Predigt     Hebräer 4/14-16     Invokavit     21.02.10

"Im Leid geborgen"
(von Pfarrer Rudolf Koller, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

er hatte alles verloren: seine Kinder, seine Arbeitsstelle, sein Zuhause, seine Gesundheit, seinen Glauben. Jahrelang hatte seine Ehefrau ihn ausgenützt – emotional, aber auch finanziell. Dann war sie mit einem anderen über Nacht durchgebrannt, hatte die Kinder einfach mitgenommen und war nicht mehr aufzufinden. Er musste die Arbeitsstelle wechseln, mit ihr sein gesamtes soziales Umfeld, verlor Freundschaften und Bekanntschaften. Der Arzt schrieb ihn krank und gab ihm Tranquilizer, weil er seit Wochen kein Auge mehr zugetan hatte. Sein Herz raste ununterbrochen – so als könnte es dadurch aus dem Abgrund herauslaufen, in den er gefallen war. Immer wieder dachte er an Selbstmord…

Szenenwechsel: 12. Januar 2010, 16.53 Uhr. Das Erdbeben, das Haiti eine Minute nur erschüttert, kostet über 150.000 Menschen das Leben. Ein Land, das ohnehin als Armenhaus Mittelamerikas gilt, verliert alles. Nach und nach erreichen uns erschütternde Bilder und Berichte, die das ganze Ausmaß des Leids erahnen lassen.

Szenenwechsel: Der TV-Entertainer Hape Kerkeling schreibt - nach einem Hörsturz und einer Gallen-Operation - in seinem Bestseller „Ich bin dann mal weg“: „Über Monate nicht auf die innere Stimme zu hören, die einem das Wort „PAUSE!“ förmlich in den Leib brüllt, sondern vermeintlich diszipliniert weiterzuarbeiten, rächt sich halt.“ Hape Kerkeling erweist sich darin als sprechendes Beispiel unserer Zeit und Lebensweise, die der Münchner Pädagoge und Zeitforscher Karlheinz A. Geißler so formuliert hat: „Wir entwickeln uns zu einer Instant-Gesellschaft, die quasi rund um die Uhr aktiv ist.“ „Alles. Gleichzeitig. Und zwar sofort“, „Alles Espresso“, „Vom Tempo der Welt“ oder „Wart' mal schnell“ – so die ironisch-präzisen Titel seiner Bücher. Die permanente Dauermodernisierung unserer Lebenswelt wird subjektiv als „Beschleunigung“, als permanenter Stress sowie als Zeitdruck und -knappheit erfahren. Und die Angst, das „wahre“ Leben trotz aller Anstren¬gungen zu versäumen, ist der Grundton in allem. Das Leben ist - bis hin zur Erschöpfung - anstrengend geworden. Ruhepositionen sind uns kaum noch vergönnt. Sie einzunehmen kann bedeuten, im Abseits zu landen, knappe Zeit zu vergeuden, Alternativen zu verpassen.

Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen hören wir den heutigen Predigttext:

14 Weil wir denn einen großen Hohepriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.
15 Denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.
16 Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.


Ein uns fremdes Bild: Jesus als Hohepriester! Wir kennen andere Titel, die Jesu Würde und Hoheit ausdrücken: Gottes Sohn, Sohn Davids, Retter. Das Bild des Hohepriesters benutzt einzig und allein der Verfasser des Hebräerbriefes. Es greift jüdische Tradition auf: Im Jerusalemer Tempel gab es bis zur Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n.Chr. einen Hohepriester, der als einziger das Allerheiligste im Tempel betreten durfte – und das auch nur einmal im Jahr, zum großen Versöhnungsfest. Nach einem aufwendigen Reinigungsritual für sich selbst brachte er die Sünden des Volkes vor Gott. Und danach wurde ein Bock als „Sündenbock“ in die Wüste geschickt – sinnenfälliger Ausdruck dafür, dass Gott sein Volk von allen Sünden befreit hat.

