Predigt     Jakobus 5/7-8   2. Advent    06.12.09

"Makrothymia"
(von Pfarrer Johannes Taig, Hospitalkirche Hof)

Liebe Leser,

es war ein abgegriffener Zettel, den Munnicher dem einarmigen Apotheker hinhielt. Munnicher trug das aus einem Notizbuch gerissene Blatt schon seit Wochen in der Jackentasche und hatte oft danach gegriffen. Ein paar Gifte standen darauf. Pflanzenschutzgifte, die Erwachsenen ohne Umstände verkauft werden. Munnicher wollte das Gift nicht für Pflanzen. Munnicher wollte es für sich, für die zertretene, weggeworfene Menschenpflanze Munnicher. Er war in diese abgelegene Apotheke gegangen, weil er in den kaltprächtigen Medikamentenpalästen aus Plastikmasse, Nickel und Neon seinen Wunsch nicht vorbringen mochte. „Eins davon“, sagte er.

Der Apotheker schaute Munnicher vom zurückweichenden Haaransatz bis zum nachlässig gebundenen Schlips an. Er merkt, dass ich aus dem Gefängnis komme, dachte Munnicher. Er sieht es an dieser ausgebleichten Haut, in der jede Pore drei Jahre lang nach Sonne geschrieen hat. Aber heute Nacht kommt die Sonne ja, dachte er. Dann kommt die große Helle von innen.

„Sind aber verschieden stark“, sagte der Apotheker. „Das stärkste“, verlangte Munnicher. Der Apotheker nickte und stieg auf eine Leiter. Bei jeder Stufe ruderte er mit dem rechten Arm durch die Luft. Sieht komisch aus, wenn ein Einarmiger 'ne Leiter raufsteigt, dachte Munnicher. Der Alte kramte in einigen Paketen. Munnicher fühlte sich beobachtet. Aber der Alte schaute nur auf seine Fläschchen und Schachteln. Da sah Munnicher das Mädchen hinter der Waage im angrenzenden Raum. Er sah es durch die geöffnete Tür. Er sah, wie es blaue Tütchen mit hellrotem Pulver füllte und abwog. Das Mädchen - achtzehn ist es, dachte Munnicher - ließ die Waage auszittern und tat nichts. Es schaute Munnicher an. Man erkennt von hier aus; dass es braune Augen hat, wieso erkennt man das von hier aus, fragte sich Munnicher betroffen. Er hob ein wenig die Hand und winkte. Seh' sicher aus wie ein Pinguin, dachte er. Aber da hob das Mädchen das blaue Tütchen und winkte auch.

Der Alte ruderte die Leiter wieder herunter. „Hier“, sagte er. „Mit vier Liter Wasser verdünnen.“ „Werd's schon richtig machen“, sagte Munnicher. „Klar“, sagte der Alte. „Fünfsechzig.“

Munnicher zahlte. Er wollte noch einmal zu dem Mädchen hinüberschauen, aber der Einarmige verdeckte die Tür. Munnicher war versucht, noch eine Schachtel Hustenbonbons oder so etwas zu verlangen, nur, damit der Alte ihm aus der Sicht ging. Dann dachte er: Mätzchen! Früher hätte ich so etwas gemacht. Ganz früher. Vor drei Jahren. Er ging. „Wiederschauen“, sagte der Einarmige leirig.

Munnicher hatte sich auf das Bett gelegt. Er trank die braune Flüssigkeit. Schmeckt pappig, dachte er. Ich habe immer geglaubt, das Zeug ätzt und würgt. Aber es schmeckt pappig. Schmeckt pappig im Hals, doch nicht im Magen. Merkst du's, Munnicher, dachte er und legte sich auf die Seite. Merkst du, wie dein Magen zerfressen wird? Ich hätte mich vorher noch rasieren sollen. Wenn morgen einer vom Bestattungsinstitut in meinem kalten Gesicht umherwirkt? Pfui Teufel! Rasieren hätte ich mich sollen, dachte er. Stundenlang dachte er es.

Der Morgen hatte die alte Apotheke nicht viel heller gemacht. Munnicher war noch immer nicht rasiert, als er den Apotheker fragte: „Was haben Sie mir da für ein verdammtes Zeug angedreht?“ „Wasser“, sagte der Alte. „Wasser mit einem Schuss Gurgellösung, gegen Mandelentzündung.“ „Was sollte das?“ fragte Munnicher. „Ja, was sollte das?“ fragte der Einarmige und ließ ihn nicht mit dem Blick los. Munnicher senkte den Kopf.

