Liebe Leser,
„Von Schelte allein kann keiner leben und kommt niemand zum Leben.
(…) Was Lernen, Veränderung und Bekehrung möglich macht, ist nicht
allein die Aufdeckung des bisherigen Elends, sondern die Erwartung
eines bisher noch nicht eingelösten Versprechens von Glück. (…) Zur
Umkehr wird man nicht getrieben, man wird zu ihr gezogen. (…) Das
Leben kann sich nicht halten, ohne dass wir eine Sprache und ohne
dass wir Bilder vom Leben haben. Diese Bilder und diese
zusammenhängende Sprache vom neuen Leben verlieren wir immer mehr.
Was die Christen dieser Gesellschaft schuldig sind - zumindest
dieses -, das ist die Sprache von dem, was kommen soll. Es muss von
vielen das Unaussprechliche gesagt werden: dass das Lamm neben dem
Panther lagern wird, dass das Kind an der Höhle der Viper spielen
wird, dass die Toten nicht verloren sind, dass die Blinden sehen
werden, dass Gott alles in allem sein wird. Es muss eine Sprache für
das Unaussprechliche geben. Die wichtige Arbeit der Christen ist, am
Aufbau der Träume zu helfen.“ So schreibt der Theologe Fulbert
Steffensky (Feier des Lebens, Freiburg 2012, S. 134ff.), und weiß
doch zugleich, wie schwer das in Zeiten ist, die ein Philosoph so
beschreibt:
„In der vorindustriellen Gesellschaft erwartete man Ernten, in der
industriellen den Fortschritt. Gegenwärtig ist es noch nicht zu
erkennen, was wir erwarten, hingegen (sehr gut), was wir befürchten.
Jede der drei Gesellschaftsformen hat eine für sich spezifische
Zeiterfahrung. In der landwirtschaftlichen Zeiterfahrung wird das
Warten (auf die Ernte) als Geduld erlebt, in der industriellen als
Hoffnung (auf Fortschritt), gegenwärtig als Langeweile. (...)
Gegenwärtig erwarten wir (nur noch), dass die Apparate programmgemäß
funktionieren.“ (V. Flusser, Nachgeschichte. Eine korrigierte
Geschichtsschreibung, Frankfurt 1997, S.10)
Was erwarten wir noch? Für uns selbst, für unsere Welt? Sind wir
noch Menschen der Erwartung oder nur noch Menschen der Angst und
Befürchtung! Auch unserem Predigtext gehen Weherufe des Propheten
Jesaja voraus: Weh denen, die mit ihrem Plan verborgen sein wollen
vor dem HERRN und mit ihrem Tun im Finstern bleiben und sprechen:
„Wer sieht uns und wer kennt uns?“ (Jes. 29/15.).
Dann aber stößt der Prophet das Tor der Erwartung auf. Erwartet wird
nicht geselliger Zeitvertreib, sondern eine bessere Welt. Und
prophezeit wird nicht mit ausgewogenen Worten, sondern mit
brennendem Herzen. Dem Propheten wehen die Worte wie eine Flamme vom
Mund. Er schaut auf das Gottesvolk mit dem Feuerblick des Herzens.
Mit dem Feuerblick des Herzens Gottes. Gott findet sich mit dem
Zustand seiner Welt nicht ab; vor allem nicht mit einer Welt ohne
Erwartung.
Und so fragen uns die Erwartungen der Prophetenworte: Habt ihr euch
etwa mit all dem wirklich schon abgefunden? Habt ihr euch abgefunden
mit der Zerstörung und Verwüstung der Schöpfung, mit der Blindheit,
Taubheit und Dummheit des Homo sapiens, mit der sozialen und
wirtschaftlichen Ungerechtigkeit bei uns und überall auf der Welt;
mit den Tyrannen und Spöttern, die auf die Gräber ihrer Opfer
spucken; mit den Rechtsverdrehern, die denen zum Sieg verhelfen, die
sie bezahlen können? Habt ihr euch abgefunden mit einer Welt, in der
die Glaubenden, die Liebenden, die Hoffenden wie Idioten in die Ecke
geblasen werden vom allgegenwärtigen Strom besinnungsloser
Unterhaltung, der Spielverderber nicht duldet? Habt ihr euch
abgefunden mit einer Welt, die das Denken durch Gut-drauf-Sein
ersetzt?
