Liebe Leser,
Sören Kierkegaard schreibt in seiner
philosophisch-literarischen Schrift „Die Wiederholung“:
„Weh dem! der Witwen und Waisen frißt und sie um ihr Erbe betrügt,
aber wehe auch dem! der den Trauernden auf subtile Weise um den
einstweiligen Trost der Trauer, sich Luft zu machen und mit Gott zu
hadern, betrügen will. Oder ist die Gottesfurcht in unserer Zeit
vielleicht so groß, daß der Trauernde die Dinge nicht braucht, die
in jenen alten Tagen Sitte waren? Wagt man vielleicht nicht, vor
Gott zu klagen? Ist also die Gottesfurcht größer geworden oder die
Furcht und die Feigheit? Heutzutage meint man, der eigentliche
Ausdruck der Trauer, die verzweifelte Sprache der Leidenschaft müsse
den Dichtern überlassen bleiben, die nun, wie Winkeladvokaten bei
einem erstinstanzlichen Gericht, vor dem Richterstuhl des
menschlichen Mitleids die Sache des Leidenden vertreten. Weiter wagt
sich niemand. Sprich du deshalb, unvergeßlicher Hiob!‘
Natürlich haben Christen ihren Protest gegen Gott formuliert, doch
spielte dieser Affekt weder in der christlichen Theologie noch in
der liturgischen Praxis der Kirche eine Rolle. Hiob, so bemerkte
Immanuel Kant‚ würde wahrscheinlicher Weise vor einem jeden Gerichte
dogmatischer Theologen, vor einer Synode einer Inquisition, …, oder
einem Oberkonsistorium, ein schlimmes Schicksal erfahren haben.‘ Die
Hintergründe und Ursachen dieser Verdrängung sind inzwischen
mehrfach untersucht worden, und in den letzten Jahren finden sich
insbesondere in Deutschland manche Ansätze für eine christliche
Theologie, die die Auflehnung gegen Gott als Moment der Frömmigkeit
anerkennt und die Klage für die Liturgie zurückzugewinnen sucht, so
bei … Johann Baptist Metz: ‚Ist womöglich zu viel Gesang und zu
wenig Geschrei in unserem Christentum? Zu viel Jubel und zu wenig
Trauer, zu viel Zustimmung und zu wenig Vermissen, zu viel Trost und
zu wenig Tröstungshunger?‘ fragt Metz: ‚Steht die Kirche nicht zu
sehr auf der Seite der Freunde Hiobs selbst, der dem Glauben auch
Rückfragen an Gott zugetraut hat?‘“ (zitiert bei Navid Kermani, Der
Schrecken Gottes, Beck 2011)
Wie wir im Predigttext gehört haben, steht Hiob in der Bibel nicht
allein. Ihm zur Seite steht der Prophet Jeremia, der 40 Jahre lang
Gott seinen Mund geliehen hat und dafür nicht nur seinen Kopf,
sondern seine gesamte Existenz hinhalten musste. Rilke hat seine
Worte als Gedicht geschrieben:
„Welchen Mund hast Du mir zugemutet,
damals, da ich fast ein Knabe war:
eine Wunde wurde er: nun blutet
aus ihm Unglücksjahr um Unglücksjahr.
