Liebe Leser,
es war ein abgegriffener Zettel, den Munnicher
dem einarmigen Apotheker hinhielt. Munnicher trug das aus einem
Notizbuch gerissene Blatt schon seit Wochen in der Jackentasche und
hatte oft danach gegriffen. Ein paar Gifte standen darauf.
Pflanzenschutzgifte, die Erwachsenen ohne Umstände verkauft werden.
Munnicher wollte das Gift nicht für Pflanzen. Munnicher wollte es
für sich, für die zertretene, weggeworfene Menschenpflanze
Munnicher. Er war in diese abgelegene Apotheke gegangen, weil er in
den kaltprächtigen Medikamentenpalästen aus Plastikmasse, Nickel und
Neon seinen Wunsch nicht vorbringen mochte. „Eins davon“, sagte er.
Der Apotheker schaute Munnicher vom zurückweichenden Haaransatz bis
zum nachlässig gebundenen Schlips an. Er merkt, dass ich aus dem
Gefängnis komme, dachte Munnicher. Er sieht es an dieser
ausgebleichten Haut, in der jede Pore drei Jahre lang nach Sonne
geschrien hat. Aber heute Nacht kommt die Sonne ja, dachte er. Dann
kommt die große Helle von innen.
„Sind aber verschieden stark“, sagte der Apotheker. „Das stärkste“,
verlangte Munnicher. Der Apotheker nickte und stieg auf eine Leiter.
Bei jeder Stufe ruderte er mit dem rechten Arm durch die Luft. Sieht
komisch aus, wenn ein Einarmiger 'ne Leiter raufsteigt, dachte
Munnicher. Der Alte kramte in einigen Paketen. Munnicher fühlte sich
beobachtet. Aber der Alte schaute nur auf seine Fläschchen und
Schachteln. Da sah Munnicher das Mädchen hinter der Waage im
angrenzenden Raum. Er sah es durch die geöffnete Tür. Er sah, wie es
blaue Tütchen mit hellrotem Pulver füllte und abwog. Das Mädchen -
achtzehn ist es, dachte Munnicher - ließ die Waage auszittern und
tat nichts. Es schaute Munnicher an. Man erkennt von hier aus; dass
es braune Augen hat; wieso erkennt man das von hier aus, fragte sich
Munnicher betroffen. Er hob ein wenig die Hand und winkte. Seh'
sicher aus wie ein Pinguin, dachte er. Aber da hob das Mädchen das
blaue Tütchen und winkte auch.
Der Alte ruderte die Leiter wieder herunter. „Hier“, sagte er. „Mit
vier Liter Wasser verdünnen.“ „Werd's schon richtig machen“, sagte
Munnicher. „Klar“, sagte der Alte. „Fünfsechzig.“ Munnicher zahlte.
Er wollte noch einmal zu dem Mädchen hinüberschauen, aber der
Einarmige verdeckte die Tür. Munnicher war versucht, noch eine
Schachtel Hustenbonbons oder so etwas zu verlangen, nur, damit der
Alte ihm aus der Sicht ging. Dann dachte er: Mätzchen! Früher hätte
ich so etwas gemacht. Ganz früher. Vor drei Jahren. Er ging.
„Wiederschauen“, sagte der Einarmige leirig.
Munnicher hatte sich auf das Bett gelegt. Er trank die braune
Flüssigkeit. Schmeckt pappig, dachte er. Ich habe immer geglaubt,
das Zeug ätzt und würgt. Aber es schmeckt pappig. Schmeckt pappig im
Hals, doch nicht im Magen. Merkst du's, Munnicher, dachte er und
legte sich auf die Seite. Merkst du, wie dein Magen zerfressen wird?
Ich hätte mich vorher noch rasieren sollen. Wenn morgen einer vom
Bestattungsinstitut in meinem kalten Gesicht umherwirkt? Pfui
Teufel! Rasieren hätte ich mich sollen, dachte er. Stundenlang
dachte er es.
Der Morgen hatte die alte Apotheke nicht viel heller gemacht.
Munnicher war noch immer nicht rasiert, als er den Apotheker fragte:
„Was haben Sie mir da für ein verdammtes Zeug angedreht?“ „Wasser“,
sagte der Alte. „Wasser mit einem Schuss Gurgellösung, gegen
Mandelentzündung.“ „Was sollte das?“ fragte Munnicher. „Ja, was
sollte das?“ fragte der Einarmige und ließ ihn nicht mit dem Blick
los. Munnicher senkte den Kopf. „Ich verkaufe keine Gifte in meiner
Apotheke“, sagte der Alte. „Von hundert Verkäufen kriege ich nur
vierzehn Reklamationen. Das ist doch ein gutes Verhältnis, nicht
wahr? Hundert Leute tragen Wasser statt Gift nach Hause, und nur
vierzehn beschweren sich. Und diese vierzehn schicke ich woanders
hin, wenn sie wollen. Manche wollen nicht mehr. Das Geld bekommen
sie natürlich wieder zurück. Auch Sie.“
Der Alte schlurfte zur Leiter. Munnicher schaute wieder durch die
Verbindungstür. Das Mädchen war nicht da. Im Spiegel fing sich
umgekehrt der Name der Apotheke: „Vita Nova“, hieß sie. („Neues
Leben“) „Wollen Sie noch etwas?“ fragte der Alte. „Ja“, sagte
Munnicher. „Hustenbonbons.“ (Geschichten zum Nachdenken, L. Graf, M.
