Liebe Leser, in Antiochia muss es
zwischen Petrus und Paulus so richtig gekracht haben. Als Paulus den
Brief an die Gemeinden in Galatien schreibt, hat er längst bis 20
gezählt und viele Nächte darüber geschlafen. Und dennoch merkt man
seinen Zeilen die Schärfe noch an: „Als aber Kephas nach Antiochia
kam, widerstand ich ihm ins Angesicht, denn es war Grund zur Klage
gegen ihn. Denn bevor einige von Jakobus kamen, aß er mit den
Heiden; als sie aber kamen, zog er sich zurück und sonderte sich ab,
weil er die aus dem Judentum fürchtete. Und mit ihm heuchelten auch
die andern Juden, sodass selbst Barnabas verführt wurde, mit ihnen
zu heucheln. Als ich aber sah, dass sie nicht richtig handelten nach
der Wahrheit des Evangeliums, sprach ich zu Kephas öffentlich vor
allen: Wenn du, der du ein Jude bist, heidnisch lebst und nicht
jüdisch, warum zwingst du dann die Heiden, jüdisch zu leben?“
Kephas, Petrus, der Fels, auf den Christus seine Kirche baut,
erweist sich nicht zum ersten Mal als Feigling und Paulus muss ihm –
von ehemaligem Juden zu ehemaligem Juden wohlgemerkt - die Meinung
sagen. Der historische Streit, der letztendlich zugunsten des Paulus
entschieden wurde, entzündete sich an der Frage, ob Juden, die
Christen wurden, sich weiterhin an die Reinheitsgebote des Alten
Testaments halten müssten oder nicht. Nach diesen Reinheitsgeboten
hatte die Tischgemeinschaft mit Heiden zur Folge, dass man selbst
unrein wurde.
Das alles war für Petrus eigentlich kein Problem, hatte sein Herr
Jesus doch selbst mit Sündern und Zöllnern Tischgemeinschaft
gepflegt und ihnen das Reich Gottes gepredigt. Andere freilich sahen
das anders. Und als die Leute des Jakobus kamen, der in der ersten
Kirche als leiblicher Bruder Jesu nicht irgendwer war, und die Nase
rümpften, fiel Petrus um. Und nicht nur er. Wir haben es hier mit
einem klassischen Fall von Heuchelei zu tun, mit der man ein
negatives Urteil anderer vermeiden und sich die Anerkennung anderer
sichern will, um den Preis, die eigene Überzeugung hintanzustellen
und gehörig zu strapazieren. Im Deutschen gibt es dafür das Wort
„Arschkriecherei“.
Vor diesem Hintergrund entfaltet Paulus seine Gedanken, die uns
Lutheranern unter dem Stichwort „Rechtfertigungslehre“ bekannt sein
sollten: Wir werden vor Gott gerecht allein durch den Glauben an
Christus und nicht durch die Werke des Gesetzes. Ich habe keine
Predigtmeditation gefunden, in der der Prediger nicht davor gewarnt
wurde, das Wort Rechtfertigungslehre überhaupt in den Mund zu
nehmen. Das sei eine Lehre, mit der moderne Menschen überhaupt
nichts anfangen könnten, weil sie Antwort auf Probleme gäbe, die
heutige Menschen gar nicht mehr hätten. Ach wirklich?
Mag schon sein, dass heute niemand mehr wie Luther fragt: Wie
bekomme ich einen gnädigen Gott? Das hängt aber damit zusammen, dass
der moderne Mensch nicht mehr in den Himmel, sondern ins Fernsehen
und all die anderen Medien kommen möchte, die er für den Himmel
hält. Einmal in der Tagesschau erwähnt werden; einmal groß in der
Zeitung stehen; einmal so viel Facebookfans haben wie Heidi Klum;
einmal einen Nachruf im Spiegel kriegen – aber bitte nicht den
kleinen auf der vorletzten Seite, sondern eine Seite extra. Neulich
schrieb mir ein Kollege, ich sollte nicht meinen, er halte sich für
was Besseres, nur weil er über 1000 Follower bei Twitter und Co
hätte, die seine Beiträge interessant finden. Wie kommt er nur
drauf? Weil sich die Identität eines Menschen, die Frage, ob ein
Mensch recht, richtig, wertvoll – kurz gerechtfertigt – ist, heute
in ungekanntem Ausmaß daran entscheidet, welche mediale
Aufmerksamkeit er erlangt und welche Spuren er dort hinterlässt! Und
natürlich wird da auch gelogen, geschönt, geschleimt und gekrochen
für möglichst viele „Gefällt mir“- Angaben. Umgekehrt gibt es
mittlerweile Beispiel genug, wie schnell und gnadenlos
Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens medial auf den Müll
befördert werden können – als Mensch wohlgemerkt.
In den letzten Jahren ist auch in der Kirche die mediale Präsenz
zunehmend zum Qualitätsmerkmal, sprich zur Rechtfertigung
kirchlicher Arbeit geworden. Was gut ankommt und Aufmerksamkeit
weckt, ist eben einfach gut, auch in der Kirche. Kirche muss sich
wieder an den Bedürfnissen der Menschen orientieren. Sie muss den
Menschen wieder zuhören, um herauszufinden, was sie wollen.
