Liebe Leser,
„O du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit“ - so haben wir es gestern gesungen.
Und singen es auch heute! Freilich - heute ist Gelegenheit, noch
einmal genauer hinzuschauen, was wir da eigentlich singen und
feiern. Gestern haben wir mit unseren Kindern die
Weihnachtsgeschichte des Lukas gehört, sie vielleicht mit einem
Krippenspiel vor Augen geführt bekommen: Wie die hochschwangere
Maria und ihr Josef nach Bethlehem ziehen, von Herberge zu Herberge,
schließlich in einem Stall landen. Wir alle kennen die Geschichte
vom Stern über Bethlehem, den Hirten, den Weisen. Heute hören wir
die Weihnachtsgeschichte des Apostel Paulus - geschrieben für
Erwachsene:
Text (siehe rechts)
„Als aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn.“ Ein
einziger kurzer Satz! Keine Geschichte mit Stall und Ochs und Esel.
Nicht einmal Maria wird namentlich erwähnt: „geboren von einer
Frau“. Ein einziger kurzer Satz, mit dem der Apostel das Wunder der
Heiligen Nacht beschreibt: Gott wird Mensch! Der allmächtige,
unsichtbare, transzendente Gott, von dem die Heilige Schrift sagt,
dass er sei von Ewigkeit zu Ewigkeit ehe denn die Erde und die Welt
geschaffen wurden, geht ein in die Bedingungen von Raum und Zeit,
wird sichtbar und greifbar in einem Menschen, ohnmächtig und
sterblich wie jedes Menschenkind. „Als aber die Zeit erfüllt war“ -
Die Menschwerdung Gottes ist für den Apostel das zeitenwendende
Ereignis schlechthin. Das haben auch die späteren Generationen von
Christen so gesehen, als sie unsere Weltzeit in eine Zeit vor und
nach Christus einteilten.
Im griechischen Urtext meint „erfüllt“ zweierlei: Einmal „erfüllt“
im Sinne von „vollkommen“. So wie wir ja gerne auch von „erfüllter
Zeit“ reden und damit wunderschöne und unvergessliche Erfahrungen
meinen. Zum anderen meint „erfüllt“ aber auch das Ziel; das, was am
Ende steht. „Als aber die Zeit erfüllt war“ - Das ist das Wunder der
Weihnacht: Dass Gottes Vollkommenheit, seine Herrlichkeit, eingeht
in unsere Zeit - und diese grundstürzend als dem Wortsinne nach
einerseits als vor-läufig gekennzeichnet wird, andererseits aber
auch als würdig! Nämlich würdig der Herrlichkeit Gottes! Das ist das
Wunder der Weihnacht, dass im Hier und Jetzt unserer irdischen
Wirklichkeit sichtbar wird, was das Ziel und was am Ende aller Zeit
sein wird: Gott im Menschen und der Mensch in Gott, in und durch
seinen Sohn, Jesus Christus.
„Unter das Gesetz getan.“ Mit wenigen aber präzisen Worten hält
Paulus fest: Der Sohn Gottes war nicht nur beschnittener Jude, wie
es das mosaische Gesetz verlangt. Er war auch in dem Sinne „unter
das Gesetz getan“, dass er „jenseits von Eden“ wirkte, an unserem
Ort, wo die Frauen mit Schmerzen gebären und die Männer im Schweiße
ihres Angesichts sich abmühen, wo Neid und Missgunst regieren und
ein Bruder den anderen erschlägt, wo wir alle unter die Hand der
Mächtigen geworfen sind und diese ihre Völker bevorzugt zum
Selbstruhm missbrauchen und sich Türme bis zum Himmel bauen. Kurz
gesagt: wo die Macht der Sünde regiert und das Gesetz des Stärkeren
gilt, das Gesetz des Todes und der Vergänglichkeit.
„Damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste.“ Jeder
Zeitgenosse des Paulus hörte bei dem Wort „erlösen“ die Bestimmungen
des Schuldrechts heraus, die im Römischen Reich galten. Es gab da
genaue Bestimmungen über den Loskauf von zahlungsunfähigen
Schuldnern, die in Schuldhaft geraten waren bzw. gleich zu Sklaven
wurden. Sie konnten nur freikommen, wenn jemand dem Gläubiger die
Schuldsumme, den Loskaufpreis, erstattete. Paulus weiß, wie hoch der
Preis war, den der Gottessohn für den Loskauf von uns zahlte: Er
zahlte mit seinem Leben!
Wie kein anderer vor ihm hat der Apostel die Bedeutung des
Kreuzestodes Jesu bedacht: Weil wir Menschen allesamt in Schuldhaft
geraten sind, weil wir Gott das entscheidende schuldig geblieben
sind: Die urgewaltige Liebe, die die letzten Tiefen der Seele
ergreift und alle Kräfte zusammenfasst. Weil wir allesamt und ohne
Ausnahme am ersten und vornehmsten Gebot gescheitert sind, ist über
uns allen die Gefangenschaft verhängt, sind wir unfrei und Sklaven
des Bösen. Davon hat der Gottessohn uns mit seinem Leben und seiner
Lebensopferung losgekauft. Dessen vergewissern wir uns bei jedem
Abendmahl.