Linhard und R. Pertsch (Hrsg.), Kaiser/Grünwald; 5. Auflage 1984, S.
99f.)
Liebe Gemeinde, wie Munnicher am Boden zerstört war das Volk Israel,
als der Prophet Jesaja seine Trostworte an die Menschen im
babylonischen Exil richtete. Er erinnert sie an die alte Geschichte,
an den alten Bund, an die erste Konfirmation, in der wohl, wie bei
unserer, nicht so sehr wir die eigentlich Handelnden waren, sondern
Gottes Versprechen im Mittelpunkt stand. Ich will dich segnen und du
sollst ein Segen sein. Ich bin euer Gott und ihr seid mein Volk.
Was ist daraus Segensreiches geworden? Allerhand. Aber das
Gottesvolk muss einsehen, dass es Gottes Versprechen, seine Treue
oft vergessen, oft geringgeschätzt und manchmal grob missachtet hat;
ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war,
spricht der HERR. Das Volk Israel hat lange gebraucht und sehr
schmerzliche Erfahrungen machen müssen, bis es die Größe fand zu
sagen: Selbst schuld. Nein, es waren nicht die Philister, die
Hetiter, die Edomiter, die Assyrer und die Babylonier. Wir waren
selbst schuld.
Ob die Geschichte des biblischen Gottesvolkes mit Ihrer ganz
persönlichen Geschichte etwas zu tun hat, müssen Sie ganz allein
selbst entscheiden. Mir jedenfalls geht es so, dass ich diese
biblische Geschichte auch deshalb immer so ansprechend und spannend
finde, weil ich mich in ihr wiederfinden kann. Und deshalb sollten
wir sie nicht zum alten Eisen legen, wie das in der christlichen
Auslegungstradition auch mit unserem Predigttext immer wieder
geschah. Der neue Bund kam mit Jesus Christus. Der hatte das
Himmelreich gepredigt und was dann kam, war die Kirche. Und aus
deren Geschichte gibt’s ja wohl genug genauso üble Geschichten zu
erzählen, wie vom biblischen Gottesvolk. Alles, Gott sei Dank, auch
schon Vergangenheit.
Damit würden wir uns aber um die eigentliche Pointe unseres heutigen
Predigttextes bringen. Die jüdische Auslegungstradition begreift
diese Jesajaworte bis heute völlig zu Recht als eschatologische
Rede. Und wir sollten das auch tun. Hier wird nicht von der
Vergangenheit, sondern von der Zukunft geredet. Hier wird mit jedem
Wort gesagt: Gottes Land ist die Zukunft. Unsere Zukunft. Wie alt
wir auch sein mögen und was immer wir hinter uns haben. Der neue
Bund verheißt neues Leben, weil Gott will, dass dem Leben die
Zukunft gehört, in Ewigkeit, Amen.
Und deshalb redet Gott in den Worten des Propheten nicht auf das
durch eigene Schuld und Schicksal gebeutelte Volk ein. Er rechnet
nicht mit ihm ab, gibt ihm keine Anweisung, wie es seine
Vergangenheit zu bewältigen und wie es sich in Zukunft aufzuführen
hat. Gottes Pädagogik ist eine völlig andere. Er beantwortet unsere
Abwendung nicht mit Abwendung, sondern mit noch größerer Zuwendung.
Er beantwortet unsere Untreue nicht mit Untreue, sondern mit noch
größerer Treue. Er beantwortet unsere Unmenschlichkeit mit seiner
Menschwerdung in Jesus Christus. Und diese Menschwerdung hat ja nur
das Ziel, von dem schon Jesaja spricht: Dass Gott auch in uns Mensch
wird, damit wir menschliche Menschen werden: Ich will mein Gesetz in
ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben. Und sie sollen mich
erkennen, Groß und Klein. Damit sie erkennen, wie gut ich es mit
ihnen meine und sie so Menschen werden, die es gut miteinander
meinen.
Apotheke Vita Nova, Apotheke „neues Leben“, nichts anderes ist der
neue Bund, den Gott mit uns schließt. Gott macht heil, was wir nicht
heilen können. Gott stößt uns die Tür zur Zukunft weit auf. Und er
hält es deshalb für vergebliche Mühe, dass wir uns an unserer
Vergangenheit abmühen. Gott bewältigt sie. Denn ich will ihnen ihre
Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken. Vor euch
liegt die Zukunft, die dem Leben gehört. Die wird auch der Tod, den
jeder Mensch sterben muss, nicht aufhalten.
Das ist die starke Medizin, die Gottes Wort vom neuen Bund heute für
Euch bereithält. Nehmt sie und erneuert Euer Vertrauen in Gottes
Treue. Und legt ruhig ein paar Hustenbonbons dazu. Die können nicht
schaden.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof) (weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
Text:
31 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der
HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen
neuen Bund schließen,
32 nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss,
als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein
Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war,
spricht der HERR;
33 sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel
schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein
Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen
mein Volk sein und ich will ihr Gott sein.
34 Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren
und sagen: »Erkenne den HERRN«, sondern sie sollen mich alle
erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will
ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
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