Predigt     Hebräer 4/12-13     Sexagesimae     31.01.16

"Das 11. Gebot"
(von Pfarrer Johannes Taig, Hospitalkirche Hof)
 

Liebe Leser,

kennen Sie das 11. Gebot? Es heißt: Du sollst Dich nicht erwischen lassen. Nein, so richtig können wir nicht mehr darüber lachen, nicht nur im Hinblick auf aktuelle Skandale nicht nur bei VW, nicht nur im Hinblick auf den allgemeinen Werteverfall und postmoderne Beliebigkeit. Wem kam es nicht schon einmal so vor, dass der Aufstand der Anständigen im Grunde immer nur der scheinheilig erhobene Zeigefinger derer ist, die noch nicht erwischt wurden?

Ist es nicht bedrückend, wenn viele Menschen den Eindruck haben, dass niemand mehr die Wahrheit sagt, nicht einmal mehr die halbe? Dass alles und alle Interessen und Zwecken dienen müssen, die man gar nicht mehr durchschaut? Dass unsere Welt so kompliziert geworden ist, dass wir sie immer weniger begreifen? Die archimedischen Punkte sind verschwunden in einem Meer des gleich Gültigen, des Gleichgültigen eben. Die Welt - ein Brei.

Wundert es, dass die Rufe nach mehr Wertevermittlung z.B. in der Schule, als recht hilflose Propaganda erscheinen? Längst setzt der Staat nicht mehr auf den inneren Durchblick seiner Bürger, sondern auf den Durchblick seiner Überwachungskameras. Der „Big Brother“ will das Chaos lichten, indem er seine Bürger durchsichtig macht. Auf Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen mag das angebracht sein, aber nicht in den eigenen vier Wänden. Es lebe der allgemeine Verdacht und das jüngste Gerücht. Irgendwann erwischt es jeden.

Die Verse aus dem Hebräerbrief könnten nun den falschen Eindruck erwecken, dass es sich bei Gott auch um einen „Big Father“ handelt. Früher war es ja noch verbreitet, dass hilflose Eltern angesichts ihrer ungezogenen Sprösslinge den „Big Father“ zur Hilfe nahmen und den baffen Kindern erklärten, dass Gott alles sehe, was die Eltern nicht sehen. So wurde der liebe Gott ungefragt zum unbezahlten Kindermädchen gemacht. Das hat Gott nicht gefallen, liebe Eltern, wie es Gott überhaupt nicht gefällt, wenn wir etwas aus ihm machen, im Guten wie im Bösen. Denn das Wort Gottes ist schärfer als jedes zweischneidige Schwert und wer es in eigener Sache in die Hand nehmen will, schneidet sich zuerst die eigenen Finger ab.

Deshalb sollte man vom Wort Gottes im wahrsten Sinn des Wortes die Finger lassen. Denn in ihm steckt die ganze Kraft des Schöpfers. Der scheidet durch sein Wort Chaos und Ordnung, Licht und Finsternis, Nacht und Tag, Wasser und Land, Himmel und Erde. Das Wort Gottes ist ein Richter, ein „Kritikos“, ein Unterscheider von schöpferischer Urgewalt. Es macht, was es sagt. Es ruft ins Dasein und ins Leben.

Daran sollten wir denken, wenn wir vom Gericht Gottes reden und es nicht mit unserem Richten verwechseln. Unser Richten hat immer das Element der Trostlosigkeit. Es kommt zu spät. Es kann wenig wieder gut machen. Am Ende steht im schlimmsten Fall die Hinrichtung. Wir richten, indem wir mehr oder weniger vom Leben nehmen. Gottes Gericht will es wieder heilen und geben. Wir richten hin. Gott richtet her. Sein Gericht ist Dienst an der Welt zugunsten des Lebens.

Es ist Gottes Dienst, nicht unserer. Wir kommen als Handelnde gar nicht in den Blick. Erst ganz am Schluss und darüber wollen wir auch am Schluss der Predigt erst sprechen. Wenn Gott handelt, kommen wir - Gott sei Dank - erst zum Schluss. Es ist zuerst das Wort Gottes, das vom Himmel herunterfährt in die Welt und hinein in Mark und Bein, in die Gedanken und Sinne des Herzens, in Bereiche unserer selbst also, von denen wir oft herzlich wenig wissen. Es ist ja nicht nur die Welt, die undurchschaubar erscheint. Wer durchschaut schon sich selbst und sein Leben? Hier hinein fährt das Wort Gottes wie ein Licht ins Dunkel. Tiefer und tiefer, bis es auch den letzten Winkel erhellt.