Der Hebräerbrief greift dieses Bild auf und verändert es dramatisch: Jesus, der Sohn Gottes, hat „die Himmel durchschritten“! Das heißt: Er allein ist bei Gott, steht vor Gott als unser Hohepriester. Und was er vor und zu Gott bringt, das sind wir! Wir und unser aller Elend und Not, unsere Verzweiflung und unsere Schmerzensschreie. Er bringt sie vor Gott in Person!

„Denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.“ Deshalb blicken wir immer wieder auf die Passion Jesu, auf sein Leiden und Sterben - weil darin alles Leiden und Sterben dieser Welt eingeschlossen sind:
- die Verzweiflung des traumatisierten Ehemannes
- der tausendfache sinnlose Tod in Haiti
- der gehetzte moderne Mensch, der von der Angst getrieben wird, das „wahre Leben“ zu verpassen

All das bringt der Sohn Gottes als Hohepriester vor Gott – und Hohepriester meint: er macht sich in Person zum Sündenbock, der – um im Bild zu bleiben – in die Wüste der letzten Verzweiflung und Gottesferne geschickt wurde und „der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.“

Versuchung ist doch keine Frage der Moral! Wer von Versuchung nur im Zusammenhang von Süßigkeiten und Ähnlichem redet, banalisiert sie. Nicht umsonst steht als Evangelium für den heutigen Sonntag die Versuchungsgeschichte in Mt.4 als die große Versuchung, eine Welt ohne Leid und ohne Not haben zu wollen. Mit der großen Versuchung auch, Gott als einen Schön-Wetter-Gott haben zu wollen, dessen Engel uns auf Händen tragen, auf dass wir unsere Füße nicht an einem Stein stoßen.

Nein, Versuchung ist drastisch in die Worte der Ehefrau des Hiob gefasst, des Hiob, der schuldlos alles verliert – allen Besitz, die ganze Familie, zuletzt seine Gesundheit. Ihm sagt seine Ehefrau ins Gesicht: „Fluche Gott und stirb!“  Gott verfluchen – das hätte auch der Ehemann gekonnt, den seine Frau mit nichts außer Schulden verlassen hat. Gott verfluchen – das könnte so mancher Haitianer. Gott verfluchen – das möchte vielleicht auch mancher moderne Zeitgenosse, der in allem keinen Sinn mehr findet.

Gott verfluchen angesichts von Leid und Tod und Sinnlosigkeit – das hätte auch Jesus am Kreuz tun können. Und er schreit sie ja hinaus die Frage, die keiner beantworten kann: „Mein Gott, mein Gott, warum….?!“ Aber er schreit sie hinaus zu seinem Papi im Himmel, trägt seinen Schmerz und seine Verzweiflung zu ihm – und erweist eben darin seine Sündlosigkeit, dass er nicht loslässt von Gott, ihn nicht verflucht. Seither gibt es keinen Ort der mehr, der gottverlassen wäre. Gibt es keine Erfahrung von Leid, bei der Gott nicht mit dabei wäre. Manches drückt die Kunst besser aus, als unsere Worte. Ich habe deshalb dieses Kruzifix mitgebracht. Es ist aus dem Pflegeheim Schloss Zedtwitz und steht dort alle 4 Wochen auf einem Hausaltar, wenn wir Gottesdienst feiern:

Aus einem Stück Holz geschnitzt,
einem Baum,
dem Lebensbaum?
und aus der Mitte heraus wächst die Gestalt des Gekreuzigten,
entsteht zugleich ein Abstand zwischen dem gekreuzigten Christus im Vordergrund und diesem mantelähnlichen Hintergrund,
oder entsteht da ein Abgrund?
Und doch ist es der Hintergrund, der mich den Anblick des Gekreuzigten überhaupt aushalten lässt.
weil er aus dem gleichen Holz geschnitzt ist,
weil da überhaupt ein Hinter-Grund ist,
der den Gekreuzigten nicht ins Bodenlose fallen lässt,
ein Hinter-Grund, der ihn trägt und hält.

Das ist unser Trost, unser Evangelium.

