Liebe Leser, trotz ihres hohen Alters
– sie war 91 Jahre alt – war sie noch gut auf den Beinen. Mit 25
Besuchern aus Hof stieg sie die Katakomben der St.
Peter-und-Paul-Kirche in St. Petersburg hinunter, vorbei an
Kachelwänden und dicken Betonböden – jenen stummen Zeugen der
Vergewaltigung dieser Kirche - und ihrer Gemeinde! Margarete
Schulmeisters Stimme war immer noch klar und fest. Immerhin ist sie
Lehrerin gewesen und auch heute noch verdient sie sich ein kleines
Zubrot mit Unterrichten. Sie erzählte uns die Geschichte der
evangelisch-lutherischen Gemeinde in St. Petersburg, die Ende des
19. Jahrhunderts ca. 150.000 deutsche Gemeindeglieder zählte. Im
Gefolge der russischen Revolution 1917 wurden sie alle in Straflager
nach Sibirien verbannt. Und die St. Peter-und-Paul-Kirche wurde
umgebaut in ein Schwimmbad. An den Wänden in den Katakomben hat ein
Russland-Deutscher Verbannung und Exil in mehreren eindrücklichen
Bildern festgehalten: die sofortige Erschießung des Pfarrers und
seiner Frau; den „Abriss“ der Kirche und die Entfernung ihres
Kreuzes; die Verladung auf vollgepferchte Waggons; die Mütter, die
während des Transports ihre kranken Kinder einfach neben den
Schienen „ablegen“ mussten; das Arbeitslager in sibirischer Kälte
von -40 Grad; die 12 Stunden täglicher Arbeit und der ständige
Hunger! Als Margarete Schulmeister von den „abgelegten“ Kindern
erzählte, stockte ihre Stimme. Während dieser wenigen Sekunden wuchs
in mir eine annähernde Vorstellung davon, welche furchtbaren
Tragödien sich hinter Worten wie „Verbannung“ und „Exil“ abspielen.
„Sie saßen an den Wassern von Babylon und weinten.“ Aus der Zeit von
Verbannung und Exil stammt auch unser heutiger Predigttext. Die
Tragödien, die sich damals in Israel abgespielt haben, können wir
heute nur annähernd erahnen: Krieg im eigenen Land, in der eigenen
Stadt, Tote, schreiende Verwundete, Hinrichtungen, Zerstörungen -
all das kennen wir in Deutschland Gott sei Dank seit vielen
Jahrzehnten nicht mehr. Freilich – wir sehen es immer wieder in den
Nachrichten aus aller Welt! Für das Volk Israel war es damals, 596
v. Chr. die größte denkbare Katastrophe überhaupt. Sie verloren
alles: Ihre Freiheit, ihre Hauptstadt und damit ihre
Eigenstaatlichkeit, ihren Tempel und damit ihren Glauben, ihre
Heimat und damit ihre Wurzeln. Viele verloren ihr Leben. Und der
Rest hatte auf den Hungermärschen ins Feindesland nur noch Schmerz
und Verzweiflung im Herzen. „Sie saßen an den Wassern von Babylon
und weinten.“ Und die anderen fluchten: „Tochter Babylon, du
Verwüsterin, wohl dem, der deine jungen Kinder nimmt und sie am
Felsen zerschmettert.“ (Psalm 137. 8f).
Der Prophet Jeremia schreibt denen im fremden Land einen
leidenschaftlichen Brief, einen ungewöhnlichen Brief. Einen
Trostbrief im besten Sinne. Einen Mut-Mach-Brief an seine
verzweifelten und hoffnungsleeren Volksgenossen. Seine Zeilen sind –
man höre und staune - eine Aufforderung zum radikalen Umdenken:
Text (siehe rechte Spalte)
Ich habe in diesem Brief drei Entdeckungen gemacht.
Meine erste Entdeckung: Glaubensmut!
Wir modernen Menschen tun uns schwer, zu verstehen, was es für den
antiken Menschen bedeutete, wenn der Tempel zerstört wurde. Für das
Volk Israel damals bedeutete die Zerstörung des salomonischen
Tempels jedenfalls die Zerstörung des Heiligen selbst! Der Ort der
Gegenwart Gottes war verloren gegangen. Wie erschütternd das sein
kann, erahnte ich, als ich in St. Petersburg die zu einem Schwimmbad
umgebaute Kirche von St. Peter und Paul gesehen habe. – Aber dass
Gott auch ohne Tempel erfahren und verehrt werden kann, das war in
Israel damals revolutionär! Dass Gott kein Provinzgott ist, sondern
der Gott aller Menschen, überall! Kein nationaler, kein deutscher,
kein amerikanischer oder russischer Gott. Nein, der eine Gott, der
sich überall, an jedem Winkel dieser Erde suchen und finden lassen
will! Unwillkürlich steigt jenes Bild vor meinen Augen auf, das
jener Russlanddeutsche in den Katakomben der St. Peter und Paul
Kirche gemalt hat: Wie sie heimlich im Strafgefangenenlager ohne
Pfarrer das Abendmahl gefeiert haben.
