Liebe Konfirmandinnen und Konfirmanden, liebe
Eltern und Paten, liebe Gemeinde,
kennt ihr Sandor Nadelmann? Er ist der Held eines kleinen Nachrufs, den
der Komiker Woody Allen verfasst hat. Allerlei Wunderlichkeiten werden
diesem Nadelmann nachgesagt. Unter anderem auch dies: „Als Nadelmann mit
meiner Tochter und mir einmal in der Mailänder Oper war, beugte er sich
aus seiner Loge und fiel in den Orchestergraben. Zu stolz zuzugeben,
dass das ein Missgeschick war, besuchte er die Oper einen Monat lang
jeden Abend und wiederholte jedes Mal den Sturz. Bald zog er sich eine
leichte Gehirnerschütterung zu . Ich machte ihm klar, dass er damit
aufhören könne, da er seinen Zweck erreicht habe. Er sagte: Nein, noch
ein paar Mal. Es ist wirklich gar nicht übel.“ (W. Allen,
Nebenwirkungen, Rowohlt, 1983, S. 11)
Kürzlich lief im Fernsehen „The Day After“, ein Film über den Tag nach
einer plötzlich hereinbrechenden Klimakatastrophe. Eine vom Menschen
aufgeheizte Welt schlägt erbarmungslos und eiskalt zurück und wird
unbewohnbar und menschenfeindlich. Nach dem Sturm Kyrill, der auch im
Theresienstein wie mit einer riesigen Faust zugeschlagen und hundert
Jahre alte Bäume in drei Meter Höhe einfach abrasiert hat, sind nun auch
die letzten verstummt, die die Schuld des Menschen an den Veränderungen
in der Natur bestreiten. Wir selbst sind es, die all diese
apokalyptischen Schrecken fabrizieren. Und wollen dem durch Atomkraft
abhelfen, die zwar keine Treibhausgase, aber Müll produziert, für den es
noch kein sicheres Endlager gibt, weil er Tausende von Jahren
lebensgefährlich strahlt.
Wann werden wir unseren Lebensstil und unsere Erfindungen endlich auf
Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit hin überdenken? Wann werden wir
sagen: Was haben wir getan? Oder werden wir weiter mit Nadelmann sagen:
Nein, noch ein paar Mal. Es ist wirklich gar nicht übel?
Sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der
nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht
gern wieder zurechtkäme? Warum will denn dies Volk zu Jerusalem
irregehen für und für? Äußerst pessimistisch blickt Gott in unserm
Predigttext auf sein Volk und attestiert ihm die notorische Unfähigkeit
zur Einsicht in die eigene Schuld und zur Umkehr.
Umkehr, Buße, zwei typische Kirchenbegriffe, die wir – warum eigentlich?
– immer mit sich klein machen, sich auf den Boden werfen, sich schlecht
machen verbinden. Hier werden diese Begriffe einmal ganz anders gefüllt:
mit aufrechtem Gang, mit Einsicht in den richtigen Weg. Dumm und blind
erscheint der, der meint, Umkehr Buße und Beichte nicht nötig zu haben:
Wie einer, der im Dreck liegen bleibt, wenn er hinfällt; wie einer der
lieber umherirrt, statt die richtige Richtung zu finden: ein
gedankenloser Aufgalopp in den eigenen Untergang. Immer schneller, immer
weiter, immer höher, immer besser.
„Darüber hat sich später Martin Luther den Mund fusselig geredet“, so
ein Ausleger, „dass das Gegenteil zum geknechteten Willen nicht der
freie Wille ist, sondern die Frage, wessen Knecht der Mensch sein wolle:
der Sklave welches Herrn. Da denkt ein Mensch wie du und ich: Frei sein
heiße, keinen Herrn haben oder sein eigener Herr sein, das liege klar
auf der Hand, im Licht der Aufklärung. Armes Pferd! Was reitet dich
dann? Wenn nicht der Teufel, reitest dich selbst, wahrscheinlich zu Tode
reiten dich beide“ (L. Steiger, zitiert nach GPM, 55. Jahrg., Heft 4,
S.467).
Liebe Gemeinde, so kann nicht allgemein geredet werden. Solche
Erkenntnis ist ohne Gott und sein Wort nicht erschwinglich. Gott ist es,
der durch den Mund des Propheten uns Menschen „entdeckt“, wie es um uns
steht. Und darin liegt das Erschreckende und das Tröstliche zugleich.
Erschreckend, weil hier von höchster Instanz eine letzte Erkenntnis über
unsere menschliche Existenz und ihre Möglichkeiten ausgesprochen wird,
die auf den ersten Blick nur desillusionierend und enttäuschend genannt
werden kann. Eine Erkenntnis, die unsere Allmachtsphantasien und unser
Vertrauen in die Kräfte des menschlichen Geistes und seinen ewigen
Fortschritt als Illusion entlarvt: Wir werden immer wieder dort landen,
wo wir nicht hinwollten. Und wir werden selbst schuld sein! Und wir
werden uns, wie Nadelmann, immer wieder in den Orchestergraben stürzen,
damit wir um diese Einsicht herumkommen und sagen: Noch ein paar Mal. Es
ist wirklich gar nicht übel. Von solcher Sturheit hat unsere Welt leider
schon mehr als eine Gehirnerschütterung davongetragen.
