Liebe Leser,
sie saß mitten in der Trauergesellschaft, sehr
jung und sehr blond, und sie schälte sich meiner Aufmerksamkeit mehr
und mehr heraus aus der Herde der bedrückten Menschen, die um einen
Toten trauerten. Sie sah bald auf die Uhr, dann auf ihre
Fingernägel; sie ließ den Blick zwinkernd durch die Kapelle
schweifen. Nichts hielt diesen Blick fest, nicht der Sarg, nicht die
weinenden Angehörigen, nicht die Blumen, nicht der Altar, nicht das
Kreuz. Sie kaute mal spitz und mal breit ihren Kaugummi quer durch
ihr hübsches geschminktes Gesicht. Eine aalglatte Maske, perfekt
gerissen aus wasser- und tränenabweisendem Ölpapier. Ein Mädchen,
dem die Zukunft gehört. Bei diesem Gedanken wurde mir angst und
bang.
Was konnte dieses Mädchen noch erschüttern, außer ein eingerissener
Fingernagel oder eine ruinierte Frisur? Nein, ich war ihr nicht
böse, weil sie nicht gehorsam tat, was sich gehört und nicht ihr
Beerdigungsgesicht aufsetzte. Mir wurde nicht bang bei der
Vorstellung, dass sie jedem, der etwas von ihr verlangte, ihr „aber
nicht ums Verrecken“ entgegenschleuderte. Mir wurde angst bei der
Vorstellung, sie könnte ein Mensch sein, der hermetisch
eingeschlossen in seiner kleinen Welt lebt. Und nichts und niemand
könnte sie dort mehr erreichen.
Vielleicht hat sie einfach auf Durchzug gestellt. Zum Auge und Ohr
rauscht der unablässige Strom von Bildern und Tönen hinein und durch
sie hindurch. Die tägliche schrille Überdosis, der keine
Aufmerksamkeit jemals gewachsen ist und kein Gefühl hinterherkommt.
Und jetzt in der Stille könnte sie nicht einmal mehr horchen, selbst
wenn sie wollte. Sie ist längst blind und taub geworden und ihr Herz
mag nur noch für sich selber schlagen. Autismus als
Überlebensstrategie.
„Zwei Drittel der Deutschen betrachten die biblischen Zehn Gebote
als verbindlich für ihr tägliches Leben. 66 Prozent der mehr als
tausend Befragten konnten dieser Aussage zustimmen, ergab eine
repräsentative Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid. Jeder
Zweite kennt danach das Gebot „Du sollst nicht töten“. Mehr als ein
Drittel der Befragten konnten die Gebote „Du sollst nicht stehlen“
und „Du sollst nicht ehebrechen“ nennen. Das dritte Gebot „Du sollst
den Feiertag heiligen“ sei dagegen nur fünf Prozent bekannt und
damit kaum mehr im allgemeinen Bewusstsein.“ (epd, vom 24.3.04)
Wer horcht noch ins Leben, ob er herausfände, wie es gut und
menschlich wäre? Wer betritt noch eine Kirche, ein Museum, ein
Konzert oder die Gegenwart eines anderen Menschen und horcht, ob er
herausfände, wie er sich hier zu benehmen hätte? Schon Gott hat in
seiner Enttäuschung den Menschen für alles seine Gebrauchsanweisung
zukommen lassen, zum Glauben, zum Miteinander, ja sogar noch zur
Liebe. Und so ist auch der deutsche Mensch oft einer, dem nichts
selbstverständlich ist, dem man alles vorschriftlich und gesetzlich
geben muss, sonst weiß er’s nicht, sonst tut er’s nicht. Sonst kann
man keinen Gehorsam verlangen.
Mir ist das Wort Gehorsam im Ohr geblieben. Der Sohn Gottes hat
Gehorsam gelernt. Gehorsam kommt von Hören, nein intensiver, von
Horchen. Gut möglich, dass der Sohn Gottes in seiner Herrlichkeit
alles Mögliche um die Ohren hatte. So viel Herrlichkeit, dass sie
den Appetit seiner Aufmerksamkeit ein paar Ewigkeiten lang gestillt
hätte. Und doch kam er auf die Welt und hat Horchen gelernt.
Unerhört, dass der Sohn Gottes noch etwas zu lernen hat. Doch kann
es gut sein, dass dem Hörvermögen Gottes durch ihn etwas hinzukommt.
Denn der Sohn Gottes hat Horchen gelernt an dem, was er litt. Als
würde Gott sein Riesenohr nun nicht vom Himmel herab, sondern von
ganz unten herauf an die Erde legen, um zu horchen. Um zu horchen
auf jeden Seufzer, auf jeden Schrei, auf jeden Schmerz. Um zu
erhören, was unerhört bleibt: Die Verschleppten, Vertriebenen,
Gefallenen, Gemordeten, Hingerichteten und in namenlosen Gräbern
Verschwundenen und auch all die Tränen in den stillen Kämmerlein.