Habt ihr euch mit all dem wirklich abgefunden oder seid ihr nur
abgefunden worden? Mit Geld oder Wohlstand zum Beispiel? Und wir
hören noch einmal in die Untiefen des diesjährigen Wahlkampfes auf
allen Kanälen und fragen: Wer schreit hier? Die Not oder die
mangelnde Abfindung? Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit oder die, die
mit ihrem Plan verborgen sein und mit ihrem Tun im Finstern bleiben
wollen? Gerade die haben nämlich mit einer besseren Welt nichts im
Sinn. Die schadet ihren Geschäften. Und deshalb haben sie auch
nichts mit denen im Sinn, die eine bessere Welt erwarten. Die
Erwartung einer neuen, besseren Welt, macht die alte als die
schlechtere kenntlich.
Und deshalb sind die Erwartungen der Prophetenworte zugleich
Kampfansagen an all die, die unsere Welt gerne ewig so hätten, wie
sie jetzt ist. Deshalb sind die Erwartungen der Prophetenworte
Kampfansagen an alle, die sich abfinden oder mehr oder weniger
großzügig abgefunden wurden. Deshalb sind die Erwartungen der
Prophetenworte Kampfansagen an die Langeweile und an alle Langweiler
und Mitläufer. Nicht eine lange Weile, sondern einen kleine Weile,
so hebt der Prophet an zu reden.
Seien wir nicht ungerecht: Auch in der Politik wird viel geredet von
Veränderungen zum Besseren in der Wirtschafts-, Sozial-,
Gesundheits- und Umweltpolitik. Aber seltsam! So schnell und
voraussehbar sich die Probleme ergeben, so bald auch bestechende
Lösungen in Sicht sind, so lang, sagt man uns, werden wir warten
müssen, bis sich wirklich etwas zum Besseren wendet. Wunder dauern
etwas länger.
Da müssen wir mit den Erwartungen des Jesaja schon fragen: Liebe
Politiker, könnt ihr nicht oder wollt ihr nicht? Da müssen wir uns
selbst fragen: Können wir nicht oder wollen wir nicht. Sind und
bleiben wir wirklich zu allen Zeiten ein Volk abgefundener
Mitläufer, die am liebsten immer so weitermachen nach dem Motto „wer
kennt uns und wer sieht uns“?
Gott kennt uns und sieht uns! Das ist der springende Punkt. Darin
steckt die Ermutigung für ein Leben in der Erwartung - für das Volk
Israel damals und für uns heute. Gott kennt und sieht uns. Das ist
die Alternative zu einem Leben in namenloser Langeweile. Wenn Gott
uns kennt und sieht, dann gibt es nicht nur zwischen Himmel und
Erde, sondern auch in unserem Leben mehr, als wir uns träumen
lassen. Was heute unveränderlich scheint, ist einmal dahin.
Was heißt einmal? Schon bald! Und darauf sagen wir: Amen.
Pfarrer Johannes Taig
(Hospitalkirche Hof)
(weitere Predigten von Pfarrer Taig finden Sie
exklusiv unter
www.kanzelgruss.de) |
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Die Predigt zum Hören
Text:
15 Weh denen, die mit ihrem Plan verborgen
sein wollen vor dem HERRN und mit ihrem Tun im Finstern bleiben und
sprechen: „Wer sieht uns und wer kennt uns?“
17 Wohlan, es ist noch eine kleine Weile, so soll der Libanon
fruchtbares Land werden, und was jetzt fruchtbares Land ist, soll
wie ein Wald werden.
18 Zu der Zeit werden die Tauben hören die Worte des Buches, und die
Augen der Blinden werden aus Dunkel und Finsternis sehen;
19 und die Elenden werden wieder Freude haben am HERRN, und die
Ärmsten unter den Menschen werden fröhlich sein in dem Heiligen
Israels.
20 Denn es wird ein Ende haben mit den Tyrannen und mit den Spöttern
aus sein, und es werden vertilgt werden alle, die darauf aus sind,
Unheil anzurichten,
21 welche die Leute schuldig sprechen vor Gericht und stellen dem
nach, der sie zurechtweist im Tor, und beugen durch Lügen das Recht
des Unschuldigen.
22 Darum spricht der HERR, der Abraham erlöst hat, zum Hause Jakob:
Jakob soll nicht mehr beschämt dastehen, und sein Antlitz soll nicht
mehr erblassen.
23 Denn wenn sie sehen werden die Werke meiner Hände - ihre Kinder -
in ihrer Mitte, werden sie meinen Namen heiligen; sie werden den
Heiligen Jakobs heiligen und den Gott Israels fürchten.
24 Und die, welche irren in ihrem Geist, werden Verstand annehmen,
und die, welche murren, werden sich belehren lassen.
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