Predigt    Jeremia 8/4-7    Vorletzter Sonntag des Kirchenjahres    18.11.01

"Nadelmann lässt grüßen"
(von Pfr. Johannes Taig, Hospitalkirche)

Liebe Leser,

kennen Sie Sandor Nadelmann? Er ist der Held eines kleinen Nachrufs, den der Komiker Woody Allen verfasst hat. Allerlei Wunderlichkeiten werden diesem Nadelmann nachgesagt. Unter anderem auch dies: „Als Nadelmann mit meiner Tochter und mir einmal in der Mailänder Oper war, beugte er sich aus seiner Loge und fiel in den Orchestergraben. Zu stolz zuzugeben, dass das ein Missgeschick war, besuchte er die Oper einen Monat lang jeden Abend und wiederholte jedes Mal den Sturz. Bald zog er sich eine leichte Gehirnerschütterung zu . Ich machte ihm klar, dass er damit aufhören könne, da er seinen Zweck erreicht habe. Er sagte: Nein, noch ein paar Mal. Es ist wirklich gar nicht übel.“ (W. Allen, Nebenwirkungen, Rowohlt, 1983, S. 11)

In den letzten Wochen jagte eine Schreckensmeldung die andere. Milzbrandalarm war an der Tagesordnung. Die Terroristen hätten biologische und atomare Waffen, war zu lesen. Nicht auszudenken, was wäre, wenn sie die Pest wieder unters Volk brächten, die seit Jahrzehnten als ausgerottet gilt; oder Plutonium, das in der Natur gar nicht vorkommt und in Atomkraftwerken anfällt, übers Land streuen würden. Plutonium ist hochgiftig und hat eine Halbwertszeit von 50.000 Jahren. Hecktisch wurde seitdem an der Optimierung unserer Sicherheit gearbeitet. Aber nur wenige haben sich Gedanken gemacht, wo denn all diese apokalyptischen Schrecken fabriziert werden. Sind wir in all dem nicht wie ein Kind, das schreit, weil es von einem anderen mit einer Pistole bedroht wird, die es selbst erfunden und hergestellt hat?

Wird dieses Kind, wenn die Gefahr vorüber ist, seine eigenen Erfindungen überdenken? Wird es sagen, was habe ich getan!? Oder wird es mit Nadelmann sagen: Nein, noch ein paar Mal. Es ist wirklich gar nicht übel?

Sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme? Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Äußerst pessimistisch blickt Gott in unserm Predigttext auf sein Volk und attestiert ihm die notorische Unfähigkeit zur Einsicht in die eigene Schuld und zur Umkehr. 

Umkehr, Buße, zwei typische Kirchenbegriffe, die wir – warum eigentlich? – immer mit sich klein machen, sich auf den Boden werfen, sich schlecht machen verbinden. Hier werden diese Begriffe einmal ganz anders gefüllt: mit aufrechtem Gang, mit Einsicht in den richtigen Weg. Dumm und blind erscheint der, der meint, Umkehr und Buße nicht nötig zu haben: Wie einer, der im Dreck liegen bleibt, wenn er hinfällt; wie einer der lieber umherirrt, statt die richtige Richtung zu finden, wie ein gedankenloser Aufgalopp in den eigenen Untergang. 

„Darüber hat sich später Martin Luther den Mund fusselig geredet“, so ein Ausleger, „dass das Gegenteil zum geknechteten Willen nicht der freie Wille ist, sondern die Frage, wessen Knecht der Mensch sein wolle: der Sklave welches Herrn. Da denkt ein Mensch wie du und ich: Frei sein heiße, keinen Herrn haben oder sein eigener Herr sein, das liege klar auf der Hand, im Licht der Aufklärung. Armes Pferd! Was reitet dich dann? Wenn nicht der Teufel, reitest dich selbst, wahrscheinlich zu Tode reiten dich beide“ (L. Steiger, zitiert nach GPM, 55. Jahrg., Heft 4, S.467).

So kann nicht allgemein geredet werden. Solche Erkenntnis ist ohne Gott und sein Wort nicht erschwinglich. Gott ist es, der durch den Mund des Propheten uns Menschen „entdeckt“, wie es um uns steht. Und darin liegt das Erschreckende und das Tröstliche zugleich. 

Erschreckend, weil hier von höchster Instanz eine letzte Erkenntnis über unsere menschliche Existenz und ihre Möglichkeiten ausgesprochen wird, die nur desillusionierend und enttäuschend genannt werden kann. Eine Erkenntnis, die unsere Allmachtsphantasien und unser Vertrauen in die Kräfte des menschlichen Geistes als Illusion entlarvt: Wir werden immer wieder dort landen, wo wir nicht hinwollten. Und wir werden selbst schuld sein! Und wir werden uns, wie Nadelmann, immer wieder in den Orchestergraben stürzen, damit wir um diese Einsicht herumkommen und sagen: Noch ein paar Mal. Es ist wirklich gar nicht übel. Von solcher Sturheit hat unsere Welt leider schon mehr als eine Gehirnerschütterung davongetragen. 

