Liebe Leser,
bestimmt haben Sie es aus den Nachrichten
erfahren: Vor 1,3 Milliarden Jahren kollidierten irgendwo da draußen
zwei schwarze Löcher, schwarze Ungetüme von der vielfachen Masse
unserer Sonne, deren Schwerkraft so stark ist, das ihr nicht einmal
Licht entkommt. Deshalb kann man sie auch nicht sehen. Die dabei
frei werdenden Gravitationswellen breiteten sich mit
Lichtgeschwindigkeit aus, kamen also 1,3 Milliarden Jahre später an
unserer Erde vorbei und wurden im letzten September von
Wissenschaftlern gemessen. Dass es solche Wellen im Raum-Zeit-Gefüge
gibt, hatte Albert Einstein vorhergesagt. Jetzt ist bewiesen, dass
er wieder einmal recht hatte.
Die Menschheit jubelt über die Größe dieser Entdeckung und muss sich
doch durch solche Einsichten auch daran erinnern lassen, dass sie im
Rahmen des Universums fast nichts ist. Vor 1,3 Milliarden Jahren,
als das gemessene Ereignis stattfand, gab es auf unserer Erde noch
nichts, was Augen, Flossen oder Beine hatte. Im Ozean tummelten sich
die ersten einzelligen Lebewesen. Der Mensch besteht aus vielen
Milliarden lebendiger Zellen. Nehmen wir an, die 4,6 Milliarden
Jahre seit der Entstehung unserer Erde wären ein Jahr, dann tauchen
wir Menschen in den Abendstunden des 31. Dezembers auf. Drei
Sekunden vor Ablauf des Jahres entdeckt Kolumbus Amerika. Sparen wir
uns die Berechnung, wie winzig der Bruchteil einer Sekunde im Rahmen
dieser Geschichte ist, die ein ganzes Menschenleben dauert! Keine
Sekunde hat es jedenfalls gedauert, als der Mensch durch
explosionsartige Vermehrung und Industrialisierung begann, die Erde
in riskanter Weise so zu verändern, dass seine eigenen
Lebensgrundlagen bedroht sind. So weitermachen hieße, dafür zu
sorgen, dass die Episode „Mensch“ im Rahmen der weiteren
Erdgeschichte im Rückblick nicht mehr war als ein
Silvesterfeuerwerk.
„Zwei Dinge sind unendlich, das Universum und die menschliche
Dummheit, aber beim Universum bin ich mir noch nicht ganz sicher.“
Auch das hat Albert Einstein gesagt. Was die menschliche Dummheit
betrifft, muss gar nichts mehr bewiesen werden. Es genügt ein Blick
in die Geschichte oder ein Blick in die Meldungen des Tages. Was da
zu aktuellen Fragen z.B. der Flüchtlingspolitik in den sozialen
Netzwerken geschrieben wird, beweist nicht nur Einsteins
Einschätzung, sondern legt nahe, dass es wirklich sehr viele
Menschen gibt, die auch noch meinen, ein Menschenrecht auf ihre
eigene Dummheit zu haben. Immer da, wo pauschalisiert statt
differenziert wird, einfache Lösungen für komplizierte Probleme
gefordert werden, Fakten und Argumente nichts mehr gelten und sich
gegen dumpfe Gefühle nicht mehr durchsetzen, hat jede Form der
Dummheit ihren idealen Nährboden gefunden. Oder sagen wir es wie
Kurt Tucholsky vor hundert Jahren: „Unterschätze nie die Macht
dummer Leute, die einer Meinung sind.“ Beten wir, was das Zeug hält,
dass sich böse Geschichte nicht wiederholt.
Wir brauchen immer wieder einmal den Blick aus der Ferne auf unser
kleines Dasein im gewaltigen Universum und in unserem kleinen Kopf,
um wenigstens ansatzweise zu ermessen, was die Worte aus dem
Hebräerbrief uns anbieten. Behaupten sie doch, dass wir in jeder
Hinsicht Kleinen einen großen Hohenpriester haben, der Jesus
Christus heißt, die Himmel durchschritten hat, uns den Weg zu Gott
führt und uns ermuntert, diesen Weg einfach und ohne falsche Scheu
zu gehen.
Der Theologe Karl Barth in seiner Predigt zum Text: „Zu Christus
dürfen, zu Christus sollen wir kommen wie wir sind, wie wir wirklich
sind. Wir sind aber wirklich nicht die kleinen Götter, (...) als die wir uns manchmal so erfolgreich zu geben
wissen, so erfolgreich, dass wir schon selber ein wenig daran
glauben. Unsere Wirklichkeit ist unsere Schwachheit und unsere Versuchlichkeit, unsere ganze heillose Bedrohtheit jetzt durch
Hochmut, jetzt durch Schwermut, jetzt durch weiche Eitelkeit, jetzt
durch harte Lieblosigkeit, jetzt durch törichte Gedankenlosigkeit,
jetzt durch unnütze Grübelei, jetzt durch Verzweiflung an Gott,
jetzt durch bösen Trotz gegen seinen wohlerkannten Willen. Das ist
der Mensch, das sind wir, das Wesen, das nach allen Seiten gerade
nicht sicher ist. Oder wer dürfte aufstehen und von sich etwas
Anderes behaupten? (...) Mit uns als denen, die wir sind, hat er
Mitleiden. Uns, wie wir sind, hat er sich gleich gestellt und ist er
nahe. Uns, wie wir sind, sagt er sein großes Wort: Ich für Dich!
