Predigt     Jeremia 31/31-34     Exaudi     13.05.18

"Vita Nova"
(Predigt zur Jubelkonfirmation
von Pfarrer Johannes Taig, Hospitalkirche Hof)
 

Liebe Leser,

es war ein abgegriffener Zettel, den Munnicher dem einarmigen Apotheker hinhielt. Munnicher trug das aus einem Notizbuch gerissene Blatt schon seit Wochen in der Jackentasche und hatte oft danach gegriffen. Ein paar Gifte standen darauf. Pflanzenschutzgifte, die Erwachsenen ohne Umstände verkauft werden. Munnicher wollte das Gift nicht für Pflanzen. Munnicher wollte es für sich, für die zertretene, weggeworfene Menschenpflanze Munnicher. Er war in diese abgelegene Apotheke gegangen, weil er in den kaltprächtigen Medikamentenpalästen aus Plastikmasse, Nickel und Neon seinen Wunsch nicht vorbringen mochte. „Eins davon“, sagte er.

Der Apotheker schaute Munnicher vom zurückweichenden Haaransatz bis zum nachlässig gebundenen Schlips an. Er merkt, dass ich aus dem Gefängnis komme, dachte Munnicher. Er sieht es an dieser ausgebleichten Haut, in der jede Pore drei Jahre lang nach Sonne geschrien hat. Aber heute Nacht kommt die Sonne ja, dachte er. Dann kommt die große Helle von innen.

„Sind aber verschieden stark“, sagte der Apotheker. „Das stärkste“, verlangte Munnicher. Der Apotheker nickte und stieg auf eine Leiter. Bei jeder Stufe ruderte er mit dem rechten Arm durch die Luft. Sieht komisch aus, wenn ein Einarmiger 'ne Leiter raufsteigt, dachte Munnicher. Der Alte kramte in einigen Paketen. Munnicher fühlte sich beobachtet. Aber der Alte schaute nur auf seine Fläschchen und Schachteln. Da sah Munnicher das Mädchen hinter der Waage im angrenzenden Raum. Er sah es durch die geöffnete Tür. Er sah, wie es blaue Tütchen mit hellrotem Pulver füllte und abwog. Das Mädchen - achtzehn ist es, dachte Munnicher - ließ die Waage auszittern und tat nichts. Es schaute Munnicher an. Man erkennt von hier aus; dass es braune Augen hat; wieso erkennt man das von hier aus, fragte sich Munnicher betroffen. Er hob ein wenig die Hand und winkte. Seh' sicher aus wie ein Pinguin, dachte er. Aber da hob das Mädchen das blaue Tütchen und winkte auch.

Der Alte ruderte die Leiter wieder herunter. „Hier“, sagte er. „Mit vier Liter Wasser verdünnen.“ „Werd's schon richtig machen“, sagte Munnicher. „Klar“, sagte der Alte. „Fünfsechzig.“ Munnicher zahlte. Er wollte noch einmal zu dem Mädchen hinüberschauen, aber der Einarmige verdeckte die Tür. Munnicher war versucht, noch eine Schachtel Hustenbonbons oder so etwas zu verlangen, nur, damit der Alte ihm aus der Sicht ging. Dann dachte er: Mätzchen! Früher hätte ich so etwas gemacht. Ganz früher. Vor drei Jahren. Er ging. „Wiederschauen“, sagte der Einarmige leirig.

Munnicher hatte sich auf das Bett gelegt. Er trank die braune Flüssigkeit. Schmeckt pappig, dachte er. Ich habe immer geglaubt, das Zeug ätzt und würgt. Aber es schmeckt pappig. Schmeckt pappig im Hals, doch nicht im Magen. Merkst du's, Munnicher, dachte er und legte sich auf die Seite. Merkst du, wie dein Magen zerfressen wird? Ich hätte mich vorher noch rasieren sollen. Wenn morgen einer vom Bestattungsinstitut in meinem kalten Gesicht umherwirkt? Pfui Teufel! Rasieren hätte ich mich sollen, dachte er. Stundenlang dachte er es.

Der Morgen hatte die alte Apotheke nicht viel heller gemacht. Munnicher war noch immer nicht rasiert, als er den Apotheker fragte: „Was haben Sie mir da für ein verdammtes Zeug angedreht?“ „Wasser“, sagte der Alte. „Wasser mit einem Schuss Gurgellösung, gegen Mandelentzündung.“ „Was sollte das?“ fragte Munnicher. „Ja, was sollte das?“ fragte der Einarmige und ließ ihn nicht mit dem Blick los. Munnicher senkte den Kopf. „Ich verkaufe keine Gifte in meiner Apotheke“, sagte der Alte. „Von hundert Verkäufen kriege ich nur vierzehn Reklamationen. Das ist doch ein gutes Verhältnis, nicht wahr? Hundert Leute tragen Wasser statt Gift nach Hause, und nur vierzehn beschweren sich. Und diese vierzehn schicke ich woanders hin, wenn sie wollen. Manche wollen nicht mehr. Das Geld bekommen sie natürlich wieder zurück. Auch Sie.“

Der Alte schlurfte zur Leiter. Munnicher schaute wieder durch die Verbindungstür. Das Mädchen war nicht da. Im Spiegel fing sich umgekehrt der Name der Apotheke: „Vita Nova“, hieß sie. („Neues Leben“) „Wollen Sie noch etwas?“ fragte der Alte. „Ja“, sagte Munnicher. „Hustenbonbons.“ (Geschichten zum Nachdenken, L. Graf, M. Linhard und R. Pertsch (Hrsg.), Kaiser/Grünwald; 5. Auflage 1984, S. 99f.)