„Ich verkaufe keine Gifte in meiner Apotheke“, sagte der Alte. „Von hundert Verkäufen kriege ich nur vierzehn Reklamationen. Das ist doch ein gutes Verhältnis, nicht wahr? Hundert Leute tragen Wasser statt Gift nach Hause, und nur vierzehn beschweren sich. Und diese vierzehn schicke ich woanders hin, wenn sie wollen. Manche wollen nicht mehr. Das Geld bekommen sie natürlich wieder zurück. Auch Sie.“

Der Alte schlurfte zur Leiter. Munnicher schaute wieder durch die Verbindungstür. Das Mädchen war nicht da. Im Spiegel fing sich umgekehrt der Name der Apotheke: „Vita Nova“, hieß sie. („Neues Leben“) „Wollen Sie noch etwas?“ fragte der Alte. „Ja“, sagte Munnicher. „Hustenbonbons.“ (Aus: Geschichten zum Nachdenken, L. Graf, M. Linhard und R. Pertsch (Hrsg.), Kaiser/Grünwald; 5. Auflage 1984, S. 99f.)

„Makrothymia“ empfiehlt uns Jakobus in der Adventszeit. Das ist kein Kraut aus der normalen Apotheke. Aber die Apotheke „Vita Nova“ könnte es im Regal haben. Von allen griechischen Worten, die für „Geduld“ stehen können, hat es eine besondere Wirkung: Es steht für Langmut, den langen Atem, das trotz allem Gespanntsein und Gespannt bleiben. Einmal öfter am Tag nach den Wolken sehen, wie der Bauer das vielleicht tut. Eine Kerze ins Fenster stellen in der langen Winternacht. Einmal öfter am Tag den Briefkasten leeren. Oder wie Woody Allen einmal sagte: Er glaube zwar nicht an ein Leben nach dem Tod, aber er habe immer ein paar Unterhosen zum Wechseln dabei. Makrothymia. Hoffen und Harren, dass sich trotz allem nicht zum Narren halten lassen will.

Und warum auch? Makrothymia ist ja zuallererst eine Eigenschaft Gottes. Es bleibt dabei: „Er als mein Arzt und Wundermann, wird mir nicht Gift einschenken, für Arzenei. Gott ist getreu, drum will ich auf ihn bauen und seiner Güte trauen.“ (EG 372/3) Oder denken wir an den Christus, der dem Weingärtner gleicht, der den Feigenbaum nicht umhaut, sondern lieber umgräbt und düngt und noch ein Jahr auf die Frucht wartet. (Lukas 13/6 ff.)

O ja, einen solchen Arzt und Wundermann, einen solchen Apotheker haben wir nötig, nicht nur in finsteren Zeiten, in denen uns das Warten lang wird und wir zur Verzweiflung neigen. Oder versuchen abzudampfen in die Scheinwelten, wie sie uns gerade zur Weihnachtszeit an jeder Ecke angeboten werden. Hiergeblieben, ruft Jakobus uns zu und bietet uns statt Glühwein, Makrothymia an. Die schmeckt auch nicht schlecht.

Und dann wissen wir auch, was wir anzubieten haben, wenn uns in dieser Advents- und Weihnachtszeit so ein Munnicher über den Weg läuft, dem gerade in dieser heiligen Zeit das Fähnchen im eisigen Wind gefährlich auf Halbmast flattert. Gerade dann sollten wir uns trotz gefülltem Einkaufszettel und langer „To-do-Liste“ die Ausrede, keine Zeit zu haben, verbieten. Wir haben doch alle ein warmes Plätzchen im Haus, wo man ungestört beieinander sitzen kann und das machen kann, was Jakobus empfiehlt: Stärkt Eure Herzen! Wie viele Arten gibt es eigentlich, einem andern zu sagen: Fürchte dich nicht!?

Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter www.kanzelgruss.de)

Text:

Jakobus schreibt:

7 So seid nun geduldig, liebe Schwestern und Brüder, bis zum Kommen des Herrn. Siehe, der Bauer wartet auf die kostbare Frucht der Erde und ist dabei geduldig, bis sie empfange den Frühregen und Spätregen.
8 Seid auch ihr geduldig und stärkt eure Herzen; denn das Kommen des Herrn ist nahe.


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