Wohlgemerkt, auch Paulus wollte den Juden ein Jude sein, den
Schwachen ein Schwacher. „Ich bin allen alles geworden“, schreibt er
im 1. Korintherbrief (9,19 ff.). Aber er tut das nicht für die
„Gefällt mir“- Angabe, nicht, um den Beifall möglichst vieler zu
erhalten. Er macht sich mit niemand gemein im Modus der
Arschkriecherei. Er sucht den Anknüpfungspunkt, um Menschen für das
Evangelium zu gewinnen. Deshalb widersteht er einem Petrus in diesem
Punkt ins Angesicht. Denn hier gilt: Eine Kirche, die sich den
fremden Konventionen und den Rechtfertigungszusammenhängen der sie
umgebenden Welt ergibt, um den Beifall, die Anerkennung und die
Aufmerksamkeit möglichst vieler zu erhalten – eine solche Kirche
hört auf, Kirche Jesu Christi zu sein!
Deshalb dürfen wir mit Paulus den Artikel nicht vergessen, mit dem
die Kirche steht und fällt. Wir dürfen mit Paulus nicht vergessen,
dass unsere Identität und Rechtfertigung darin besteht, dass jeder
einzelne von uns in die Geschichte des Christus eingeschrieben ist.
Deshalb gilt: „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt
in mir. Denn was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben
an den Sohn Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich
dahingegeben.“ Weitere „Gefällt mir“- Angaben sind entbehrlich.
Und da sind wir genau an dem Punkt, wo sich das, was theologisch so
sperrig „Rechtfertigungslehre“ heißt, auch heute praktisch bewährt
und in die Freiheit führt. Wenn der Sohn Gottes mich geliebt und
sich selbst für mich dahingegeben hat – was bleibt dann noch übrig
von dem Rattenrennen um die eigene Wichtigkeit und Richtigkeit? Wem
muss ich denn dann noch etwas beweisen und welchen Shitstorm und
welche üble Nachrede soll mir denn dann noch Angst machen? Im
Glauben werden wir durch Christus den Begründungs- und
Rechtfertigungszusammenhängen unserer Welt entnommen und ins
Himmelreich gepflanzt. Dass diese Botschaft auf Widerstand stößt,
liegt auf der Hand. Sie ist zu allen Zeiten eine Beleidigung des
selbstbewussten Ich, das so gerne autonom sein eigener Schöpfer und
Erhalter sein will und sie ist eine Gefahr für alle Mächte und
Menschen, die uns in den Griff bekommen wollen. Sie ist gleichzeitig
Grundlage der Kritik an Kirchenreformen, die den einzelnen Christen
und die Kirchengemeinden unter Erfolgsdruck, Effizienzdruck und
andere Rechtfertigungszusammenhänge unserer trostlosen alten Welt
setzen wollen.
Wir haben offenbar ein paar einfache Wahrheiten vergessen: Wir
bringen uns nicht selbst zur Welt. Wir erhalten uns nicht selbst am
Leben. Wir lernen fast alles, was wir können müssen von anderen. Was
wir denken, knüpft fast immer an Gedanken an, die andere vor uns
gedacht haben. Es gehört zur Grundstruktur der Welt, das alles mit
allem verknüpft ist und nichts ohne das andere leben kann. „Ich
lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir.“ In der Tat:
Paulus empfindet es mit vielen Mystikern, wie Meister Eckhart, als
ausgesprochene Wohltat, wenn das eigene Ich in Christus irgendwann
ganz verschwindet. Das führt nicht zum Rückzug aus der Welt und der
kirchlichen Arbeit, aber wie viele Egotrips blieben dann auch der
Gemeinde erspart!
Für die Arbeit der Gemeinde bedeutet das: „Nicht wir, unsere
Synoden, Bischöfe, Projektgruppen, Fachabteilungen sind es, die die
Kirche ‚entwickeln‘, ‚bauen‘, in die Zukunft führen können. Der Sohn
Gottes ist es, der seine Kirche ‚versammelt, schützt und erhält‘.
Unser Tun ist an anderer Stelle gefordert. Wie der Sämann in den
Gleichnissen Jesu sollen wir das Wort aussäen. Für das Wachsen und
Gedeihen ist dagegen ein anderer zuständig. Dies zu wissen und zu
glauben, ist eine große Entlastung für alle, die ‚im Weinberg des
Herrn‘ tätig sind.“ (Gisela Kittel, Das Kirchenverständnis der
Reformatoren, gegründet in den Zeugnissen des Neuen Testaments,
Korrespondenzblatt Nr. 6/2018, S. 144)
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
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Die Predigt zum Hören
Text:
Paulus schreibt:
16 Doch weil wir
wissen, dass der Mensch durch Werke des Gesetzes nicht gerecht wird,
sondern durch den Glauben an Jesus Christus, sind auch wir zum
Glauben an Christus Jesus gekommen, damit wir gerecht werden durch
den Glauben an Christus und nicht durch Werke des Gesetzes; denn
durch Werke des Gesetzes wird kein Mensch gerecht.
17 Sollten wir aber, die wir durch Christus gerecht zu werden
suchen, auch selbst als Sünder befunden werden – ist dann Christus
ein Diener der Sünde? Das sei ferne!
18 Denn wenn ich das, was ich abgebrochen habe, wieder aufbaue, dann
mache ich mich selbst zu einem Übertreter.
19 Denn ich bin durchs Gesetz dem Gesetz gestorben, damit ich Gott
lebe. Ich bin mit Christus gekreuzigt.
20 Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir. Denn
was ich jetzt lebe im Fleisch, das lebe ich im Glauben an den Sohn
Gottes, der mich geliebt hat und sich selbst für mich dahingegeben.
21 Ich werfe nicht weg die Gnade Gottes; denn wenn die Gerechtigkeit
durch das Gesetz kommt, so ist Christus vergeblich gestorben.
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