Liebe Gemeinde, wie Munnicher am Boden zerstört war das Volk Israel, als der Prophet Jesaja seine Trostworte an die Menschen im babylonischen Exil richtete. Er erinnert sie an die alte Geschichte, an den alten Bund, an die erste Konfirmation, in der wohl, wie bei unserer, nicht so sehr wir die eigentlich Handelnden waren, sondern Gottes Versprechen im Mittelpunkt stand. Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein. Ich bin euer Gott und ihr seid mein Volk.

Was ist daraus Segensreiches geworden? Allerhand. Aber das Gottesvolk muss einsehen, dass es Gottes Versprechen, seine Treue oft vergessen, oft geringgeschätzt und manchmal grob missachtet hat; ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR. Das Volk Israel hat lange gebraucht und sehr schmerzliche Erfahrungen machen müssen, bis es die Größe fand zu sagen: Selbst schuld. Nein, es waren nicht die Philister, die Hetiter, die Edomiter, die Assyrer und die Babylonier. Wir waren selbst schuld.

Ob die Geschichte des biblischen Gottesvolkes mit Ihrer ganz persönlichen Geschichte etwas zu tun hat, müssen Sie ganz allein selbst entscheiden. Mir jedenfalls geht es so, dass ich diese biblische Geschichte auch deshalb immer so ansprechend und spannend finde, weil ich mich in ihr wiederfinden kann. Und deshalb sollten wir sie nicht zum alten Eisen legen, wie das in der christlichen Auslegungstradition auch mit unserem Predigttext immer wieder geschah. Der neue Bund kam mit Jesus Christus. Der hatte das Himmelreich gepredigt und was dann kam, war die Kirche. Und aus deren Geschichte gibt’s ja wohl genug genauso üble Geschichten zu erzählen, wie vom biblischen Gottesvolk. Alles, Gott sei Dank, auch schon Vergangenheit.

Damit würden wir uns aber um die eigentliche Pointe unseres heutigen Predigttextes bringen. Die jüdische Auslegungstradition begreift diese Jesajaworte bis heute völlig zu Recht als eschatologische Rede. Und wir sollten das auch tun. Hier wird nicht von der Vergangenheit, sondern von der Zukunft geredet. Hier wird mit jedem Wort gesagt: Gottes Land ist die Zukunft. Unsere Zukunft. Wie alt wir auch sein mögen und was immer wir hinter uns haben. Der neue Bund verheißt neues Leben, weil Gott will, dass dem Leben die Zukunft gehört, in Ewigkeit, Amen.

Und deshalb redet Gott in den Worten des Propheten nicht auf das durch eigene Schuld und Schicksal gebeutelte Volk ein. Er rechnet nicht mit ihm ab, gibt ihm keine Anweisung, wie es seine Vergangenheit zu bewältigen und wie es sich in Zukunft aufzuführen hat. Gottes Pädagogik ist eine völlig andere. Er beantwortet unsere Abwendung nicht mit Abwendung, sondern mit noch größerer Zuwendung. Er beantwortet unsere Untreue nicht mit Untreue, sondern mit noch größerer Treue. Er beantwortet unsere Unmenschlichkeit mit seiner Menschwerdung in Jesus Christus. Und diese Menschwerdung hat ja nur das Ziel, von dem schon Jesaja spricht: Dass Gott auch in uns Mensch wird, damit wir menschliche Menschen werden: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben. Und sie sollen mich erkennen, Groß und Klein. Damit sie erkennen, wie gut ich es mit ihnen meine und sie so Menschen werden, die es gut miteinander meinen.

Apotheke Vita Nova, Apotheke „neues Leben“, nichts anderes ist der neue Bund, den Gott mit uns schließt. Gott macht heil, was wir nicht heilen können. Gott stößt uns die Tür zur Zukunft weit auf. Und er hält es deshalb für vergebliche Mühe, dass wir uns an unserer Vergangenheit abmühen. Gott bewältigt sie. Denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken. Vor euch liegt die Zukunft, die dem Leben gehört. Die wird auch der Tod, den jeder Mensch sterben muss, nicht aufhalten.

Das ist die starke Medizin, die Gottes Wort vom neuen Bund heute für Euch bereithält. Nehmt sie und erneuert Euer Vertrauen in Gottes Treue. Und legt ruhig ein paar Hustenbonbons dazu. Die können nicht schaden.

Pfarrer Johannes Taig    (Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie exklusiv unter www.kanzelgruss.de)

Text:

31 Siehe, es kommt die Zeit, spricht der HERR, da will ich mit dem Hause Israel und mit dem Hause Juda einen neuen Bund schließen,
32 nicht wie der Bund gewesen ist, den ich mit ihren Vätern schloss, als ich sie bei der Hand nahm, um sie aus Ägyptenland zu führen, ein Bund, den sie nicht gehalten haben, ob ich gleich ihr Herr war, spricht der HERR;
33 sondern das soll der Bund sein, den ich mit dem Hause Israel schließen will nach dieser Zeit, spricht der HERR: Ich will mein Gesetz in ihr Herz geben und in ihren Sinn schreiben, und sie sollen mein Volk sein und ich will ihr Gott sein.
34 Und es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: »Erkenne den HERRN«, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der HERR; denn ich will ihnen ihre Missetat vergeben und ihrer Sünde nimmermehr gedenken.
 


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