Liebe Leser,
„Wie kein anderes Buch des Prophetenkanons führt das Jeremiabuch in
eine Welt, die so grundlegend aus dem Lot, so buchstäblich verkehrt
ist, dass richtiges Leben nahezu unmöglich scheint. Es ist eine Welt
am Abgrund. … Erzählt werden die letzten Jahre Judas am Übergang vom
7. zum 6. Jh. v. Chr. Von außen beherrscht und zerstört die
Weltmacht Babylon (das Königreich) Juda. Doch schwerer wiegt und
tiefer liegt eine innere Krise der Gesellschaft und ihrer Eliten.
In vielen verwundeten und verzweifelten Fragen und Ausrufen zeigt
sich: Auch Gott versteht angesichts von Israels Verhalten
buchstäblich die Welt nicht mehr: Die Politik ist erstarrt in
Selbstabschottung und struktureller Gewalt, Recht dient dem Unrecht,
Weisheit wurde zu instrumenteller und zynischer Vernunft. Religion,
Kult und Prophetie haben jede kritische Kraft verloren und alle
Gewissheit zur monotonen Ideologie verkommen lassen. Menschen wachen
Gewissens lässt das System fast keine Spielräume.
Leicht lässt sich erkennen, gegen wen sich Jeremia richtet. Der
Großteil seiner Anklagen betrifft falsche Propheten, politisch
Verantwortliche, Tempelpersonal wie Priester und Aufseher. Das
Elitenversagen zeigt sich politisch darin, dass man das Heil in
fataler Konfrontationspolitik gegen Babylon sucht. Für Jeremia und
sein Buch liegt die Krise tiefer. Sie äußert sich in jederart
sozialer und kultischer Verkehrtheit, sie wurzelt in
gewohnheitsmäßiger Verachtung von Gottes Weisung und scheint durch
keinen noch so verzweifelten Versuch Gottes und seines Boten
aufzubrechen.
Gerade an diesen Versuchen zeigt sich, dass Israels Gotteskrise eine
tiefe Israel-Krise Gottes entspricht. Das Jeremiabuch zeigt Gott und
seinen Boten tief verwoben in die Katastrophe ihres Volkes. Es
erzählt den Niedergang bis zum Exil als Geschichte eines
verzweifelten Hoffens Gottes, bei Israel Gehör zu finden, ihm neu
und anders begegnen zu können und als beständiges Scheitern Israels
an den rettenden Ansprüchen und Gottes heilvollen Zusprüchen.
Glauben heißt für den Propheten Jeremia – und nicht nur für ihn -
davon bis ins Mark betroffen zu sein.“ (Jan-Dirk Döhling, GPM
4/2011, Heft 1, S.112)
Man muss sich diese geschichtliche Situation vor Augen halten um den
Propheten Jeremia zu verstehen, diesen Mitleider mit Gott und den
Menschen, der den Untergang des von Gott und ihm geliebten Volkes in
der Zisterne erleben musste, in die man ihn als notorischen
Querulanten geworfen hatte und in der er fast verreckt wäre. Und es
ist ihm gewiss kein Trost und keine Befriedigung gewesen, dass er am
Ende Recht behielt, und dass sich bestätigte, was der König Salomo
in seinen Weisheitssprüchen geschrieben hatte: „Denn die Hoffnung
des Gottlosen ist wie Staub, vom Wind zerstreut, und wie feiner
Schnee, vom Sturm getrieben, und wie Rauch, vom Wind verweht, und
wie man einen vergisst, der nur einen Tag lang zu Gast war.“
(Weisheit Salomos 5,15)
Ebenso wenig darf uns wundern, wenn sich in der Schilderung der
geschichtlichen Situation des Jeremia Parallelen zu unseren heutigen
Verhältnissen geradezu aufdrängen. Nicht nur im Volk Israel war
immer Konjunktur für das Schönreden der eigenen Verhältnisse. Und
die frommen Schönredner waren und sind die Schlimmsten. Denn sie
spannen dann, wenn den Politikern die Begründungen für den
Optimismus ausgehen, den lieben Gott vor ihren Karren. Wir sind noch
nicht über den Berg, aber auf einem guten Weg. Und Gott wird unsere
Pläne unterstützen. Wir dürfen die Hoffnung auf Gott nicht
verlieren. Das gefällt den Politikern gestern und heute. Und Mahner
wie Jeremia stehen vor den frommen Dampfplauderern wie Ungläubige da
und werden auch so behandelt. Dagegen hat weder Gott, noch Jeremia
eine Chance. Dieses System ist hermetisch in sich abgeschlossen.
Aufgebrochen könnte es nur werden, wenn sich die Angesprochenen
öffnen würden für den anderen schlechthin, also für Gott und für die
anderen, die mit ihnen reden und sie auf das Wort Gottes hinweisen,
also z.B. für Jeremia. Verstehen wir’s nicht falsch: Nicht Weisheit,
Stärke und Reichtum sind an sich schlecht. Nicht einmal die Liebe zu
sich selbst, zum eigenen Volk, zur eigenen Kultur, zum „Unsrigen“
ist an sich schlecht. Es ist ebenso beliebt, wie falsch, die Liebe
zu sich selbst als Egoismus zu denunzieren. Falsch und schlecht
werden alle diese Dinge dann und nur dann, wenn sie nur noch um das
eigene Ich kreisen und eben nicht mehr gilt: So, wie du dich selbst
liebst, so liebe deinen Nächsten. Jesus hat dieses Gebot als die
Zusammenfassung aller Gebote, des Gesetztes und der Propheten
bezeichnet.
