Liebe Leser,
in seinem Buch „Dorfgeschichten“ beschreibt Kurt Marti den Auftritt
eines Wunderheilers:
„Da steht ein Mann, sagte er, ein Mann, ich sah ihn noch nie, er
geht am Stock, er hinkt, wir kennen uns nicht, da kommt er, ein
Kaufmann, ein Angestellter, wenn Sie Angestellter sind, so heben sie
ihre Hand. Der Mann hob die Hand. Sie haben ein Rückenleiden, sagte
der Wunderheiler, sie haben eine Frau, die Frau ist hier, ihre Frau
ist im Saal. Eine Frau in den vorderen Reihen erhob sich und winkte
zur Bühne, O Karl, da bin ich, rief sie. Befangen winkte der Mann
zurück. Ihre Frau ist hier, sagte der Wunderheiler. Sie wollen
gesund werden, gut, ihr Glaube hat ihnen geholfen. Sie sind geheilt.
Der Mann zögerte erst, dann ging er, dann hob er den Stock, dann
schwang er den Stock in die Luft und ging, geheilt, rief er heiser,
geheilt! Ohne zu hinken, ohne Hilfe des Stockes ging er über die
Bühne. Seht, seht, riefen, lachten, schrien, ja weinten die Menschen
im Saal, er geht, wahrhaftig, der Lahme geht, und reihenweise
sprangen sie von den Sitzen, er geht, halleluja, so wirf doch den
Stock weg, er geht, Karlkarl, lärmte es durcheinander, o was für ein
Tag, erbarme dich unser, wo bist du, au meine Füße, ist Schluss oder
kommt da noch jemand, ich bin wie neugeboren, warum klemmst du mich
denn, nein, meine Brille ist eben zerbrochen, so komm doch endlich.
Man intonierte einen Chorus, viele fielen ein, manche mit Worten,
andere mit lalala, während der Lahme strahlend im Nebenausgang der
Bühne verschwand, winkend mit dem Stock. Sie sangen Schulter an
Schulter, Hüfte an Hüfte, schwitzend vor Aufregung. Sie sangen,
während der Wunderheiler sich den Schweiß von der Stirne wischte und
hinter dem Bühnenvorhang verschwand, sie sangen im Hinausdrängeln
und draußen noch auf der Straße, sie sangen und riefen und sahen den
Wunderheiler in einen Mercedes steigen und winkend mit seinen
Freunden das Städtchen verlassen.
Den Kaufmann mit dem Stock fand man in einer Saaltoilette,
außerstande, auch nur einen einzigen Schritt zu tun. Ununterbrochen
sprach er. Als atemlos seine Frau erschien und sich über ihn beugte,
spie er sie an.“ (Kurt Marti, „Halleluja der Magen“, in
„Dorfgeschichten“, Sammlung Luchterhand, 1983, S. 57 f.)
Eine richtige Horrorgeschichte ist das, und doch Spiegelbild eines
allzumenschlichen Umgangs mit Krankheit und Vergänglichkeit. Wer
krank wird und nicht mehr funktioniert, ist schnell allein. Und
egal, wie sehr er selbst am Leben hängt – von ihm wird erwartet,
dass er alles versucht, diesen Mangel zu beheben – und wie viele
Menschen gehen dabei den schlimmsten Scharlatanen auf den Leim.
Morgen steht vielleicht ein Bericht über den großen Auftritt des
berühmten Wunderheilers in der Zeitung. Aus der Saaltoilette
berichtet keiner. Not lehrt die einen beten und andere, mit dem
Beten aufzuhören. Die Einsamkeit des Kranken im Getümmel der von
Heilsversprechen berauschten und gerade deshalb rücksichtslosen
Menge, tut schon fast körperlich weh. Jeder kann seine Reaktion
verstehen.
Christoph Schlingensief, der im August 2010 im Alter von 49 Jahren
an Krebs starb, schrieb in seinem Tagebuch: „Wenn man diese
Betroffenenforen im Internet liest, wird einem ganz schlecht, da
wird man sofort noch schlimmer krank. Und man merkt, was für eine
Hilflosigkeit in unserem Gesundheitssystem steckt. … Weil die
Menschen nicht nur allein gelassen werden mit ihren Ängsten, sondern
auch statisch gemacht werden in ihrer Verzweiflung. … Nicht die
Krankheit ist das Leiden, sondern der Kranke leidet, weil er nicht
fähig ist zu reagieren, weil er nicht die Möglichkeit hat
mitzumachen. Er ist dem System ausgeliefert, weil niemand in diesem
System bereit ist, ernsthaft mit ihm zu sprechen. Klar: Diagnose,
Prognose, Therapie, es wird beinhart aufgeklärt, aber wirklich
miteinander gesprochen wird nicht. Dabei könnte man allein dadurch
helfen, dass man mit den Menschen spricht, zu Gedanken animiert oder
nach Ängsten und Wünschen fragt. Denn dann wäre der Kranke wieder am
Prozess beteiligt, dann wäre er aus dieser Statik befreit, die einem
die Krankheit aufzuzwingen versucht.“ (ders., „So schön wie hier
kanns im Himmel nicht sein“, Köln 2009, S. 87 f.) Zitat Ende.