Freilich geht all dies dem Christus nicht in Augen und Ohren hinein
und durch ihn hindurch, sondern mitten ins Herz. Sein Gesicht ist
nicht gerissen aus tränenabweisendem Ölpapier. Es kann bitten und
flehen, schreien und weinen. Die Weisen aus dem Morgenland bringen
dem Jesuskind Weihrauch, Gold und Myrre, und der Christus bringt
Gott seine Tränen zum Opfergeschenk und in ihnen uns.
Und als er nahe hinzukam, sah er die Stadt und weinte über sie (Lk
19,41). Er sah die Stadt Jerusalem und brach über ihr in Tränen aus.
Was gäbe es bis heute zu sagen über diese geschundene Stadt, in der
sich die Menschen in einer trostlosen Spirale der Gewalt schinden
und umbringen. Jesus ist Besseres eingefallen, als diese trostlose
und staubtrockene Kritik der Besserwisser. Die Welt ist schlecht,
weiß der kaltherzige Achselzucker. Was geht ihn das an. Der Christus
hat geweint. Er brachte diese Stadt und ihre Menschen in seinen
Tränen vor Gott.
Das ist der tränenreiche Fürbittendienst des Christus für uns alle.
Das ist Fürbitte auf der höchsten Horchstufe des Herzens. Und er ist
auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt. Nicht mit
Weihrauch, Gold und Myrre hält man Gott in Ehren, sondern mit einem
horchenden Herzen. Wer es Gott ausschüttet, hält ihn in Ehren. Und
bleibt nicht unerhört.
Und deshalb werden wir bei unserer Taufe auch in Wasser getaucht.
Damit wir nicht staubtrocken bleiben, bis das Ölpapier der
Gleichgültigkeit unser Gesicht überzieht und unser Herz nur noch für
sich selbst schlagen will. Bevor uns ein eingerissener Fingernagel
und eine ruinierte Frisur mehr erschüttern, als die Not des Menschen
nebenan.
Aber selbst dann gibt es einen, der über uns weint. Und wenn wir
schon nichts mehr hören als unsere eigene Stimme, dann können wir
wieder lernen, auf ihn zu horchen - auf den weinenden Christus in
uns. Denn er hat in den Tagen seines irdischen Lebens Bitten und
Flehen mit lautem Schreien und mit Tränen dem dargebracht, der ihn
vom Tod erretten konnte; und er ist auch erhört worden, weil er Gott
in Ehren hielt.
Es gibt in unserer Kirche eine unsägliche Tradition, die sagt: Lerne
leiden, ohne zu klagen. Denn Klagen hilft dir nicht weiter. Zynisch
wird es, wenn solches von denen geraten wird, die anderen Schmerz
und Leid zufügen. Täter, die ihre Opfer mundtot machen und zur
Tagesordnung übergehen wollen. Keine Frage, es gibt das Jammern auf
hohem Niveau, es gibt das Selbstmitleid, das viel mit dem Gewinsel
eines Hundes zu tun hat, dem man sein Spielzeug weggenommen hat. Es
gibt Tränen aus berechnendem Kalkül.
Aber wer wollte bestreiten, dass auch der Christus in Gethsemane
sein eigenes Leben, betrübt bis an den Tod, vor Gott brachte (Markus
14,34) und er erhört wurde. Es erschien ihm aber ein Engel vom
Himmel und stärkte ihn (Lukas 22,43). Darum sollten wir ganz
vorsichtig sein, Bitten und Flehen, Schreien und Tränen unter
Verdacht zu stellen. Dies ist nicht nur in der Kirche, sondern noch
viel mehr in der Politik ein probates Mittel, die eigene
Gleichgültigkeit, Hartherzigkeit und Ungerechtigkeit zu
entschuldigen. Wer Not nicht wenden kann und will, sollte denen, die
darüber Weinen und Klagen nicht den Mund verbieten. Wer Weinen und
Klagen aus tiefer Not nicht hören will und kann, sollte weder in der
Kirche noch in der Politik ein Amt bekleiden. Denn solche können
nicht ins Leben hineinhorchen und herausfinden, wie es gut und
menschlich wäre.
Aber eben das ist es, was die Not wendet: Das Horchen des Herzens.
Das tut der Christus. Das ist sein Gehorsam. Und er gibt allen
Tränen, die höchste Aufmerksamkeit, die sie haben können. Er bringt
sie vor Gott. Und wird zum Urheber des Heils. Darum hört - auf den
weinenden Christus in Euch.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
7 Und er (Christus) hat in den Tagen seines
irdischen Lebens Bitten und Flehen mit lautem Schreien und mit
Tränen dem dargebracht, der ihn vom Tod erretten konnte; und er ist
auch erhört worden, weil er Gott in Ehren hielt.
8 So hat er, obwohl er Gottes Sohn war, doch an dem, was er litt,
Gehorsam gelernt.
9 Und als er vollendet war, ist er für alle, die ihm gehorsam sind,
der Urheber des ewigen Heils geworden.
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