Täglich tönte ich von neuen Nöten,
die du, Unersättlicher, ersannst,
und sie konnten mir den Mund nicht töten;
sieh du zu, wie du ihn stillen kannst.“
(Rilke, Die Gedichte, Frankfurt 1986, S. 188)
Gott hat Jeremia getäuscht und betrogen. Und Jeremia sagt es Gott
ins Gesicht. Jeremia schmeißt ihm die Brocken hin. Jetzt ist Gott am
Zug. Denn eins dürfen wir nicht übersehen: Die wüste Anklage, die
Jeremia Gott entgegenschleudert, ist etwas anderes als der flache
und beleidigte Atheismus der Zeitgenossen, die sich von Gott
abwenden, weil der Glaube ihnen nicht das bringt, was sie sich von
ihm versprochen haben. Jeremia sagt es selbst: „Da dachte ich: Ich
will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in seinem Namen
predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein brennendes Feuer, in
meinen Gebeinen verschlossen, dass ich's nicht ertragen konnte; ich
wäre schier vergangen.“ Ja, wo soll man sich denn hinwenden, mit
seinem Schmerz, mit seiner Enttäuschung, mit seiner Wut, mit seiner
Trauer, wenn nicht an den Gott, der der Grund von allem ist? Das ist
die Krux des Glaubens an den einen Gott, dass es keinen anderen
gibt! Und so bleibt auch Jeremia, in dessen Herz die Sehnsucht nach
Gott durch alles Leid kein bisschen kleiner, sondern umso größer
geworden ist, die Flucht in den Atheismus verbaut. Ihm bleibt nur
die Häresie, die die Kirche bekämpft, aber mit der Gott – wir ahnen
es - ganz anders umgeht.
Von Menschen wie Hiob und Jeremia gilt vielmehr, was der Orientalist
Navid Kermani in seinem Buch „Der Schrecken Gottes“ schreibt: „(Sie)
verlieren nicht den Glauben an Gott, wenn sie gegen Ihn aufbegehren;
in ihrer Verzweiflung sind sie religiöser als die Gläubigen, die
Gott preisen, aber vor den realen Verhältnissen Seiner Schöpfung die
Augen verschließen. Die über das übliche Maß lieben, wagen es, den
Gott einzufordern, wie Er sich selbst offenbart hat. Schließlich hat
Gott seine Wette gegen Satan nicht verloren: Daß Hiob gegen Gott
rebelliert, bedeutet nicht, daß er Ihn leugnet. Ungehorsam wird hier
zu einem Akt der Fügung, denn indem der Mensch sich von Gott
emanzipiert, wird er gottgefällig.“ (Kermani aaO.)
Das Judentum, besonders die chassidische Tradition, hat es gewusst,
die islamische Mystik hat es gewusst, aber das moderne Christentum,
das aufgeklärt sein will, will davon nichts mehr wissen. Man kann
und will mit solchem Dunkel nichts mehr anfangen. Da wundert es
nicht, dass dieser Tage das Hauptthema der Christenheit der
Rücktritt eines 85jährigen Papstes ist, den man aus guten Gründen
für einen ernsthaften Christenmenschen halten kann, und der sich nun
in einen luxuriösen Ruhestand verabschiedet. Und man muss nicht
einmal ein evangelischer Prophet sein, um klar und deutlich zu sehen
und zu sagen, dass uns dadurch gar nichts fehlt und dass wir
Evangelischen vom neuen Papst nicht das Geringste erwarten, weil wir
weder einen Stellvertreter Christi auf Erden brauchen, noch eine
Kirche, die sich als Heilsvermittlerin zwischen Gott und die
Menschen stellt.
Aber nicht einmal eine solch einfache evangelische Wahrheit ist
unter den Protestanten dieser Tage noch erschwinglich, weil die sich
inzwischen lieber um ihr Publikum, statt um Gott und sein Wort
kümmern. Alles wird passend gemacht, sogar Martin Luther und die
Toleranz. Wie niederschwellig, flach und beliebig muss denn unser
Glaubenszeugnis vor der Welt noch werden? Wie lange wollen wir uns
denn die Gewalt noch gefallen lassen, mit der uns Kirchenleitungen
ihre platten Marketingkonzepte und Strukturreformen vorschreiben,
weil angeblich nur so die Kirche wieder erfolgreich werden kann?
Kierkegaard hat recht, und jeder kann es sehen: Hier ist nicht die
Gottesfurcht größer geworden, sondern die Angst und die Feigheit.
Wer sich und andere zum Erfolg verdammt, wird blind und taub für das
Evangelium.