Genau in diese Richtung geht, was der Seelsorger Jakobus seiner
christlichen Gemeinde ans Herz legt. Er predigt gegen die
Sprachlosigkeit und Einsamkeit in Krankheit und Leid. Nein, er ist
nicht der Meinung, dass Christen lernen sollten, ohne Klagen zu
leiden. Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes,
der singe Psalmen. Es gibt in der Bibel nicht nur Psalmen, die Gott
loben. Es gibt Psalmen, die wüste Klagen sind. Es gibt in der Bibel
Hiob und Jeremia, die nicht nur mit ihrem Schicksal, sondern mit
Gott hadern. Man darf, ja man soll ihre Worte in den Mund nehmen,
wenn die eigenen Worte ausgegangen sind.
Jakobus predigt gegen die Einsamkeit im Leid. Er ist derjenige im
Neuen Testament, der darauf besteht, dass der Glaube in der Liebe
tätig wird. Das Gegenteil von Liebe ist Gleichgültigkeit. Wenn sich
Gleichgültigkeit in der christlichen Gemeinde breit macht, erlaubt
sich Jakobus nachzufragen, wie lebendig denn der Glaube einer
solchen Gemeinde noch ist. Dass Jakobus die Gemeinde ermahnen muss,
zeigt, wie wenig selbstverständlich das eigentlich
Selbstverständliche auch unter Christen sein kann. Ach, es ist
wirklich elend unspektakulär, am Bett eines Kranken zu sitzen und
seine Hand zu halten. Das steht garantiert nicht in der Zeitung.
Vielleicht ist das zu allen Zeiten der Grund dafür, dass sich die
christliche Gemeinde doch lieber auf das konzentriert, womit sie die
Aufmerksamkeit der sie umgebenden Gesellschaft wecken könnte.
Und deshalb ermahnt Jakobus die Kranken und ihre Angehörigen, die
Ältesten der Gemeinde zu sich zu rufen. Damit sie über all der
Verwaltung und Öffentlichkeitsarbeit, die sie heute so betreiben,
den Ernstfall des Evangeliums nicht verpassen. Und das gilt nicht
nur für die Pfarrer und die hauptamtlichen Mitarbeiter und
Mitarbeiterinnen, sondern für alle gestandenen Christenmenschen
einer Gemeinde. Die Kranken sollen sie zu sich rufen. Das ist nicht
zuletzt Seelsorge an den Seelsorgern.
Denn wer dann so beieinandersitzt, der darf, soll und kann mit der
Gegenwart dessen rechnen, der allein helfen kann. Nein, nicht der
Wunderheiler mit dem Mercedes, sondern der Christus selbst. Mich hat
ein Zitat aus dem Brief einer zu Tode erkrankten Krankenschwester an
ihre ehemaligen Kolleginnen berührt, das ich in einer
Predigtmeditation gefunden habe. Sie schreibt: „Ich weiß, ihr fühlt
euch unsicher, ihr wisst nicht, was ihr sagen und tun sollt. Aber
glaubt mir bitte, wenn ihr euch sorgt, dann könnt ihr gar keine
Fehler machen. Gebt einfach zu, dass ihr euch Sorgen macht. Das ist
es in Wirklichkeit, wonach wir suchen. Es mag sein, dass wir Fragen
stellen nach dem Warum und Wozu, aber wir erwarten nicht eigentlich
Antwort. Lauft nicht weg, wartet. Alles, was ich wissen will, ist,
dass da jemand sein wird, um meine Hand zu halten, wenn ich das
nötig habe. Ich habe Angst.“ (Jürgen Ziemer, GPM 3/1994, Heft 4, S.
388)
Eine Hand halten ist nicht schwer. Es mit der eigenen Angst und der
Angst eines Kranken oder Sterbenden aufnehmen, ist schwer. Wir
sollten es nicht aus eigener Kraft versuchen. Wenn Jakobus vom Gebet
spricht, das viel vermag, wenn es ernstlich ist, sollten wir das
nicht als Aufforderung verstehen, uns besonders anzustrengen. Im
Gegenteil. Ernstlich ist ein Gebet, wenn es im Glauben mit Gottes
Gegenwart Ernst macht. Ernstlich glaubt ein Mensch, der sich Gott in
die Arme wirft. Ernstlich glaubt ein Mensch, der sich in Gottes Hand
fallen lässt. Denn dort – und wie könnte es anders sein – denn dort,
wird alles gut.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
13 Leidet jemand unter euch, der bete; ist
jemand guten Mutes, der singe Psalmen.
14 Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die Ältesten der
Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit Öl in dem Namen
des Herrn.
15 Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken helfen, und der Herr
wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat, wird ihm vergeben
werden.
16 Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, dass ihr
gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es ernstlich
ist. |