Tröstlich ist, dass solche Einsicht aus dem Mund Gottes kommt, der über
solcher Einsicht nicht zum depressiven Menschenhasser wird. Liebevolle
Bekümmerung spricht aus diesen Worten. Nicht die verächtliche Abwendung
eines Besserwissers, der sich auf das Lorbeerblatt seiner moralischen
Integrität zurückzieht, sondern Gottes beharrliche Zuwendung. Hier
blutet das Herz aller Dinge uns Menschen zugewandt. Gott gibt sich zu
erkennen als der, der in seiner Liebe uns Menschen auf den Grund geht.
So muss es stehen bleiben! Nur so ist es Evangelium. Denn nur wenn wir
Gott uns auf den Grund gehen lassen, gibt es Hoffnung. Das ist die Art,
ihm die Zügel in die Hand zu geben. Damit wir ihm nicht vorschnell recht
geben und ihn einbauen in unser Dilemma. Damit aus Nadelmann nicht ein
frommer Nadelmann wird und aus dem Pferd, das sich selber reitet, ein
frommes Pferd, das sich selber reitet.
Ja, dieses Bild muss sich auch die moderne Kirche vorhalten, die um ihre
Zukunftsfähigkeit bekümmert, einen Perspektivwechsel und einen
Mentalitätswandel nach dem anderen vollzieht und mehr und mehr von ihren
Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen verlangt. Nie hatten wir so viele
Pfarrer und so viele Kirchenaustritte, sagte ein Oberkirchenrat vor
nicht allzu langer Zeit.
Ach, gegen solche Gedanken sind wir alle nicht gefeit und stürzen uns
stolz und beleidigt zugleich angesichts unserer (Un-) Fähigkeiten wieder
in den Orchestergraben, statt uns in die Hand Gottes fallen zu lassen,
statt ihm recht zu geben und alles von ihm zu erhoffen. Statt dass wir
uns fröhlich für bankrott erklären und unsere leeren Hände Gott
entgegenstrecken. Wir sind Bettler das ist wahr! soll Martin Luther auf
dem Sterbebett gesagt haben. Dieses Bekenntnis würde einer sich selbst
maßlos überschätzenden Menschheit ein tieferes Zeugnis von unserem Gott
und unserem Glauben geben, als der Aufgalopp unseres Aktionismus. O
diese Eitelkeit, mit der wir der Welt dann doch unser schönes und
überlegenes Gesicht zeigen wollen, statt das bekümmerte Antlitz unseres
Gottes und das geschundene Haupt unseres Christus! Nadelmann lässt
grüßen!
Nadelmann ist kein Vorbild. Nadelmann ist lächerlich. Den guten Rat, den
er erhält erhalten wir von Gott auch: Halte inne, komm einmal zum
Stillstand; hör auf, du musst dir und mir und der Welt nichts beweisen;
dreh dich einmal her zu mir, zu dem Gott, der dir dieses Leben geschenkt
hat. Da bekommt alles die Größe, die es wirklich hat. Sogar deine
Schuld. Denn wer sich Gott zuwendet, für den wird nicht die Schuld, das
eigene Ungenügen immer größer, sondern Gottes Güte.
Ja, das ist schon eine andere Botschaft, als die, die ihr vielleicht in
den Reden zu eurer Konfirmation oder in der Schule oder am Arbeitsplatz
hört. Und es ist versprochen, dass ihr diese Botschaft in der Kirche
euer Leben lang hören könnt: Gott ist nicht der Lehrer, der euch unter
immer größeren Leistungsdruck setzt. Gott ist nicht der Chef, der mit
der Stoppuhr neben eurem Arbeitsplatz steht. Gott ist nicht der
Liebhaber, der euch liebt, solange ihr gesund, schön und erfolgreich
seid.
Gott ist der Vater, dem gefällt, wenn ihr euch ihm zuwendet. Umkehr,
Buße, Beichte, das ist für ihn keine Schwäche, sondern Weisheit und
Klugheit. Er hat immer ein offenes Ohr für euch. Er weiß um eure
Bedürfnisse und um euren wahren Bedarf. Er wendet sich nicht ab, wenn
ihr Irrwege und Umwege im Leben geht, oder blöd dasteht, wie Nadelmann.
Er schaut euch heilsam ins Herz und nimmt euch tröstend in seine Arme.
Er verdient euer Vertrauen.
Darauf dürft ihr mit uns alle Tage sagen: Amen.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
(4)Sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?
(5)Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst,
dass sie nicht umkehren wollen.
(6)Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.
(7)Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.
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