Vor allem für das Evangelium des Christus, dessen Leben auf dieser
Welt kein Triumphzug war, sondern am Kreuz mit einem Schrei aus der
Gottverlassenheit endete. Wir tun in dieser Passionszeit gut daran,
das Leiden des Christus einmal mit den Augen und Ohren eines Hiob
oder eines Jeremia zu hören und zu betrachten. Die hätten bestimmt
nicht geschmacklich beleidigt auf diesen Leidensweg geschaut und
nach Tilgung dieser Geschichte aus dem christlichen Repertoire
gerufen, sondern den Weg des Christus mit höchster Aufmerksamkeit
verfolgt. Die hätten wahrgenommen, wie Jesus auf dem Weg nach
Jerusalem die Armen am Straßenrand nicht mit frommen Sprüchen
abspeist, sondern gesund macht. Die hätten verstanden, das Jesus in
Gethsemane vor lauter Angst Blut schwitzt. Die hätten gebetet, als
der Christus stirb, die letzte Häresie auf den Lippen. So fuhr er
zur Hölle. Und dann war Gott am Zug.
„Rabbi Mosche Löb, über dessen Sanftmut die kuriosesten Geschichten
erzählt werden, schwor, nach dem Tod so lange in der Hölle
auszuharren, bis er alle Bewohner der Hölle mitnehmen könne. … Für
den Psalmvers ‚Wohl dem, den du, Herr, züchtigst‘ (Ps. 94,12)
bevorzugte der Rabbi eine andere Lesart: ‚Wohl dem, der wagt, Gott
zu züchtigen.‘ Als in einer Familie mehrere Kinder in frühem Alter
starben, wandte sich die Mutter an die Frau des Rabbi: ‚Was für ein
Gott ist denn der Gott Israels? Er ist grausam und nicht barmherzig.
Er nimmt, was Er gegeben hat.‘ So dürfe man nicht reden, wiegelte
die Frau des Rabbi ab; unergründlich seien die Wege des Herrn, der
Mensch müsse lernen, sein Schicksal anzunehmen. In diesem Augenblick
erschien Rabbi Löb auf der Türschwelle und rief der trauernden
Besucherin zu: ‚Und ich sage dir, Frau, man muß es nicht annehmen!
Man muß sich nicht unterwerfen. Ich rate dir, zu rufen, zu schreien,
zu protestieren, Gerechtigkeit zu fordern, verstehst du mich, Frau?
Man darf es nicht annehmen!‘“(Kermani, aaO.)
Denn dann ist Gott am Zug!
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche
Hof) (weitere Predigten von
Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de)
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Text:
7 HERR, du hast mich überredet und ich habe
mich überreden lassen. Du bist mir zu stark gewesen und hast
gewonnen; aber ich bin darüber zum Spott geworden täglich, und
jedermann verlacht mich.
8 Denn sooft ich rede, muss ich schreien; »Frevel und Gewalt!« muss
ich rufen. Denn des HERRN Wort ist mir zu Hohn und Spott geworden
täglich.
9 Da dachte ich: Ich will nicht mehr an ihn denken und nicht mehr in
seinem Namen predigen. Aber es ward in meinem Herzen wie ein
brennendes Feuer, in meinen Gebeinen verschlossen, dass ich's nicht
ertragen konnte; ich wäre schier vergangen.
10 Denn ich höre, wie viele heimlich reden: »Schrecken ist um und
um!« »Verklagt ihn!« »Wir wollen ihn verklagen!« Alle meine Freunde
und Gesellen lauern, ob ich nicht falle: »Vielleicht lässt er sich
überlisten, dass wir ihm beikommen können und uns an ihm rächen.«
11 Aber der HERR ist bei mir wie ein starker Held, darum werden
meine Verfolger fallen und nicht gewinnen. Sie müssen ganz
zuschanden werden, weil es ihnen nicht gelingt. Ewig wird ihre
Schande sein und nie vergessen werden.
12 Und nun, HERR Zebaoth, der du die Gerechten prüfst, Nieren und
Herz durchschaust: Lass mich deine Vergeltung an ihnen sehen; denn
ich habe dir meine Sache befohlen.
13 Singet dem HERRN, rühmet den HERRN, der des Armen Leben aus den
Händen der Boshaften errettet!
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