„Damit wir die Kindschaft empfingen.“ Auch hier hörte jeder
Zeitgenosse des Paulus sofort römisches Adoptionsrecht heraus. Die
„Kindschaft empfangen“ heißt jemanden adoptieren. Und ein
adoptiertes Kind erhielt damals automatisch die gleichen Rechte wie
die anderen Kinder der Familie. So wie durch den Loskauf ein Sklave
zum freien Mann wird, so wird durch den Empfang der Kindschaft ein
Außenseiter in den Kreis der engsten Familie aufgenommen - mit allen
Rechten und Privilegien.
„Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt
in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater!“ - „Ihr seid
Kinder Gottes!“ ruft uns der Apostel zu. Begreifen wir das?
Ergreifen wir das? Dass Sie und Sie und ich auch, dass wir Kinder
Gottes sind seit jener Heiligen Nacht, seitdem ein jeder und jede
von uns bei der Taufe mit dem Zeichen des Gekreuzigten auf der Stirn
gesalbt und versiegelt wurde. In der Menschwerdung Gottes in Jesus
Christus hat Gott uns zu seinen Kindern adoptiert, hat er uns
freigekauft vom Gesetz des Todes und der Vergänglichkeit,
freigekauft auch von der Macht des Bösen. Um uns diese
zeitenwendende, frei und froh machende Botschaft mitzuteilen, sendet
Gott den Geist seines Sohnes in unsere Herzen. Und der ruft uns
immer wieder zu: Lasst euch versöhnen mit Gott! Lasst euch in allen
Dingen und Angelegenheiten dieser Welt trösten und ermutigen mit der
Herrlichkeit des Gottessohnes - die eure ist! Hier freilich noch im
Glauben, dort dereinst im vollkommenen Schauen.
„Zur Freiheit hat Christus euch befreit“ sagt Paulus an anderer
Stelle. Zur Freiheit der Kinder Gottes gegenüber allen weltlichen
Dingen und allen weltlichen Mächten. Sie sind vorläufig! Sie haben
nicht das letzte Wort. Das letzte Wort spricht Gott, ja, er hat es
schon gesprochen! Und es ist das heilmachende Wort des liebenden
Vaters. Das flüstert uns der Geist seines Sohnes immer wieder in
unsere Herzen, nicht nur an Weihnachten. In Christus hat Gott uns zu
einer Freiheit befreit, die den Menschen wirklich groß macht! Eine
Freiheit, die fähig ist zu lieben, wo man sich hasst, zu verzeihen,
wo man sich beleidigt, die Wahrheit zu sagen, wo Irrtum herrscht,
Hoffnung zu wecken, wo Verzweiflung quält, Glauben zu bringen, wo
Zweifel drückt, Freude zu bringen, wo Kummer wohnt, oder um es in
der Sprache von Weihnachten zu sagen: ein Licht anzuzünden, wo
Finsternis regiert.
Christus, der Sohn, von einer Frau geboren, hat uns zu einer
Freiheit befreit, die Menschen groß macht, nicht klein. Es ist eine
Freiheit, die uns nicht schrumpfen lässt, sondern aufrichtet. Es ist
eine Freiheit, die nicht unsicher macht, sondern selbstbewusst. Es
ist eine Freiheit, die uns den Mut gibt, uns unserer Verletzlichkeit
zu stellen, eine Freiheit, die die Angst überwindet und das Licht
von Weihnachten immer wieder erstrahlen lässt. Es ist die Freiheit
der Kinder Gottes.
Einer aus dieser großen Familie, dessen Lebenswerk wir in diesen
Tagen geehrt haben, soll an dieser Stelle noch einmal zu Wort kommen
- einfach um uns Mut zu machen, auch selbst von dieser geschenkten
Freiheit Gebrauch zu machen, an unserem Ort, zu unserer Zeit. Die
Worte stammen von Nelson Mandela, einem gläubigen Methodisten, der
sein ganzes Leben dem Kampf für die Freiheit widmete. Er glaubte an
die große Familie Gottes, an die Gemeinschaft von Schwarzen und
Weißen, an die Überwindung von Rassenhass und sozialer
Ungerechtigkeit, an die Kraft von Versöhnung und Freiheit. „Madiba“,
wie er in Südafrika liebevoll genannt wird, hatte auch nach 27
Jahren Haft noch den Mut und die Kraft an die Versöhnung zu glauben.
Er träumte von einer Regenbogennation, in der alle Ethnien als
Kinder Gottes miteinander leben. Ich zitiere abschließend aus einer
seiner Reden:
„Du bist ein Kind Gottes. Wenn du dich klein machst, dient das der
Welt nicht. Es hat nichts mit Erleuchtung zu tun, wenn du
schrumpfst, damit andere um dich herum sich nicht verunsichert
fühlen. Wir wurden geboren, um die Herrlichkeit Gottes zu
verwirklichen, die in uns ist. Sie ist nicht nur in einigen von uns,
sie ist in jedem Menschen. Und wenn wir unser eigenes Licht
erstrahlen lassen, geben wir unbewusst anderen Menschen die
Erlaubnis, dasselbe zu tun. Wenn wir uns von unserer eigenen Angst
befreit haben, wird unsere Gegenwart ohne unser Zutun andere
befreien.“ Darauf sagen wir: Amen!
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche
Hof)
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Text:
Paulus schreibt:
4 Als aber die Zeit erfüllt war, sandte
Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan,
5 damit er die, die unter dem Gesetz waren, erlöste, damit wir die
Kindschaft empfingen.
6 Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt
in unsre Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater!
7 So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind; wenn aber Kind,
dann auch Erbe durch Gott.
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