Deine Sünde soll mein und wiederum meine Gottesgnade soll dein sein!
Wie sollte das nicht Evangelium, frohe Botschaft sein, dass wir
einen solchen Hohenpriester haben, der die Sünder annimmt (...)
Lasset uns halten an dem Bekenntnis! Lasset uns hintreten mit
Freudigkeit! Den Anfang von oben als gemacht anerkennen, das heißt
bekennen, das heißt hinzutreten.“ (Die große Barmherzigkeit,
Predigten von K. Barth und E. Thurneysen, München, 1935, S 235 f.)
Zitat Ende.
Damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit,
wenn wir Hilfe nötig haben. Wer wollte bestreiten, dass wir in
Zeiten leben, in denen wir Hilfe nötig haben. Wer sich in den
vergangenen Jahrzehnten in unserem Land auf der reichen Insel der
Seligen wähnte, während scheinbar weit weg für Millionen die Welt
unter und die Heimat verloren ging, der erwacht unsanft aus seinen
Träumen – und muss zugeben, dass es sehr dumm war, so lange zu
träumen, weil wir längst schon in EINER Welt leben, in der alles,
was irgendwo auf der Erde geschieht, irgendwann auch uns selber
betrifft. Und dass es noch viel dümmer war, dass wir uns nur um
unser eigenes Wohlergehen gekümmert haben, statt uns auch über die
Nöte und Konflikte der Menschheit anderswo Gedanken zu machen und
uns zu kümmern.
Kann schon sein, dass es uns angesichts dieser Einsichten richtig
gut tut, wenn wir – wie in diesen Tagen - unseren Blick einmal in
die unendlichen Weiten des Weltraums schweifen lassen können. Gott
freilich macht es umgekehrt. Er lässt seinen Blick von den
unendlichen Weiten weg und ganz tief hinunter auf unsere winzige
Erde schweifen. „Was sieht das Auge des Todes von mir?“, fragt der
Schriftsteller Botho Strauß, „Nur mein mühseliges Entgegenkommen.
Nichts als ablaufende Zeit. Gesehen aber, wahrhaftig gesehen werde
ich nur durch sein Partikular. Das Partikular, durch das der Ewige
uns sucht, erfasst uns ohne zeitliches Brimborium, ohne
geschichtliche Ergänzung und Verfälschung. Erkennt jeden in seiner
göttlichen Vereinzelung. Jeden dürftigen Stein unter Millionen in
der Kiesel-Schwarte der Bucht. Denn des Allerhöchsten Auflösung
sieht dich mutterwindallein auf Erden.“ (Botho Strauß, Das
Partikular, Hanser, 2000, S.84) Gegen die Empfindlichkeit und
Sehschärfe der göttlichen Wahrnehmung sind unsere kosmischen
Sensoren wohl eher blind und taub.
Aber Gott lässt nicht nur seinen Blick vom Großen ins Allerkleinste
und Einzelne schweifen. Er macht sich selbst im Christus auf den Weg
durch unsere Welt und unser Menschsein, bis ganz hinunter in die
Abgründe des Menschlichen, bis hinunter ins Leiden und in den Tod.
Auch das ist ein wirklich kosmischer Weg, von dem, der Galaxien zum
Leuchten bringt und wieder auslöscht, bis zu dem, der zerschlagen an
einem Holzkreuz hängt. Erstaunlich.
Erstaunlich noch viel mehr, was der Christus am Kreuz zu dem Mörder
sagt, der neben ihm hingerichtet wird: Heute wirst du mit mir im
Paradies sein. (Lukas 23,43) Damit ist die Mission des großen
Hohenpriesters Christus treffend beschrieben. Sein Weg führt ihn
allein hinunter in unsere Welt, aber nicht mehr alleine hinauf! Dann
hat er nämlich alle im Gepäck, die er die Verlorenen nennt, die, die
seine Liebe auf unserer kleinen Erde gesucht und gefunden hat.
(Lukas 19,10) Uns bleibt, uns finden zu lassen, anzuerkennen, dass
Gott den Anfang von oben gemacht hat. Hinhören auf das, was er uns
sagte, bei unserer Taufe und was er uns sagt durch sein Wort und
Sakrament. Lasst die Kirchenbänke nicht leer, um es immer wieder zu
hören und zu schmecken.
Nein, dadurch werden wir nicht göttlicher, aber vielleicht
menschlicher. Nicht schlauer, aber vielleicht vorsichtiger.
Vielleicht lernen wir, der Bewegung des Allmächtigen in unsere
kleine Zerbrechlichkeit zu folgen. Es gibt so viel Leben, das
empfindlicher, kleiner, ärmer, kränker, verletzlicher, bedürftiger,
hilfloser ist als wir selbst. Vielleicht passen wir einfach besser
auf, wo wir hintreten. Damit auch andere durch uns Gnade und
Barmherzigkeit erfahren, wenn sie Hilfe nötig haben.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
14 Weil wir denn einen großen Hohenpriester
haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so
lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.
15 Denn wir haben nicht einen Hohenpriester, der nicht könnte mit
leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in
allem wie wir, doch ohne Sünde.
16 Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der
Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der
Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.
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