Noch einmal: Nicht das Streben nach Anerkennung ist schlecht. Wem
aber Ruhm zukommt, der darf und soll nicht beim eigenen Ruhm stehen
bleiben. So wie ich mir Ruhm wünsche, so wünsche ich ihn auch allen
anderen. Wer selbst berühmt ist, gebraucht seinen Ruhm daher am
besten, indem er ihn einsetzt für die, die keiner hört und beachtet.
Hierfür gibt es auch heute durchaus ruhmreiche Beispiele. Ruhm,
Weisheit, Stärke und Reichtum sollen eben nicht allein der
Stabilisierung der eigenen Machtposition dienen, sondern beinhalten
ihrem Wesen nach soziale Verantwortung. Sie verpflichten, die
Lebensqualität der Benachteiligten zu fördern. Wer das nicht
einsieht, missbraucht seine Gaben.
Denn der Mensch ist eben nicht autark. Sogar sein Leben ist ihm
geschenkt und verdankt sich Bedingungen, zu denen er nichts
beitragen kann. Und auch die Vernunft hat er nicht selbst erfunden.
Diese Einsicht will Jeremia befördern, wenn er den nur um ihre
eigene Macht und um sich selbst kreisenden Eliten seiner Zeit Gott
in Erinnerung ruft. Und zwar nicht irgendeinen abstrakten
Potentaten, der in seiner unendlichen Ferne und Herrlichkeit ruht,
sondern einen nahen und zugewandten Gott, der vom Guten nicht nur
redet und predigt, sondern Barmherzigkeit und Recht und
Gerechtigkeit übt. Und nicht nur für sich selbst, um gut dazustehen,
sondern für alle Menschen.
Der tiefste Grund, den allein um sich selbst kreisenden Ruhm und den
dazugehörigen Menschen zu kritisieren, liegt deshalb bei Gott
selbst, „der seinem Volk Israel Gemeinschaftssinn bewährt und
darüber hinaus in der Welt Recht und Gerechtigkeit … garantiert.
Ironisch ist der Hinweis … insofern, als er zu selbstbezogenem Stolz
gerade kein Motiv bietet: wenn Gott es ist, der der Wirklichkeit
ihren Logos einprägt, verdankt die Vernunft ihren Stoff nicht sich,
sondern einer Ordnungsfähigkeit der Welt, die als Zeichen der
Herrschaft Gottes und seines Zugewandt-Seins zum erkennenden
Menschen erfahren werden kann. … Es ist der Gott der Offenbarung,
der die menschliche Vernunft zu ihrem Weltumgang ermächtigt.“
(Hans-Peter Müller, GPM 4/1987, Heft 1, S. 120 ff)
Eine Vernunft, die nur um sich selbst kreist und den Kontext, den
Zusammenhang mit Gott, der Welt, den Mitmenschen und allen
Mitgeschöpfen verliert, hat ihr eigenes Wesen nicht verstanden. Der
Mensch, der nur um sich selbst kreist, weiß nicht, wer er ist. Gier,
Maßlosigkeit, Geiz, Rücksichtslosigkeit und was der blanken Egoismen
mehr sind, sind daher im Grunde keine moralischen, sondern
intellektuelle Defizite. Dies gilt leider auch für den ach so
aufgeklärten modernen Menschen. Im Grunde ist der Mensch, der
solches treibt, nicht unmoralisch, sondern dumm.
Wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug sei und
mich kenne, dass ich der HERR bin. Im Unterschied zum Dummen ist der
kluge Mensch ein Mensch, der Gott kennt und deshalb mehr von Gott zu
sagen weiß, als dass er existiert. Er weiß zu sagen, dass Gott ein
Gott ist, der Barmherzigkeit, Recht und Gerechtigkeit übt auf Erden.
Er kennt Gott als einen, der in dem Maße, in dem er sich selbst
liebt, auch seine Kreaturen liebt. Er kennt Gott als einen, der in
dem Maße, in dem er bei sich selbst ist, auch bei seinen Menschen
sein möchte. Weil ihm das gefällt. Weil ihm das auch noch Freude
macht.
Und so leitet uns unser heutiger Predigttext tatsächlich in die
Passionszeit, wo wir über das menschgewordene Wort Gottes, den
Logos, den Christus nachdenken. In ihm zeigt sich Gott als der Gott
im Übermaß der Empathie. In ihm zeigt sich Gott als der Gott, der
sein Leben liebt, aber unseres noch mehr. So viel mehr, dass er sein
Leben schließlich dem Tod in den Rachen wirft, um unseres zu retten.
In Christus zeigt sich Gott nicht einfach als leidensfähig, sondern
als mitleidensfähig. Diese Geschichte wird – anders als damals die
Geschichte des Volkes Israel – gut ausgehen. Dem lebendigen Gott
gehört die Zukunft von allem. Deshalb lohnt es sich die
Mitleidensgeschichte des Christus zu betrachten: Damit wir Hoffnung
gewinnen; damit wir getröstet werden. Und auch: Damit wir nicht dumm
bleiben.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
22 So spricht der HERR: Ein Weiser rühme
sich nicht seiner Weisheit, ein Starker rühme sich nicht seiner
Stärke, ein Reicher rühme sich nicht seines Reichtums.
23 Sondern wer sich rühmen will, der rühme sich dessen, dass er klug
sei und mich kenne, dass ich der HERR bin, der Barmherzigkeit, Recht
und Gerechtigkeit übt auf Erden; denn solches gefällt mir, spricht
der HERR.
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