… und das Verlorene und Bedrohte findet: Die Krankheit zum Tode, die Herzen aus Stein, die um ihr Leben gebrachten und geprellten. Hier unterscheidet und trennt Gott, was nicht zusammengehört: Tod und Leben, Täter und Tat, Opfer und Unrecht. Damit nicht in Ewigkeit die Tat des Täters und das Unrecht über die Opfer Recht behält. Wie trostlos wäre unsere Welt ohne diesen letzten und tiefsten Durchblick und Durchgriff Gottes?

Denn kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes. Gott sei Dank! Der König David singt es im 139. Psalm: „Herr, du erforschst mich und kennst mich. Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge, das du, Herr, nicht schon wüsstest. Von allen Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand über mir.“ Wir könnten den ganzen Psalm als Auslegung unseres Predigttextes lesen und mit Hilfe des Alten Testaments sein Evangelium finden.

Oder ihn gleich vor dem Hintergrund des Evangeliums betrachten. Das bezeugt den Christus ja als fleischgewordenes Wort Gottes. Lebendig im wahrsten Sinn des Wortes und auf das Leben aus: Ich sehe die Steine in den Sand fallen im Johannesevangelium, Kapitel 7 (V 53ff.) und die Hinrichter nachdenklich weggehen. Jesus hilft der Ehebrecherin aus dem Staub und schickt sie in ein neues Leben. Kräftig greift der Christus durch und vertreibt die Geldknechte aus dem Tempel. (Markus 11/15ff.). „Kritikos“ ist der Christus, der den Zöllner Zachäus auf den rechten Weg bringt, den Zöllner Matthäus und den Fischer Petrus dazu bringt, alles liegen und stehen zu lassen. Eindrücklich und unvergesslich sind die Tränen, die der Christus über die Stadt Jerusalem weint, statt sie mit Pech und Schwefel zu beregnen (Lukas 19/41ff.). Tränen sind die Kritik der Liebe. Und das ist der Christus in der Tat: Ein „Kritikos“ aus Liebe.

Ein solcher „Kritikos“ kann uns nicht kalt lassen. Und deshalb müsste das 11. Gebot richtig heißen: Du sollst Dich von Gott und seinem Wort erwischen lassen. Es ist ja schon gesprochen. Es ist dir schon zuvorgekommen. Es ist schöpferisches Wort. Es ist auf das Leben und auf dein Leben aus. Es macht, was es sagt. Und drum kann alles, was uns als Angesprochene zu tun bleibt, nur Antwort sein.

Das Wort Gottes, das Licht und Finsternis unterscheidet, wie am ersten Schöpfungstag, lässt uns nicht in einer Welt, in der alles gleich gültig und beliebig ist. Es klärt uns auf über uns und unsere Welt im Licht des Evangeliums. Es sagt uns, was wir wissen und hoffen können und was wir tun sollen. Was uns bleibt ist Antwort - Verantwortung.

Nein, wir können nicht verschweigen, dass es Wahrheit gibt und Lüge. Und beides keine Angelegenheit von Mehrheiten ist. Wir sind nicht beeindruckt von den Heiligenscheinen der Scheinheiligen und von der Allmacht des Geldes. Wir können nicht anders, als für Gerechtigkeit einzutreten und für die Würde des Lebens in allen seinen Stadien. Wir wehren uns gegen die Verzweckung des Lebens und gegen den gläsernen Bürger. Der gehört nicht dem Staat, sondern Gott. Und er wird nicht gebildet durch Angst vor dem Erwischtwerden, sondern durch sein Vertrauen auf und durch seine Verantwortung vor Gott. Der allein darf hineinschauen in Mark und Bein, in die Gedanken und Sinne des Herzens. Und er tut’s - uns zugute.

Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter www.kanzelgruss.de)

Text:

12 Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
13 Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben müssen.


 

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