Liebe Leser,
kennen Sie das 11. Gebot? Es heißt: Du sollst
Dich nicht erwischen lassen. Nein, so richtig können wir nicht mehr
darüber lachen, nicht nur im Hinblick auf aktuelle Skandale nicht
nur bei VW, nicht nur im Hinblick auf den allgemeinen Werteverfall
und postmoderne Beliebigkeit. Wem kam es nicht schon einmal so vor,
dass der Aufstand der Anständigen im Grunde immer nur der
scheinheilig erhobene Zeigefinger derer ist, die noch nicht erwischt
wurden?
Ist es nicht bedrückend, wenn viele Menschen den Eindruck haben,
dass niemand mehr die Wahrheit sagt, nicht einmal mehr die halbe?
Dass alles und alle Interessen und Zwecken dienen müssen, die man
gar nicht mehr durchschaut? Dass unsere Welt so kompliziert geworden
ist, dass wir sie immer weniger begreifen? Die archimedischen Punkte
sind verschwunden in einem Meer des gleich Gültigen, des
Gleichgültigen eben. Die Welt - ein Brei.
Wundert es, dass die Rufe nach mehr Wertevermittlung z.B. in der
Schule, als recht hilflose Propaganda erscheinen? Längst setzt der
Staat nicht mehr auf den inneren Durchblick seiner Bürger, sondern
auf den Durchblick seiner Überwachungskameras. Der „Big Brother“
will das Chaos lichten, indem er seine Bürger durchsichtig macht.
Auf Bahnhöfen und öffentlichen Plätzen mag das angebracht sein, aber
nicht in den eigenen vier Wänden. Es lebe der allgemeine Verdacht
und das jüngste Gerücht. Irgendwann erwischt es jeden.
Die Verse aus dem Hebräerbrief könnten nun den falschen Eindruck
erwecken, dass es sich bei Gott auch um einen „Big Father“ handelt.
Früher war es ja noch verbreitet, dass hilflose Eltern angesichts
ihrer ungezogenen Sprösslinge den „Big Father“ zur Hilfe nahmen und
den baffen Kindern erklärten, dass Gott alles sehe, was die Eltern
nicht sehen. So wurde der liebe Gott ungefragt zum unbezahlten
Kindermädchen gemacht. Das hat Gott nicht gefallen, liebe Eltern,
wie es Gott überhaupt nicht gefällt, wenn wir etwas aus ihm machen,
im Guten wie im Bösen. Denn das Wort Gottes ist schärfer als jedes
zweischneidige Schwert und wer es in eigener Sache in die Hand
nehmen will, schneidet sich zuerst die eigenen Finger ab.
Deshalb sollte man vom Wort Gottes im wahrsten Sinn des Wortes die
Finger lassen. Denn in ihm steckt die ganze Kraft des Schöpfers. Der
scheidet durch sein Wort Chaos und Ordnung, Licht und Finsternis,
Nacht und Tag, Wasser und Land, Himmel und Erde. Das Wort Gottes ist
ein Richter, ein „Kritikos“, ein Unterscheider von schöpferischer
Urgewalt. Es macht, was es sagt. Es ruft ins Dasein und ins Leben.
Daran sollten wir denken, wenn wir vom Gericht Gottes reden und es
nicht mit unserem Richten verwechseln. Unser Richten hat immer das
Element der Trostlosigkeit. Es kommt zu spät. Es kann wenig wieder
gut machen. Am Ende steht im schlimmsten Fall die Hinrichtung. Wir
richten, indem wir mehr oder weniger vom Leben nehmen. Gottes
Gericht will es wieder heilen und geben. Wir richten hin. Gott
richtet her. Sein Gericht ist Dienst an der Welt zugunsten des
Lebens.
Es ist Gottes Dienst, nicht unserer. Wir kommen als Handelnde gar
nicht in den Blick. Erst ganz am Schluss und darüber wollen wir auch
am Schluss der Predigt erst sprechen. Wenn Gott handelt, kommen wir
- Gott sei Dank - erst zum Schluss. Es ist zuerst das Wort Gottes,
das vom Himmel herunterfährt in die Welt und hinein in Mark und
Bein, in die Gedanken und Sinne des Herzens, in Bereiche unserer
selbst also, von denen wir oft herzlich wenig wissen. Es ist ja
nicht nur die Welt, die undurchschaubar erscheint. Wer durchschaut
schon sich selbst und sein Leben? Hier hinein fährt das Wort Gottes
wie ein Licht ins Dunkel. Tiefer und tiefer, bis es auch den letzten
Winkel erhellt.