Meine zweite Entdeckung: Liebesmacht!
Jeremia setzt an die Stelle von Hass, Zorn und Rache der
Verbitterten die Liebe zu denen, die ihre bittere Lage verursacht
haben: „Betet für das Glück Babylons und kümmert euch um ihr
Wohlergehen.“ Liebe als Feindesliebe - eine revolutionäre Botschaft,
die auch uns Heutigen direkt zu unserem Herrn Jesus Christus führt.
Liebet eure Feinde! Christus hat es uns vorgelebt. Er hat uns dabei
nicht unbedingt Erfolg versprochen, aber dafür Reichtum bei Gott und
Schätze im Himmel.
Meine dritte Entdeckung: Hoffnungskraft!
Jeremias Brief gibt eine lebendige Anschauung davon, dass Gottes
Geist Nüchternheit und Realitätssinn bewirkt. Er rät, die Gegenwart,
die Verbannung und das Exil anzunehmen. Und er warnt davor, sich
Illusionen zu machen, auf billige Vertröster hereinzufallen oder
sich in Nostalgie zu flüchten.
Mit diesen drei Entdeckungen wage ich jetzt Ungewöhnliches. Ich
schreibe einen neuen Brief des Jeremia an uns heute. Ich vertraue
darauf, dass Jeremia nichts dagegen hätte, unseren Glaubensmut,
unsere Liebesmacht und unsere Hoffnungskraft zu stärken:
„Liebe christliche Gemeinde, ich habe eine Botschaft für euch. Es
ist jene, die ich meinen Landsleuten im Exil mit Herzblut und
Leidenschaft in ihr Herz geschrieben habe. Ihr habt den Eindruck,
dass es schon länger bergab geht mit der Kirche. Vielleicht fühlt
ihr euch mitunter als Babylon-Bürger im fremden Land. Der
christliche Glaube wird zwar geduldet, aber mehr als Relikt
vergangener Zeiten und als Angelegenheit von Sonderlingen, die nicht
auf der Höhe der Zeit sind. Vielleicht empfindet ihr das als
Verbannung aus der Welt von früher, wo Glauben noch
selbstverständlich war. Wo er das Leben bestimmte und Heimat war für
alle.
Es wird viel darüber geschrieben und geredet, dass ihr eine
aussterbende Spezies seid. In Familien wird kaum noch gebetet,
selten auch über Bibel und Glaube gesprochen. Kreuze sind aus
Klassenzimmern verschwunden. Kirchenaustritte machen Schlagzeilen.
Ihr erlebt Gottesdienste in so mancher Kirche mit nur 10-20
Menschen, meist ältere und kaum junge. Und ihr hört immer wieder,
wie darüber gespottet wird! Ihr erlebt das als Verlust. Gerade die
Älteren beklagen das. Aber so erging es damals meinen Landsleuten
auch, als der Tempelkult nach der Zerstörung des Tempels aufhörte.
Ihr seid also nicht viel besser und nicht viel schlechter dran als
sie. Damals habe ich die Verängstigten vor den Vertröstern gewarnt.
Die redeten ein schnelles Ende ihres beklagenswerten Zustandes
herbei. „Alles wird bald ein Ende haben.“ Sie streuten ihnen Sand in
die Augen. Sie machten sich Illusionen. Und gaben ihre Stimme als
Gottes Stimme aus.
Euch sage ich: Das, was euch beunruhigt, wird anhalten! Es gibt kein
Zurück auf dieser Welt. Misstraut denen, die euch mit frommen
Sprüchen besänftigen wollen oder dauernd von den guten alten Zeiten
reden, wo alles besser war. Sie gaukeln euch vor, dass alles bald
wieder so sein kann, wie es früher war. Mit frommem Augenaufschlag,
aber mit einer trügerischen Sicherheit. Diese Sicherheit gibt es
nicht, weil die Welt sich immer nach vorn bewegt. Wie damals sage
ich zu euch im Namen Gottes: Bleibt nüchtern. Haltet eure Lage nicht
nur aus, auch wenn es anstrengend ist, sondern macht euch nützlich!
Mischt euch ein! Baut Häuser, pflanzt Bäume, legt Gärten an, erntet
die Früchte! Sagt nie: Ich bin zu schwach. Ich alleine kann doch
nichts ändern. Sagt nie: Wir sind zu wenige. In jüdischer Tradition
heißt es: Es genügen zwei, um eine Sache zu verändern. Denn ihr habt
einen Auftrag und eine Aufgabe mit eurem Leben. Gott hat jeden von
euch dazu erwählt und berufen, das Seine zu tun, was kein anderer
kann.