Der verlassene Ehemann erzählt später, wie er in der Verzweiflung des Gekreuzigten seine eigene Verzweiflung wiederfand – als eine, die Gott kennt! Als eine, in der er nicht allein ist. Der somit die letzte Spitze genommen ist: nämlich dieses unerträgliche Gefühl, nicht nur von allen Menschen sondern letztlich von Gott verlassen zu sein.

Noch in der Nacht nach dem Beben fanden sich in den Trümmern von Port-au Prince Menschen zusammen. In der Sprache des armen Volkes von Haiti, in kreolisch, sangen sie miteinander Klagelieder, Glaubenslieder. „Als würden die Stimmen, die da ins Dunkel aufstiegen, sich resolut von Unglück und Verzweiflung abwenden“, berichtete die Journalistin Yanick Lahens aus ihrer Heimatstadt, und sie fährt fort: „Nur die Posaune des Engels der Apokalypse hätte noch gefehlt, um das Ende der Welt zu verkünden, wären da nicht der Mut, die Solidarität und die unfassbare Geduld Einzelner gewesen, die uns an den Kern des Wesentlichen zurückbanden: an jenes Prinzip der Mitmenschlichkeit, das niemals untergehen darf.“

Und ganz unerwartet „fromm“ wird sogar der Berufskomiker Hape Kerkeling am Schluss. Ich zitiere: „Der Schöpfer wirft uns in die Luft, um uns am Ende wieder einzufangen ... Und die Botschaft lautet: Hab Vertrauen in den, der dich wirft, denn er liebt dich und wird vollkommen unerwartet auch der Fänger sein.“

„Invokavit“ – so der Name des heutigen Sonntags und der Anfang eines Psalmwortes. In Psalm 91 heißt es in Vers 15: „Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören.“ Parallel dazu Psalm 50.15: „Rufe mich an in der Not, so will ich dich erretten und du sollst mich preisen.“ Oder mit den Worten des Hebräerbriefes: „Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.“

So wollen auch wir Gott anrufen im Gebet - mit der Zuversicht, Barmherzigkeit und Gnade zu finden, wo immer wir Hilfe nötig haben. Ich bete mit Worten, die A. de St. Exupery zugeschrieben werden:

Ich bitte nicht um Wunder und Visionen Herr, sondern um die Kraft für den Alltag. Lehre mich die Kunst der kleinen Schritte! (...) Mach mich griffsicher in der richtigen Zeiteinteilung. Schenke mir das Fingerspitzengefühl, um herauszufinden, was erstrangig und was zweitrangig ist. Lass mich erkennen, dass Träumereien nicht weiterhelfen, weder über die Vergangenheit, noch über die Zukunft. Hilf mir, das Nächste so gut wie möglich zu tun und die jetzige Stunde als die wichtigste zu erkennen. Bewahre mich vor dem naiven Glauben, es müsste im Leben alles glattgehen. Schenke mir die nüchterne Erkenntnis, dass Schwierigkeiten, Niederlagen, Misserfolge und Rückschläge eine selbstverständliche Zugabe zum Leben sind, durch die wir wachsen und reifen. Gib mir das tägliche Brot für Leib und Seele, eine Geste deiner Liebe, ein freundliches Echo, und hin und wieder das Erlebnis, dass ich gebraucht werde. Ich weiß, dass sich viele Probleme dadurch lösen, dass man nichts tut. Gib mir, dass ich warten kann. Bewahre mich vor der Angst, ich könnte das Leben versäumen. Gib mir nichts, was ich mir wünsche, sondern was ich brauche. Lehre mich die Kunst der kleinen Schritte!

Pfarrer Rudolf Koller   (Hospitalkirche Hof)

Text:

14 Weil wir denn einen großen Hohepriester haben, Jesus, den Sohn Gottes, der die Himmel durchschritten hat, so lasst uns festhalten an dem Bekenntnis.
15 Denn wir haben nicht einen Hohepriester, der nicht könnte mit leiden mit unserer Schwachheit, sondern der versucht worden ist in allem wie wir, doch ohne Sünde.
16 Darum lasst uns hinzutreten mit Zuversicht zu dem Thron der Gnade, damit wir Barmherzigkeit empfangen und Gnade finden zu der Zeit, wenn wir Hilfe nötig haben.

 


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