Tröstlich ist, dass solche Einsicht aus dem Mund Gottes kommt, der über solcher Einsicht nicht zum depressiven Menschenhasser wird. Liebevolle Bekümmerung spricht aus diesen Worten. Nicht die verächtliche Abwendung eines Besserwissers, der sich auf das Lorbeerblatt seiner moralischen Integrität zurückzieht, sondern Gottes beharrliche Zuwendung. Hier blutet das Herz aller Dinge uns Menschen zugewandt. Gott gibt sich zu erkennen als der, der in seiner Liebe uns Menschen auf den Grund geht. 

So muss es stehen bleiben! Nur so ist es Evangelium. Denn nur wenn wir Gott uns auf den Grund gehen lassen, gibt es Hoffnung. Das ist die Art, ihm die Zügel in die Hand zu geben. Damit wir ihm nicht vorschnell recht geben und ihn einbauen in unser Dilemma. Damit aus Nadelmann nicht ein frommer Nadelmann wird und aus dem Pferd, das sich selber reitet, ein frommes Pferd, das sich selber reitet. 

Ja, dieses Bild muss sich die moderne Kirche vorhalten, die um ihre Zukunftsfähigkeit bekümmert, einen Perspektivwechsel nach dem anderen vollzieht und mehr Kunden- und Angebotsorientierung verlangt. Kommunikativ aktiver sollen wir werden. Nie hatten wir so viele Pfarrer und so viele Kirchenaustritte, sagte ein Oberkirchenrat, vor nicht allzu langer Zeit. Und unserem Landesbischof entfuhr die Ansicht, mit besser vorbereiteten Predigten ließe sich der Gottesdienstbesuch um 30% steigern. 

Ach, gegen solche Gedanken sind wir alle nicht gefeit und stürzen uns stolz und beleidigt zugleich angesichts unserer (Un-) Fähigkeiten wieder in den Orchestergraben, statt uns in die Hand Gottes fallen zu lassen, statt ihm recht zu geben und alles von ihm zu erhoffen. Statt dass wir uns fröhlich bankrott erklären und unsere leeren Hände Gott entgegenstrecken. Wir sind Bettler das ist wahr! (Luther auf dem Sterbebett). Dieses Bekenntnis würde einer sich selbst maßlos überschätzenden Menschheit ein tieferes Zeugnis von unserem Gott und unserem Glauben geben, als der Aufgalopp unseres kirchlichen Aktionismus. O diese Eitelkeit, mit der wir der Welt dann doch unser schönes Gesicht zeigen wollen, statt das bekümmerte Antlitz unseres Gottes und das geschundene Haupt unseres Christus! Nadelmann lässt grüßen!

Am Ende der Bibel heißt es in der Offenbarung des Johannes: „Und ich sah den Himmel aufgetan; und siehe, ein weißes Pferd! Und der darauf saß, hieß: Treu und Wahrhaftig, und er richtet und kämpft mit Gerechtigkeit“ (Off 19/11). Der Bekümmerung Gottes um seine von ihm notorisch abgewendete Welt gehört die Zukunft. Der auf dem weißen Pferd sitzt, stellt sich dem Aufgalopp seiner Welt in den Weg. Unwiderstehlich! Am Ende wird Gottes Güte und Gnade unsere verstockten Herzen nach Hause bringen. So schöne Aussichten verdienen schon heute unser vollstes Vertrauen. 

Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter www.kanzelgruss.de)

Text: 

(4)Sprich zu ihnen: So spricht der HERR: Wo ist jemand, wenn er fällt, der nicht gern wieder aufstünde? Wo ist jemand, wenn er irregeht, der nicht gern wieder zurechtkäme?
(5)Warum will denn dies Volk zu Jerusalem irregehen für und für? Sie halten so fest am falschen Gottesdienst, dass sie nicht umkehren wollen.
(6)Ich sehe und höre, dass sie nicht die Wahrheit reden. Es gibt niemand, dem seine Bosheit leid wäre und der spräche: Was hab ich doch getan! Sie laufen alle ihren Lauf wie ein Hengst, der in der Schlacht dahinstürmt.
(7)Der Storch unter dem Himmel weiß seine Zeit, Turteltaube, Kranich und Schwalbe halten die Zeit ein, in der sie wiederkommen sollen; aber mein Volk will das Recht des HERRN nicht wissen.


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