Wie damals sage ich euch heute: Ihr sollt Kinder haben und mit ihnen
leben. Es gibt zu viele, die meinen, in diese Welt könne man keine
Kinder setzen. Bedenkt: Jedes Kind, das geboren wird, ist ein
göttliches Zeichen aus einer anderen Welt. Jedes Kind ist ein
Bekenntnis zu der Hoffnung, dass unsere Erde nicht von uns ins Chaos
gestürzt wird, sondern dass sie ein Ort bleibt, wo das Leben blühen
kann in seiner Fülle und Vielfalt.
Ich sage zu euch, die ihr in Christus so viel Liebe erfahren habt,
sodass ihr viel von der Feindesliebe versteht: Setzt euch für den
Frieden ein, mit euren Möglichkeiten und in euren Grenzen. „Der
Weltfriede fängt in den Herzen der Menschen an“, hat ein kluger Mann
gesagt. Das Herz steht für euren Willen und für euer Wollen. Also
haltet und macht Frieden mit euren Gegnern, mit den Fremden bei euch
und, so ihr habt, mit euren Feinden. Das ist die einzige
Lebenschance in eurer so komplizierten und gefährdeten Welt. Und
lernt immer mehr, dass ihr Frieden nie gegen eure Feinde, sondern
nur mit ihnen machen könnt. Ihr wisst ja: Auch beten könnt ihr nie
gegen andere. Ihr betet immer nur für andere. Wer für andere betet,
handelt eben auch anders als bisher oder üblich.
Und haltet an der Hoffnung fest. Klammert euch an sie, auch wenn ihr
euch verloren vorkommt. Auch wenn ihr das Gefühl habt, Gott selbst
sei ins Exil ausgewandert. Sagt nie: Ich habe keine Hoffnung mehr.
Hoffnung ist eine Lebenskraft, die Gott nie garantiert und die ihr
nie als Besitz habt. Ringt und betet um sie. Denn: „Wenn ihr mich
von ganzem Herzen suchen werdet, so will ich mich von euch finden
lassen. Denn ich habe Gedanken des Friedens und nicht des Leides,
dass ich euch gebe das Ende, auf das ihr voller Sehnsucht wartet.“
Zum Schluss: Ihr sollt wissen, dass meine Landsleute dieses
versprochene Ende ihres Exils nach 60 Jahren erlebt haben. Euer
Jeremia.“
Nachwort: Nach 20 Jahren Verbannung in Sibirien durfte Margarete
Schulmeister in ihre Heimat nach St. Petersburg zurückkehren. Am
18.10. 2013 verstarb sie im Alter von 92. Jahren. Mit ihrem
aufrechten Gang in den Katakomben der St. Peter und Paul Kirche, mit
ihrer festen und nur einmal stockenden Stimme und mit ihren
leuchtenden Augen bei der gemeinsamen Abendmahlsfeier wird sie mir
immer in Erinnerung bleiben als Zeugin von Glaubensmut, Liebesmacht
und einer Hoffnung, die nicht zuschanden werden lässt.
Pfarrer Rudolf Koller
(Hospitalkirche Hof) |
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Text:
1 Dies sind die Worte des Briefes, den der
Prophet Jeremia von Jerusalem sandte an den Rest der Ältesten, die
weggeführt waren, an die Priester und Propheten und an das ganze
Volk, das Nebukadnezar von Jerusalem nach Babel weggeführt hatte…
4 So spricht der HERR Zebaoth, der Gott Israels, zu den
Weggeführten, die ich von Jerusalem nach Babel habe wegführen
lassen:
5 Baut Häuser und wohnt darin; pflanzt Gärten und esst ihre Früchte;
6 nehmt euch Frauen und zeugt Söhne und Töchter, nehmt für eure
Söhne Frauen, und gebt eure Töchter Männern, dass sie Söhne und
Töchter gebären; mehret euch dort, dass ihr nicht weniger werdet.
7 Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe wegführen lassen, und
betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohl geht, so geht's auch
euch wohl…
10 Denn so spricht der HERR: Wenn für Babel siebzig Jahre voll sind,
so will ich euch heimsuchen und will mein gnädiges Wort an euch
erfüllen, dass ich euch wieder an diesen Ort bringe.
11 Denn ich weiß wohl, was ich für Gedanken über euch habe, spricht
der HERR: Gedanken des Friedens und nicht des Leides, dass ich euch
gebe das Ende, des ihr wartet.
12 Und ihr werdet mich anrufen und hingehen und mich bitten, und ich
will euch erhören.
13 Ihr werdet mich suchen und finden; denn wenn ihr mich von ganzem
Herzen suchen werdet,
14 so will ich mich von euch finden lassen, spricht der HERR, und
will eure Gefangenschaft wenden und euch sammeln aus allen Völkern
und von allen Orten, wohin ich euch verstoßen habe, spricht der
HERR, und will euch wieder an diesen Ort bringen, von wo ich euch
habe wegführen lassen.
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