und in der weiten Welt nicht einmal ein Achselzucken wert ist.
Wir müssen nicht auf allen Hochzeiten tanzen und über jeden Witz
lachen. Wir müssen unser Fähnchen nicht in jeden Wind hängen. Wir
können nicht jeden Dreck gebrauchen. Das ist Moral, wie sie biblisch
ist: Ausdruck von Freiheit. Denn wo der Geist des Herrn ist, da ist
Freiheit (2.Kor 3/17).
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
1 So folgt nun Gottes Beispiel als die
geliebten Kinder
2 und lebt in der Liebe, wie auch Christus uns geliebt hat und hat
sich selbst für uns gegeben als Gabe und Opfer, Gott zu einem
lieblichen Geruch.
3 Von Unzucht aber und jeder Art Unreinheit oder Habsucht soll bei
euch nicht einmal die Rede sein, wie es sich für die Heiligen
gehört.
4 Auch schandbare und närrische oder lose Reden stehen euch nicht
an, sondern vielmehr Danksagung.
5 Denn das sollt ihr wissen, dass kein Unzüchtiger oder Unreiner
oder Habsüchtiger – das sind Götzendiener – ein Erbteil hat im Reich
Christi und Gottes.
6 Lasst euch von niemandem verführen mit leeren Worten; denn um
dieser Dinge willen kommt der Zorn Gottes über die Kinder des
Ungehorsams.
7 Darum seid nicht ihre Mitgenossen.
8 Denn ihr wart früher Finsternis; nun aber seid ihr Licht in dem
Herrn.
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