… und das Verlorene und Bedrohte findet: Die Krankheit zum Tode, die
Herzen aus Stein, die um ihr Leben gebrachten und geprellten. Hier
unterscheidet und trennt Gott, was nicht zusammengehört: Tod und
Leben, Täter und Tat, Opfer und Unrecht. Damit nicht in Ewigkeit die
Tat des Täters und das Unrecht über die Opfer Recht behält. Wie
trostlos wäre unsere Welt ohne diesen letzten und tiefsten
Durchblick und Durchgriff Gottes?
Denn kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles bloß
und aufgedeckt vor den Augen Gottes. Gott sei Dank! Der König David
singt es im 139. Psalm: „Herr, du erforschst mich und kennst mich.
Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es; du verstehst meine
Gedanken von ferne. Ich gehe oder liege, so bist du um mich und
siehst alle meine Wege. Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner
Zunge, das du, Herr, nicht schon wüsstest. Von allen Seiten umgibst
du mich und hältst deine Hand über mir.“ Wir könnten den ganzen
Psalm als Auslegung unseres Predigttextes lesen und mit Hilfe des
Alten Testaments sein Evangelium finden.
Oder ihn gleich vor dem Hintergrund des Evangeliums betrachten. Das
bezeugt den Christus ja als fleischgewordenes Wort Gottes. Lebendig
im wahrsten Sinn des Wortes und auf das Leben aus: Ich sehe die
Steine in den Sand fallen im Johannesevangelium, Kapitel 7 (V 53ff.)
und die Hinrichter nachdenklich weggehen. Jesus hilft der
Ehebrecherin aus dem Staub und schickt sie in ein neues Leben.
Kräftig greift der Christus durch und vertreibt die Geldknechte aus
dem Tempel. (Markus 11/15ff.). „Kritikos“ ist der Christus, der den
Zöllner Zachäus auf den rechten Weg bringt, den Zöllner Matthäus und
den Fischer Petrus dazu bringt, alles liegen und stehen zu lassen.
Eindrücklich und unvergesslich sind die Tränen, die der Christus
über die Stadt Jerusalem weint, statt sie mit Pech und Schwefel zu
beregnen (Lukas 19/41ff.). Tränen sind die Kritik der Liebe. Und das
ist der Christus in der Tat: Ein „Kritikos“ aus Liebe.
Ein solcher „Kritikos“ kann uns nicht kalt lassen. Und deshalb
müsste das 11. Gebot richtig heißen: Du sollst Dich von Gott und
seinem Wort erwischen lassen. Es ist ja schon gesprochen. Es ist dir
schon zuvorgekommen. Es ist schöpferisches Wort. Es ist auf das
Leben und auf dein Leben aus. Es macht, was es sagt. Und drum kann
alles, was uns als Angesprochene zu tun bleibt, nur Antwort sein.
Das Wort Gottes, das Licht und Finsternis unterscheidet, wie am
ersten Schöpfungstag, lässt uns nicht in einer Welt, in der alles
gleich gültig und beliebig ist. Es klärt uns auf über uns und unsere
Welt im Licht des Evangeliums. Es sagt uns, was wir wissen und
hoffen können und was wir tun sollen. Was uns bleibt ist Antwort -
Verantwortung.
Nein, wir können nicht verschweigen, dass es Wahrheit gibt und Lüge.
Und beides keine Angelegenheit von Mehrheiten ist. Wir sind nicht
beeindruckt von den Heiligenscheinen der Scheinheiligen und von der
Allmacht des Geldes. Wir können nicht anders, als für Gerechtigkeit
einzutreten und für die Würde des Lebens in allen seinen Stadien.
Wir wehren uns gegen die Verzweckung des Lebens und gegen den
gläsernen Bürger. Der gehört nicht dem Staat, sondern Gott. Und er
wird nicht gebildet durch Angst vor dem Erwischtwerden, sondern
durch sein Vertrauen auf und durch seine Verantwortung vor Gott. Der
allein darf hineinschauen in Mark und Bein, in die Gedanken und
Sinne des Herzens. Und er tut’s - uns zugute.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
12 Denn das Wort Gottes ist lebendig und
kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert, und dringt
durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist
ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens.
13 Und kein Geschöpf ist vor ihm verborgen, sondern es ist alles
bloß und aufgedeckt vor den Augen Gottes, dem wir Rechenschaft geben
müssen.
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